Conte macht’s noch einmal
Die Online-Befragung
Bis Dienstagabend schien die Online-Befragung der 5-Sterne-Bewegten die letzte große Hürde zu sein, welche der Koalition im Wege stand. Sie endete jedoch mit einem Ergebnis, das alle Zweifel aus dem Weg räumte: Fast 80.000 der 117.194 Mitglieder beteiligten sich, und von diesen stimmten wiederum 79,3% mit „Ja“. Ein Ergebnis, das nicht unbedingt zu erwarten war, weil sich in den letzten Tagen und Wochen in den sozialen Medien der 5SB vor allem PD-Hasser zu Wort gemeldet hatten. Und weil sich auch Di Maio in der Ja-Nein-Frage betont bedeckt hielt – über einen negativen Ausgang der Befragung, so schien es, wäre er nicht allzu unglücklich gewesen. Womit er sich sogar die öffentliche Kritik von Grillo einfing, der noch einmal von seinem Elfenbeinturm herabstieg, um per Video einen leidenschaftlichen Appell scheinbar an die „Jugend der PD“, in Wahrheit an die eigenen Leute zu richten, die sich jetzt bietende „historische Chance“ zu nutzen und dabei bitte auch etwas mehr Enthusiasmus zu zeigen.
Das zweite Schwergewicht aus dem 5 Sterne-Lager, das sich für das neue Bündnis einsetzte, war Conte selbst. Mit seiner erneuten Kandidatur zum Premier hat es eine besondere Bewandtnis: Eigentlich brachte ihn Di Maio bei den Verhandlungen mit der PD wohl nur deshalb ins Spiel, weil er hoffte, an dieser Frage die Verhandlungen platzen lassen zu können. Denn inzwischen war Salvini wieder zurückgerudert, d. h. er hatte den Misstrauensantrag zurückgezogen und Di Maio – wie dieser selbst erzählt – sogar Contes Nachfolge angeboten, wenn es beim alten Bündnis bleibe. Worauf Di Maio der PD plötzlich das Ultimatum stellte, dass der neue Premier natürlich wieder Conte sein müsse. Hatte Zingaretti nicht zuvor verlangt, dass auch die Frage des neuen Premiers im Zeichen der „Diskontinuität“ stehen müsse? Worauf die PD-Führung jedoch anders reagierte, als es Di Maio erwartet hatte: Sie akzeptierte Conte, sogar ohne ihm Abbitte für seine vergangene Politik abzufordern, da er sich als einziger aktiver Politiker des 5 Sterne-Lagers als fähig erwiesen hatte, Salvini, wenn auch nur verspätet und partiell, etwas grundsätzlicher zu kritisieren. Eine Kritik, die weit genug ging, um sich von ihm nicht (wie Di Maio) wieder „ins Boot“ locken zu lassen. Für Conte sprach auch, dass er (1) populär und (2) ein Pro-Europäer ist, der (3) auch bei Mattarella Ansehen hat. Ihn bei der Regierungsbildung als Mitakteur dabei zu haben, gab dann auch den Verhandlungen eine Verbindlichkeit, die Di Maio nicht vorhergesehen hatte. (Seitdem kämpfte Di Maio verbissen, aber ebenfalls vergeblich darum, wenigstens „Vize-Premier“ zu werden – er ahnte wohl, dass er nun schnell zur Nebenfigur wurde).
Die Hypotheken des neuen Bündnisses
Das geschlossene Bündnis bleibt jedoch mit Hypotheken belastet. Die erste ist der Zufall, auf dem es beruht: Das Bündnis kam nicht zustande, weil die Partner zueinander strebten, sondern weil die 5SB in einem Moment der Schwäche (nach der Europawahl) von einem früheren Partner verlassen wurde. Auf diesen Schwachpunkt zielt Salvini, wenn er auf jedem Marktplatz höhnt, dass es ja doch nur eine Koalition der Verlierer sei, die sich da zusammengetan habe: eine 5-Sterne-Bewegung, die zwar in den Kammern noch über das Gros der Abgeordneten verfügt, aber bei einem neuen Urnengang schrumpfen würde wie ein angestochener Luftballon, und eine PD, die nur noch ein Wiedergänger aus der Vergangenheit sei.
Die zweite Hypothek ist die Unterschiedlichkeit der Erwartungen, mit der beide Seiten in das neue Bündnis gehen. Die 5SB hat noch nicht das abrupte Ende der 14-monatigen Ehe mit der Lega bewältigt, von der Di Maio weiter sagt, dass es da nichts zu bereuen gebe, und für die er eigentlich nur deshalb einen neuen Partner suche, weil sie an einem unfassbaren Akt der Treulosigkeit des alten zerbrochen sei. Aber auch die PD ist traumatisiert, vor allem weil sie sich immer noch nicht erklären kann, warum sie in den letzten Jahren in einen Abwärtsstrudel geriet, der sie an den Rand der Bedeutungslosigkeit brachte. Zwar hat sie sich nach anderthalb Jahren Opposition wieder halbwegs auf niedrigem Niveau gefangen, aber die Unsicherheit bleibt, ob sie nicht bei der geringsten falschen Bewegung auch noch den Rest ihrer Anhängerschaft verlieren könnte. Auf die ihr jetzt bietende Rolle des Ersatzpartners dürfte sie sich eigentlich nur einlassen, wenn sie hoffen könnte, dass darin die Chance einer Wende steckt. Aber gerade das ist es, was Di Maio seiner Anhängerschaft mit aller Gewalt auszureden suchte, indem er versicherte, auch jetzt nur das Programm, „für das wir im März 2018 gewählt wurden“, weiter zu verfolgen, wenn auch mit neuem Partner. Erst Grillo musste ihn öffentlich belehren, dass in der neuen Konstellation eine „historische Chance“ stecke.
Die dritte Hypothek steckt in der digitalen Mitgliederbefragung, obwohl sie scheinbar zu einem „guten“ Ende führte: Gerade wegen ihres Erfolgs drängt sie auf Wiederholung. Und darin steckt eben nicht nur „mehr direkte Demokratie“, wie es ihre Ideologen stolz verkünden, sondern auch ein Stück Entmachtung des Parlaments, das eigentlich über die neue Regierung zu entscheiden hat, und des Staatspräsidenten, dem dabei als Verfassungsgaranten eine ebenfalls entscheidende Rolle zukommt. Und damit auch eine Erosion der Garantien, Gewichte und Gegengewichte, die sich in Jahrhunderten mit der repräsentativen Demokratie verbunden haben. Nur ein Punkt: Die Durchführung der Online-Abstimmung, auf der die 5SB jetzt so stolz ist, liegt bei einer Privatfirma, der Casaleggio-Associati.
Wie sich diese Hypotheken auf die neue Regierung auswirken, wird sich zeigen. Im Prinzip hätte sie für ihre Arbeit noch ein paar Jahre Zeit, die Legislatur endet im Frühjahr 2023.
Regierungsprogramm und -mannschaft
Zunächst ist es fast ein Wunder, wie schnell Conte dem auf Eile drängenden Mattarella ein Regierungsprogramm und eine Mannschaft präsentieren konnte. Das Programm, das Conte nach Diskussionen mit beiden Verhandlungsdelegationen im Wesentlichen selbst geschrieben haben soll, enthält mehr „Wende“ als erwartet. Ich beschränke mich auf den Punkt, der mir besonders am Herzen liegt: das Migrationsproblem. Hier gab es im Vorfeld die heftigste Kontroverse: Die PD verlangte die sofortige Abschaffung von Salvinis „Sicherheitsgesetzen“, was Di Maio ebenso entschieden zurückwies. Unter Punkt 18 des neuen Regierungsprogramms heißt es nun (man hört Contes Soziologenchinesisch), dass man durch einen neuen „strukturellen Ansatz“ aus der gegenwärtigen „Notstandslogik“ herauskommen müsse. Der Kampf „gegen den illegalen Menschenhandel und die illegale Einwanderung“ müsse „fortgesetzt“, aber auch die „Integration“ angegangen werden. „Die Bestimmungen im Bereich der Sicherheit müssen modifiziert werden anhand der Hinweise, die der Staatspräsident kürzlich formuliert hat“. Das heißt, dass ein Stück der Mauer, die Salvini hochgezogen hat, nun wieder geschliffen werden könnte. Vom Libyen-Abkommen, der größten Wunde im moralischen Antlitz Europas, allerdings kein Wort.
In der Ministerliste steckt Ausgewogenheit, Weisheit und schließlich auch Kapitulation vor dem Unabänderlichen: 14 Männer, 7 Frauen, 10 Vertreter der 5SB, 9 der PD, einer der LeU, und außerdem die parteilose Luciana Lamorgese, die ehemalige Präfektin von Mailand. Dass sie als Nachfolgerin von Salvini neue Innenministerin werden soll, ist angesichts der Umstände vielleicht die weiseste Wahl: eine „Tecnica“ mit Erfahrung in ministerieller Flüchtlingsarbeit.
Und dann die Kapitulation vor dem wohl Unabänderlichen: Di Maio, der große „politische Führer“ und sechste Stern und der 5-Sterne-Bewegung, der Vize von „Conte eins“, den Salvini fast noch zum neuen Premier gemacht hätte, und der jetzt nicht einmal Vize-Premier wird, kann nicht mit irgendeinem Ministerposten abgespeist werden. Also wird er Außenminister. Es gibt schon viele Witze über ihn, wie über Lübke, den deutschen Staatspräsidenten seligen Angedenkens. Aber Außenminister wird er trotzdem. Es geht nicht anders. Die auswärtigen Beziehungen Italiens werden es hoffentlich überstehen.
Von der PD aus gesehen ist „Conte zwei“ in erster Linie der Versuch, eine katastrophale Wende zu einem reaktionären Regime zu verhindern, das sich in diesem Sommer in Italien fast etabliert und dabei vielleicht auch Europa in den Abgrund gerissen hätte. Salvinis Plan hätte gelingen können, wenn er nicht drei Dinge unterschätzt hätte: 1) dass sich auch eine Partei wie die 5SB, die in beiden Kammern noch die größten Fraktionen stellt, nicht einfach aufs Schafott führen lässt, 2) dass sich die angeschlagene Linke doch noch zu einer Anstrengung aufraffen kann, und 3) dass Italien immer noch einen Staatspräsidenten hat, der sich an die Verfassung hält. Spätesten in dreieinhalb Jahren wird sich zeigen, ob in diesem Frühherbst die Katastrophe abgewendet oder nur aufgeschoben wurde.