Die Feigheit der Linken

Es gibt in Italien Reformvorhaben, für die auch „fortschrittliche“ Regierungen bzw. politische Parteien meinen, es sei dafür nie „der richtige Zeitpunkt“ gekommen. Die Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes für Kinder aus Migrantenfamilien ist eines davon.

Nach der geltenden Regelung können in Italien geborene Migrantenkinder erst nach Vollendung des 18. Lebensjahres die italienische Staatsangehörigkeit beantragen. Wer als Kind eingereist ist, bekommt als Minderjähriger die Staatsangehörigkeit nur, wenn einer der Elternteile sie bereits besitzt. Volljährige Migranten müssen mindestens einen zehnjährigen rechtmäßigen Aufenthaltstitel und ein Einkommen vorweisen, das zum selbstständigen Lebensunterhalt reicht.

Staatsangehörigkeitsgesetz: die ewig verschobene Reform

Seit 2004, also seit über 15 Jahren, gab es immer wieder Anläufe für eine zeitgemäßere gesetzliche Regelung, die der Zuwanderungsrealität Rechnung trägt. Sie wurden immer wieder gestoppt oder verliefen im Sande, ohne dass es zu einer abschließenden Entscheidung kam.

Schon vor drei Jahren, im Oktober 2016, berichteten wir über einen von der Abgeordnetenkammer 2015 verabschiedeten Gesetzesentwurf zur Einführung eines „bedingten jus soli“, der anschließend in einem Ausschuss des Senats „geparkt“ wurde, ohne dem Plenum überhaupt zur Abstimmung vorgelegt zu werden. Er sah vor, in Italien geborenen Kinder ausländischer Eltern automatisch die italienische Staatsangehörigkeit zuzuerkennen, wenn ein Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis von fünf Jahren besitzt, oder wenn sie mindestens fünf Jahre eine Schulstufe (Primar- oder Sekundarstufe) durchlaufen haben. Diese zweite Regelung sollte auch für Kinder gelten, die vor der Vollendung des 12. Lebensjahres einreisen („jus culturae“).

Der damalige Ministerpräsident Renzi hatte vollmundig versprochen, die Reform werde „mit voller Kraft voraus“ verwirklicht. Stattdessen wurde sie auf Eis gelegt, auf Druck des damaligen Koalitionspartners „Nuovo Centro Destra“ (Mitterechts), aber auch weil Renzi selbst fürchtete, sie könnte negative Auswirkungen auf das Ergebnis des herannahenden Referendums über die Parlamentsreform haben. Renzi verlor das Referendum trotzdem und musste zurücktreten.

Ungefähr ein Jahr später, im Juli 2017, wiederholte sich das Spiel, mit Renzis Nachfolger Gentiloni als Regierungschef. Die Mehrheitsverhältnisse im Senat seien zu knapp, lautete seine Begründung dafür, dass er die Abstimmung über den Gesetzesentwurf im Senat – prophylaktisch – erneut verschieben ließ. Wieder waren der wachsende Druck der Rechten bei der Zuwanderungsfrage und die Angst der Sozialdemokraten vor Verlusten bei der anstehenden Parlamentswahl der Grund. Und auch dieses Mal „nutzte“ dieser Rückzug der PD nichts: Sie verlor die Wahl, die Populisten von 5SB und Lega stellten die Regierung und dachten natürlich nicht daran, die Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes auf die Agenda zu setzen.

Wieder droht die Blockade

Dann setzte Salvini in einem Anfall von Allmachtswahn, am Adria-Strand unter der heißen Augustsonne, die Regierungskrise in Gang. In der Hoffnung, es käme schnell zu Neuwahlen und damit zu seinem Sieg. Doch er hat sich verzockt. Zu seiner Überraschung einigten sich die 5Sterne, PD und LEU auf die Bildung einer neuen Regierung, die „Diskontinuität“ versprach.

Als der neue Vorsitzende des Senatsausschusses Giuseppe Brescia (5SB) vor einigen Tagen die Debatte über die Änderung des Einbürgerungsgesetzes wieder eröffnete, kam bei den Betroffenen und den Teilen der Zivilgesellschaft, die sich für die Rechte von Migranten einsetzen, einen Funken Hoffnung auf, die jahrzehntelange Blockade könnte endlich gebrochen werden.

Der Funken erlosch schnell. Kaum hatte die Ausschussberatung begonnen, beeilte sich der frisch gebackene Außenminister Di Maio (5SB), der in der Migrationsfrage schon immer rechte Positionen vertrat und sich jetzt in der neuen Koalition als „kleiner Salvini“ zu profilieren sucht, zu erklären, das Thema stelle „keine Priorität“ dar. Prioritär sei es vielmehr, die Rückführungen von Migranten in „sichere Herkunftsländer“ zu erhöhen und die Zahl der einreisenden Flüchtlinge zu reduzieren. Er warnte davor, die Einführung eines „jus culturae“ könnte einen Anreiz bilden, nach Italien zu kommen (was Unsinn ist, denn die Reform betrifft Kinder aus Zuwandererfamilien, die schon seit Langem ein Aufenthaltsrecht in Italien haben. Flüchtlinge würden diese Bedingung gar nicht erfüllen). Und überhaupt, so Di Maio, gehöre diese Gesetzesänderung nicht zum Regierungsprogramms und müsse daher vorab den Mitgliedern der 5SB zur Online-Abstimmung vorgelegt werden.

Auch Renzi, der soeben aus der PD ausgetreten und nun Chef seiner neuen Gruppe „Italia Viva“ ist, ist ebenso wenig an dem Vorhaben interessiert. Wenn es dafür keine Mehrheit gäbe, weil die 5Sterne in dieser Frage gespalten sind, werde er sich „nicht die Haare ausreißen“, ließ er wissen.

Und die PD? Ihre Führung betont, geschlossen hinter der Staatsangehörigkeitsreform zu stehen. Doch abgesehen von einzelnen Stimmen – wie die des Fraktionsvorsitzenden der PD in der Abgeordnetenkammer, Graziano Delrio – merkt man von zupackender Entschlossenheit wenig. Und es gibt in der PD auch einige, die offen dagegen rudern. Die Staatssekretärin im Ministerium für gesellschaftliche Entwicklung, Alessia Morani (eine in der PD verbliebene „Renzianerin“), hält schon die Wiederaufnahme der Beratung im Senatsausschuss für falsch. „Das Prinzip des jus culturae ist zwar sakrosankt, aber die Bevölkerung ist in dieser Frage tief gespalten und es besteht das Risiko, mit einem solchen Schritt Wasser auf die Mühlen von Salvini und Meloni zu leiten “, erklärte sie. Es sei besser, das Ganze noch einmal für eine Weile auf Eis zu legen, „bis Juni 2020“.

Die „Politik der zwei Geschwindigkeiten“ funktioniert nicht

Darauf antwortete Gad Lerner, einer der besten (und von der Rechten meistgehassten) Journalisten und Publizisten Italiens, in der „Repubblica“:

„Und welches Wunder bitte schön könnte nach Moranis Meinung dazu führen, dass nach neun Monaten die Anerkennung der Staatsangehörigkeit für Migrantenkinder, die ihre Schullaufbahn abgeschlossen haben, auf einmal glatt und ohne Widerstände durchgeht? Welche Heldentaten sollten diese Kinder …vollbringen, damit Salvini und Meloni sich dazu durchringen, ihnen ‚die Gnade‘ eines Rechts zu erteilen, das in vielen europäischen Ländern bereits besteht? Das lähmende Syndrom des ‚Wir dürfen Salvini und Meloni keinen Gefallen erweisen‘ ist bloß die letzte Version einer der häufigsten Fehler der italienischen Linken, wenn sie mit Entscheidungen über nötige Reformen konfrontiert wird: die Politik der zwei Geschwindigkeiten. Nach dem Motto: ‚Erst müssen wir beweisen, dass wir in der Lage sind, die Migrationsbewegungen in Griff zu kriegen, indem wir die Zahl der Neuzugänge reduzieren und bei denen, die keinen Asylanspruch haben, mehr Rückführungen schaffen. Erst danach – nachdem auch wir bewiesen haben, eine harte Hand zeigen zu können – dürfen wir uns den Luxus erlauben, die hier lebenden Zuwanderer zu integrieren und rechtlich gleichzustellen‘. Doch die Politik der zwei Geschwindigkeiten hat noch nie funktioniert: weder in der Ökonomie noch wenn es um Bürgerrechte geht. Sie lässt vielmehr die Hoffnungen auf Reformen schwinden und führt letztlich zu mehr Zustimmung für eine Rechte, die man eigentlich bekämpfen wollte.“

Eine – nicht nur für Italien – treffende Einschätzung, die auch durch die Geschichte vielfach bestätigt wurde. Dennoch droht die Feigheit der Linken einmal mehr die Oberhand zu gewinnen, wenn es darum geht, sich konkret für die Rechte von Zuwanderern und ethnischen Minderheiten zu entscheiden. Aus Angst, dadurch selbst an Konsens und Macht zu verlieren.

Den Preis für diese Feigheit zahlen nicht nur die über 800.000 betroffenen Kinder und Jugendlichen und ihre Familien, sondern die ganze Gesellschaft. Denn die nachhaltige Integration der jungen Zuwanderer liegt – wirtschaftlich und sozial – im Interesse des Landes. Die erleichterte Einbürgerung könnte dazu einen Baustein bilden.

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