„Italien wird zum Schlusslicht Europas“
Vorbemerkung der Redaktion: Wir veröffentlichen, leicht gekürzt, die Übersetzung eines Interviews, das Romano Prodi der „Repubblica“ vom 10. Juni gab. Als Spitzenkandidat des Mittelinks-Bündnisses „L‘ Ulivo“ war Prodi der einzige Herausforderer Berlusconis, dem es gelang, diesen bei Wahlen zu besiegen. Er war 1996-1998 und 2006-2008 Ministerpräsident. Von 1999 bis 2004 war er Vorsitzender der EU-Kommission.
Herr Prodi, 2019 bringt für Sie wichtige Jahrestage: Am 8. August werden sie 80 Jahre alt, 1999 wurden Sie Vorsitzender der Europäischen Kommission. 20 Jahre später frage ich Sie: Ist Matteo Salvini das Produkt einer Angst, die von weit her kommt? Die Verkörperung des italienischen Konformismus? Oder wie in einem hashtag zu lesen war: ‚Einer, der immer stramm geradeaus fährt‘?
„Das stimmt, Salvini fährt stramm geradeaus, aber berücksichtigt die Kurven nicht. Wir nahen uns jetzt einer großen Kurve, und seine Aufgabe wäre es, das Fahrzeug Italien richtig zu lenken…Er wird bald große Probleme bekommen. Ich schätze, dass seine aufsteigende Parabel zu Ende geht.“
Welche Kurven sind es, die Italien in den nächsten Monaten nehmen muss?
„Die größte Kurve ist das Haushaltsgesetz, bei dem alles zusammenkommt. Aber wir erreichen diese Etappe außer Atem, wir haben keinen Sprit mehr im Tank. Unsere wirtschaftliche Situation ist jenseits jeder Vorstellungskraft. Die Lage gerät außer Kontrolle, die Maßnahmen der Regierung lassen die Ausgaben stark ansteigen. Klar, sie sind populär, wie zum Beispiel die ‚Rente 100‘ (Rentenbeginn z. B. mit 60 plus 40 Arbeitsjahre, Anm. Red.), viele Leute wollen sie. Aber die Finanzierung, die extrem teuer wird, ist nicht gewährleistet. Ganz zu schweigen von der flat tax.“
Die Salvini gerade will.
„Das ist wahnwitzig. Es ist schon aus systemischer Sicht ein Unding, dass jemand mit 50.000 Jahreseinkommen den gleichen Steuersatz hat wie jemand, der im Jahr 5 Millionen verdient. Jetzt sagen sie, die flat tax soll für alle Einkommen bis 65.000 Euro gelten. Und schon arbeiten die Steuerberater wie wild daran, dass alle unter der 65.000-Grenze bleiben. Das wird zu einem Einbruch der Steuereinnahmen führen.“
Sehen Sie die Gefahr, dass es zu Streichungen im Gesundheitsbereich und anderen öffentlichen Dienstleistungen kommt, um die flat tax zu finanzieren?
„Irgendwoher muss das Geld ja kommen, bei einer Finanzlücke von 40-50 Milliarden. Und ich habe den starken Verdacht, dass es aus dem sozialen Bereich sein wird, andere Möglichkeiten sehe ich nicht. Die Kurve kommt näher, zwischen September und Oktober. Man kann Probleme wie das der Staatsverschuldung kleinreden und damit Stimmen gewinnen – aber der Showdown kommt.“
Warum ist Italien beim Wachstum in der EU an letzter Stelle?
„Es gibt einen Vertrauensverlust, Angst und Passivität verbreiten sich. Ausländische Investoren vermeiden Italien oder verschwinden, sobald sie mit den hiesigen Problemen konfrontiert werden… Ob wir nun Letzter oder Drittletzter sind: Entscheidend ist der negative Trend.“
Die große Angst ist die vor der Zuwanderung, sie ist Benzin für den populistischen Motor. Wie sehen Sie das?
„Als großen Widerspruch: Im Laufe einer Generation wird Italien einen Bevölkerungsanteil in der Größenordnung der gesamten Region Emilia-Romagna verlieren. Auf die eine oder andere Weise werden wir Zuwanderung brauchen. Solange der Krieg in Libyen andauert, wird allerdings eine Lösung des Problems extrem schwierig sein. Zumal Italien hier nichts zu sagen hat.“
Wie hoch wird der Einfluss Italiens in der nächsten EU-Kommission sein?
„Der Einfluss der Souveränisten wird gleich Null sein. Sie sind kaum in der Lage, Bündnisse zu schließen. Aber unsere Regierenden sind nicht nur isoliert, sie haben auch Repräsentanten und Staatsführer der EU persönlich beleidigt. Nach Paris zu fahren und mit dem gewaltbereiten Teil der Gelben Westen zu feiern – dazu muss man schon ein Genie sein (Anspielung auf Di Maios Verbrüderungsversuche vor der Europawahl, Anm. Red.). Irgendeine Kleinigkeit werden sie schon kriegen, aber nichts von Relevanz. Dabei spielte Italien immer eine wesentliche Rolle, wenn es darum ging, Mehrheiten zu bilden und Entscheidungen herbeizuführen. Jetzt nicht mehr.“
Meinen Sie, dass sich Italien für Europa aus einem Faktor des Zusammenhalts in einen der Zerstörung verwandeln kann?
„Ja, das meine ich. Wäre ich in den USA, würde ich erkennen, dass Italien die Schwachstelle ist, um Europa klein zu halten.“
Und was sagen Sie – als Katholik – zu Salvini, der auf den Plätzen das Kruzifix schwenkt?
„Die Souveränisten müssen die Kirche angreifen, weil sie in der Bevölkerung verankert ist. Der Papst verteidigt die Universalität der Religion. Seit den 30er Jahren ist es nicht mehr passiert, dass die Religion (gemeint ist: im Westen, Anm. Red.) als politisches Instrument missbraucht wird. Das ist eine historische und auch moralische Regression.“
Wird es 2019 Neuwahlen geben?
„Ich habe keine Ahnung, welche Auseinandersetzungen auf uns zukommen, und man wird wohl eine Zeit brauchen, bis sich auf die entstandenen Trümmer Staub gelegt hat. Die PD hat keinen direkten Einfluss darauf, aber muss sich bereit halten. Die Kräfte sammeln, eine Alternative durch eine Koalition der Reformkräfte aufbauen. Was benötigt wird, ist ein Programm, keine tweets. Die Kurve liegt vor uns und wir müssen in der Lage sein, zu sagen, in welche Richtung das Fahrzeug gelenkt werden muss.“
Was ist heute prioritär?
„Reden wir nicht mehr vom Olivenbaum-Bündnis (Prodis Mittelinkskoalition, mit der er 1996 die Wahl gegen Berlusconi gewann, Anm. Red.), nennen wir es meinetwegen Weißdorn-Bündnis, das ist egal. Aber der politische Handlungsbedarf ist glasklar: Ein Bündnis ist unerlässlich. In den modernen Demokratien ist keine einzelne Partei mehr in der Lage, allein an die Macht zu kommen, es braucht eine Koalition. Immer wenn die PD versuchte, allein anzutreten, hat sie verloren.“
Welche wird Ihre Rolle dabei sein?
„Ich bin stolz, verschrottet worden zu sein (Anspielung auf den damaligen Aufruf Renzis, frühere Leader der PD zu ‚verschrotten‘, mit dem er seine politische Karriere begann, Anm. Red.), denn das bedeutet immerhin, dass ich aus Eisen bin. Eine politische Rolle werde ich nicht mehr spielen, und das ist auch richtig so. Aber ich bin immer da: bereit zum Dialog, zu beraten, zu lächeln. Eine Rolle als Brückenbauer – von außen zwar, aber immer als Brückenbauer.“