Italienisches Chaos
Nun will Salvini also nach der ganzen Macht greifen. Er tut es mit dem Gestus dessen, der dem Volk verkündet, dass von nun an Geschichte geschrieben wird: „Ich fordere die Italiener auf, mir alle Vollmachten zu geben, damit wir nun zu Ende bringen, was wir versprochen haben, ohne weitere Verzögerungen und Bleikugeln an den Füßen“. In deutschen Hinterköpfen klingelt es, wenn von „allen Vollmachten“ und „zu Ende führen“ die Rede ist, aber wir wissen natürlich, dass wir uns vor vorschnellen Parallelisierungen hüten sollen. Diese Bemerkung sei trotzdem erlaubt: Wie alle großen Feldherren setzt Salvini auf den Überraschungseffekt. Um Italien zu erobern, kam Hannibal mit Elefanten über die Alpen; Salvini bricht die Krise vom Zaun, als sich die Abgeordneten beider Kammern in die heilige Sommerpause verabschiedet hatten (die eigentlich bis zum 9. September dauern sollte). Für seine eigenen Leute bedeutet es, ihren Urlaub unterbrechen zu müssen. Für die meisten anderen Parteien ist es eine Katastrophe, denn nun zeigt sich, dass es sie unvorbereitet trifft und in einem Zustand der Schwäche.
Bequemer Status quo
Seit der Europawahl ist klar, dass das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Lega und 5SB in beiden Parlamentskammern nicht mehr dem aktuellen Kräfteverhältnis entspricht. Bei der März-Wahl 2019 bekam die 5SB 34 % und die Lega 17 % – würde jetzt gewählt, fiele das Ergebnis umgekehrt aus, mit zunehmender Tendenz für die Lega. Es lag nahe, dass Salvini auf Neuwahlen drängt. Aber ein paar Monate lang tat er es nicht, und man konnte sich auch erklären, warum: Komfortabler konnte die Situation für ihn eigentlich nicht mehr werden. Er brauchte mit Neuwahlen nicht einmal zu drohen, um die Regierung vor sich herzutreiben. So dass die Rolle, welche die 5SB in den letzten Wochen und Monaten spielte, immer kläglicher wurde: Entgegen ihrem Anspruch, kompromisslose Hüter der Rechtsstaatlichkeit zu sein, gaben sie Salvini Rückendeckung, als er wegen seines Russlanddeals in Schwierigkeiten geriet, und stimmten seinen Sicherheitsgesetzen, deren Verfassungswidrigkeit zum Himmel stinkt, widerstandslos zu.
Die Frage nach den Gründen
So lautet die eigentliche Preisfrage, warum Salvini jetzt plötzlich doch die Koalition beendet. Lag es an den schwachen Versuchen der 5SB, doch noch einen Rest Eigensinn zu zeigen? Beim französisch-italienischen Großprojekt TAV, das eine direkte Zugverbindung zwischen Turin und Lyon schafft, schien sie es noch einmal zu versuchen, im NO-TAV steckt auch grillinisches Herzblut. Aber der Spagat, den daraufhin Di Maio vollführte, war verräterisch: Einerseits tolerierte er, dass die Regierung der Weiterarbeit am Projekt zustimmte (womit er Salvini bediente), andererseits ließ er seine Fraktion im Parlament den Antrag einbringen, das Projekt zu stoppen (um hinterher sagen zu können: Wir haben‘s versucht). Das zu Erwartende geschah: Er fiel durch, weil nicht nur die Lega, sondern auch die gesamte Opposition dagegen stimmte. Salvini hatte sich durchgesetzt, und Di Maio war hinterher noch desavouierter als zuvor. Der Grund für Salvinis Bruch kann auch das nicht gewesen sein.
Vielen Beobachtern schien dieser Grund Salvinis angebliche Angst vor dem Haushaltsgesetz für 2020 zu sein, das Italien in den nächsten Monaten vorlegen muss. Das müsse für die ganze Koalition ein Offenbarungseid werden, ein Blut-und-Tränen-Haushalt, mit dem Salvini nun auch ganz offiziell die versprochene flat tax begraben könne, und der Italien vielleicht auch noch eine Mehrwertsteuererhöhung einbrocken könne (seit 2011 enthalten die italienischen Haushaltsgesetze eine Klausel, dass ein zu hohes Haushaltsdefizit eine derartige Erhöhung automatisch auslöst). Das werde die ökonomische Krise nicht nur weiter vertiefen, sondern auch im Budget jeder Normalfamilie spürbar werden, mit desaströsen Auswirkungen auf Salvinis Image. Seine Flucht in die Regierungskrise sei der Versuch, sich dieser Mitverantwortung irgendwie zu entziehen, etwa indem eine von Mattarella eingesetzte „technische“ Übergangsregierung diese Aufgabe übernähme. Die Erklärung klingt plausibel. Aber passt sie zu Salvinis Charakter?
Angriff auf Europa
Dass man den vollzogenen Bruch anders lesen kann, zeigt Claudio Tito, einer der klügsten Journalisten der „Repubblica“. Auch bei dieser anderen Lesart spielt der Haushalt für 2020 eine zentrale Rolle, aber nicht als bedrohliche Pflicht, die jemanden wie Salvini in die Defensive zwingen könnte, sondern als Chance, um die EU aus den Angeln zu heben. Nachdem Salvini die ersten 14 Monate seiner Amtszeit dem Kampf gegen die Immigration gewidmet habe, beginne jetzt, so Tito, sein Kampf gegen „Brüssel“. Über Di Maio habe er sich geärgert, weil er mitgeholfen habe, Ursula von der Leyen über die Runden zu bringen. Noch größer war sein Zorn gegenüber Finanzminister Tria, der dabei war, ein Haushaltsgesetzes vorzubereiten, das sich den Brüsseler Vorgaben irgendwie anzupassen suchte – mit einem Defizit deutlich unter 2 % (obwohl Salvini zuletzt immer wieder verlauten ließ, dass eine solche Grenze nicht einzuhalten sei) und mit einer nur verschämt angedeuteten flat tax. Da ein solcher Haushaltsentwurf Salvinis Angriffsplan die Füße weggeschlagen hätte, war es Zeit, die Reißleine zu ziehen.
Um Salvinis eigentliches Ziel zu erkennen, so Tito, brauche man nur in das Programm zu scheuen, mit dem die Lega in die Märzwahl 2018 ging: „Wir wollen in der EU nur dann bleiben, wenn alle Vereinbarungen neu zur Diskussion gestellt werden, die der Ausübung unserer vollen und legitimen Souveränität Grenzen setzen, und somit … zu der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zurückkehren, die es vor dem Maastricht-Vertrag gab. Der Euro ist die Hauptursache unseres wirtschaftlichen Abstiegs, eine für Deutschland und die multinationalen Unternehmen maßgeschneiderte Währung, die im Widerspruch zum Bedarf Italiens und der kleinen Unternehmen steht. Wir haben immer nach europäischen Partnern gesucht, um einen Prozess des ausgehandelten Ausstiegs einzuleiten. Wir werden das weiterhin tun, aber in der Zwischenzeit alles unternehmen…, um unsere Forderung nach wieder gewonnener Souveränität zu vertreten“.
In dem Regierungsvertrag mit der 5-Sterne-Bewegung wurde dies nicht übernommen, aber jetzt wird es wieder aus den Schubläden herausgeholt. Denn erstens fühlt sich die Lega dafür inzwischen stark genug, und zweitens glaubt sie wohl, dafür jetzt die richtige Taktik zu haben. Sie setzt darauf, dass es im Herbst Neuwahlen geben muss, und hat den Plan, den Wahlkampf um einen Haushaltsentwurf zu führen, der mit populären Versprechen gespickt ist. Gestärkt durch ein grandioses Wahlergebnis könnte die dann neu gewählte Regierung – in jedem Fall eine reine Rechtsregierung unter Salvinis Führung – Brüssel den Fehdehandschuh hinwerfen und die Maßnahmen trotzdem beschließen. Käme es zu dem dann fälligen Verstossverfahren gegen Italien, werde sich das Land weigern, irgendeine Strafe zu zahlen. Woraufhin sich herausstellen werde, dass Brüssel keine Sanktionsmöglichkeiten hat, um sich durchzusetzen. Salvini hätte die EU dort, wo er sie haben will: Die ganze Architektur wäre in Frage gestellt.
Erste Reaktionen
Die Reaktion der Rechten auf Salvinis Koalitionsbruch ist von überschaubarer Einfachheit: Salvini ist der unbestrittene Führer, und alle laufen hinterher. Dass Salvini der Chefin der neofaschistischen Fratelli d’Italia, Giorgia Meloni, ein Wahlbündnis vorschlagen würde, war zu erwarten. Sie sind beide „Souveränisten“ und kämen nach den gegenwärtigen Prognosen zusammen auf ca. 45 %. Genug, um nach Neuwahlen in beiden Kammern über die absolute Mehrheit zu verfügen. Salvini konnte es auch allein versuchen, aber für die absolute Mehrheit hätte er der 5-Sterne-Bewegung im Süden die meisten Direktmandate abjagen müssen, die sie dort vor 17 Monaten gewonnen hat. Ein mögliches, aber nicht sicheres Vorhaben. Berlusconi wird auch dazugehören, obwohl er in dieser Runde ideologisch der größte Fremdkörper ist (er gehört zur EVP). Aber da er „weichgekocht“ ist, immerhin noch weitere 7 % bringt und an seine Geschäfte denken muss, wäre es eine Art Gnadenbrot.Die 5-Sterne-Bewegung ist in gewisser Weise die hauptleidtragende „Verratene“. Solange es noch keine Neuwahlen gegeben hat, ist das Pfund, mit dem sie wuchern kann, dass sie in beiden Kammern weiterhin die größte Fraktion stellt. Aber es ist ein Pfund von fraglichem Wert, das potenziellen neuen Partnern auch Unglück bringen kann, weil es sie dem Verdacht der Leichenfledderei aussetzt. Politisch versucht sie noch Punkte zu machen, indem sie darauf besteht, dass vor Neuwahlen in beiden Kammern die Zahl der Abgeordneten halbiert wird. Obwohl es zum gemeinsamen Regierungsvertrag gehörte, sah Salvini, der auf Eile drängt, darin heute bisher nur den Versuch, Zeit zu schinden, weil dann vor Neuwahlen noch ein entsprechender Zuschnitt der Wahlkreise und ein Referendum durchgeführt werden müssten. Außerdem ist noch ein Sinneswandel zu vermelden, der in früheren Zeiten eine Sensation gewesen wäre: Übervater Beppe Grillo hat angedeutet, dass er sich in der gegenwärtigen Situation auch ein Zusammengehen seiner Bewegung mit der PD vorstellen könne.
Und die PD? Zunächst drohte ihr ein Rückfall in das, was sie offenbar am besten kann: die erneute Spaltung. Während Renzi plötzlich vorschlug, nun doch mit der 5SB eine Regierung „auf Zeit“ zu versuchen, um wenigstens die Mehrwertsteuererhöhung zu verhindern und vielleicht auch eine Halbierung der Abgeordneten durchzusetzen, vertrat Zingaretti die Linie, sich auf keinerlei Verhandlungen mit der 5SB einzulassen. Worauf Renzi, dessen Anhänger in der Gesamt-PD in der Minderheit, in den Kammer-Fraktionen aber in der Mehrheit sind, sogar mit Spaltung drohte. Als sich beide dann doch auf einen Kompromiss einigten, war es plötzlich Salvini, der zurückruderte, weil er offenbar um jeden Preis eine Annäherung zwischen PD und 5SB verhindern wollte. Nun bot er Di Maio an, der Verkleinerung beider Kammern zustimmen zu wollen, „wenn es hinterher sofort Wahlen gibt“.
Hat er bedacht, dass unter diesen Umständen Neuwahlen zumindest bis ins Frühjahr 2020 hinausgezögert würden?
Italienisches Chaos.