Italien verlängert Libyen-Abkommen
Unter dem ohrenbetäubenden Schweigen der EU und der internationalen Gemeinschaft gab die italienische Regierung am 2. November grünes Licht für die Verlängerung des Abkommens mit dem libyschen Machthaber in Tripoli, Serraj, um weitere drei Jahre .
Das Abkommen hatte 2017 der Innenminister der Gentiloni-Regierung, Minniti (PD), ausgehandelt, um die Zahl der Flüchtlinge und Migranten „einzudämmen“, die von Libyen aus versuchen, über das Mittelmeer die italienische Küste zu erreichen. Es sieht die Finanzierung und Ausbildung einer sogenannten libyschen „Küstenwache“ und Mittel für libysche Internierungslager vor.
Schon damals war klar – oder hätte klar sein müssen -, dass durch das sog. „Libyen-Memorandum“ kriminelle Banden, Menschenhändler und Peiniger in den Haftzentren finanziert werden, in denen elementarste Menschenrechte verletzt werden. Journalisten aus aller Welt, NGOs und die UNO haben „unvorstellbare Gräueltaten“ gegen die eingekerkerten Männer, Frauen und Kinder dokumentiert: Misshandlungen, Folterungen, Vergewaltigungen, Sklavenhandel, desaströse hygienische Zustände, die zu Krankheiten und Seuchen führen. Libyen gilt international als nicht sicheres Land, Rückführungen dorthin sind gerichtlich verboten.
Minnitis Rechtfertigungsversuche
Dennoch versucht Minniti weiterhin, „sein“ Abkommen von damals zu rechtfertigen. Und ist heute nur zu dem Eingeständnis bereit, dass aufgrund einer veränderten Lage – offener Ausbruch des Bürgerkriegs, völliger Zerfall staatlicher Ordnung – eine „Modifizierung“ des Vertrages nötig sei.
In Interviews erklärte er, er habe damals als „Reformist der kleinen Schritte beweisen wollen, dass wir die Migration unter Kontrolle bringen können, ohne unsere Seele zu verlieren“. Immerhin habe das Abkommen erreicht, dass die ersten humanitären Korridore für besonders verwundbare Personen eingerichtet wurden (es betrifft ein paar hundert Personen), und dass Tripolis wieder Kontrollen seitens der OIM und der UNHCR zuließ. Sonst wäre man in Libyen außen vor geblieben, ohne etwas für die dortigen Flüchtlinge tun zu können. „Das brauchte natürlich Zeit, aber im März 2018 haben wir die Wahlen verloren“. Salvini habe dann „diesen Prozess unterbrochen und seinen Krieg gegen Europa und die Seenotrettung begonnen“.
Eine Begründung dafür, dass mit dem Abkommen von 2017 eine sog. „libysche Küstenwache“ von Italien mit 150 Millionen Euro, Patrouillenbooten, Material und Ausbildung versorgt wurde, mit dem Recht, die Bootsflüchtlinge vor der libyschen Küste wieder einzufangen und in die Lager zurückzubringen, ist das nicht. Schon damals war absehbar, dass diese „Küstenwache“ von verbrecherischen Banden und Menschenhändlern übernommen würde, ohne dass die Behörden in Tripolis etwas dagegen ausrichten. In einem Punkt hat Minniti nicht ganz Unrecht. Es gab bereits ein Vorbild: das Abkommen, das ein Jahr zuvor Angela Merkel mit Erdogan abgeschlossen hatte. Auch dies ein „Pakt mit dem Teufel“, wie sich immer deutlicher zeigt – spätestens seitdem Erdogan droht, dieses ihm in den Schoß gefallene Erpressungsinstrument auch zu nutzen.
Menschenhändler am Verhandlungstisch
Minnitis Vorgehensweise, das Abkommen nicht aufzukündigen, sondern „zu modifizieren“, ist auch die des neuen Bündnissen von PD, 5Sternen und LEU, das eigentlich – zumindest seitens der Linken – mit dem Versprechen der „Diskontinuität“ antrat. Obwohl es inzwischen Hinweise auf eine unmittelbare Zusammenarbeit italienischer Behörden mit den libyschen Kriminellen gibt.
Vor einigen Tagen hat der Staatsanwalt von Agrigento seinen römischen Kollegen eine Akte zugeleitet, aus der hervorgeht, dass der Menschenhändler und Folterer Abdul Rahman Milad (Spitzname „Bija“) 2017 in offizieller Funktion an mindestens zwei italienisch-libyschen Treffen teilnahm. Er sei auch Mitglied einer Delegation gewesen, die im italienischen Innenministerium empfangen wurde. Libysche Richter hatten schon damals einen Haftbefehl gegen Bija erlassen (der aber nicht umgesetzt wurde). Vor Kurzem wurde er wieder als Chef der Küstenwache von Zawiya bestätigt, wo sich ein berüchtigtes Internierungslager befindet.
Es gibt neuerdings Hinweise, dass die libysche Küstenwache in ihrer – selbsternannten und international nicht anerkannten – Seenotrettungszone (SAR) nicht eigenständig tätig ist, sondern auf Anweisung der italienischen Marine handelt. Das belegen Telefonprotokolle von Gesprächen zwischen libyschen Offizieren und Vertretern der italienischen Marine. Was bedeuten würde, dass die italienische Marine aktive Hilfe dabei leistete, dass die libysche „Küstenwache“ seit dem Inkrafttreten des Abkommens ca. 40.000 Migranten und Flüchtlinge in ihrer SAR-Zone abfangen und in die libyschen Kerker zurückbringen konnte. Da dies aufgrund der dortigen Verhältnisse international untersagt ist, könnte die italienische Regierung dafür sogar rechtlich belangt werden.Vor einigen Tagen wurde bekannt, dass die libysche Küstenwache auch in europäischen Gewässern operiert, um Bootsflüchtlinge – unter Einsatz von Waffengewalt – zur Rückkehr nach Libyen zu zwingen. „Monitor“ berichtete, das Mittelmeer habe sich „unbeachtet von der Öffentlichkeit immer mehr zum rechtsfreien Raum für libysche Milizen.“ entwickelt.
Regierung kündigt „Modifizierung“ an
Mit der angekündigten „Modifizierung“ des Abkommens möchte die Regierung der Kritik, die von Menschenrechtsorganisationen und zum Teil auch aus den eigenen Reihen kommt, entgegentreten. Die neue Innenministerin Lamorgese (Nachfolgerin von Salvini) hat mitgeteilt, dass Italien „der libyschen Seite“ die Aufnahme bilaterale Verhandlungen vorgeschlagen hat, um „eine Aktualisierung des Memorandums zu vereinbaren, die deren Effizienz verbessert“. Die libysche Seite habe sich dafür „aufgeschlossen gezeigt“. Hauptziele der Verhandlungen seien: Evakuierung der Internierungslager, Einrichtung humanitärer Korridore unter Beteiligung anderer europäischer Staaten, Unterstützung der lokalen Verwaltungen in Libyen, Ausbau der Hilfe bei der medizinischen Versorgung und Ausstattung von Schulen.
Begrüßenswerte Vorhaben, deren Umsetzung jedoch mit Fragezeichen verbunden ist:
1. Wer ist „die libysche Seite“, die an den bilateralen Verhandlungen teilnehmen soll? Die Serraj- „Regierung“ wäre nicht in der Lage – auch wenn sie dazu bereit wäre (was keinesfalls sicher ist) –, Zusagen auf libyschem Territorium umzusetzen. Nach Ausbruch des Bürgerkriegs reicht ihr Wirkungsradius kaum über Tripolis hinaus. Und soll man sich (wieder) auf Absprachen mit Milizen einlassen, die selbst an Menschenhandel und Verbrechen beteiligt sind?
2. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die EU bzw. ihre Mitgliedstaaten bereit sind, sich an der Errichtung humanitärer Korridore und an der Evakuierung der Haftzentren zu beteiligen. Und außerdem: Sind bei der Evakuierung alle libyschen Lager gemeint, in denen die Flüchtlinge gefangen gehalten werden (nach Schätzungen mindestens 40.000), oder nur die „staatlichen“ Lager in bzw. um Tripolis, in denen etwa 5.000 interniert sind? Und wenn wirklich alle gemeint sind: Wie will man sie finden, um sie gegen den Willen ihrer Betreiber zu evakuieren? Setzt dies nicht genau die „Stabilisierung Libyens“ voraus, die derzeit unabsehbar ist, was die Evakuierung bis zum Sankt Nimmerleinstag hinauszögern würde?
Noch fragwürdiger ist Lamorgeses „grundsätzlich positive“ Bewertung der Wirkungen des Libyen-Memorandums. Man habe dadurch erreicht, dass sich die Anzahl neu einreisender Flüchtlinge und der Ertrunkenen im Mittelmeer reduziert habe. Dass dies mit der „Rückführung“ Tausender von Menschen in die Hölle der libyschen Konzentrationslager erkauft wurde, fällt bei ihrer Bewertung offensichtlich nicht ins Gewicht.
Di Maio in Salvinis Fußstapfen
Drastischer noch als die Innenministerin begründet Di Maio, Außenminister und (noch) „Capo politico“ der 5-Sterne, die Notwendigkeit des Festhaltens an der Kooperation mit den libyschen Behörden: „In Libyen gibt es Hunderttausende von Migranten auf freiem Fuß (verräterische Sprache, also ob es Verbrecher sind), die nicht in den Sammelzentren sind. Wenn wir der Mission der libyschen Küstenwache ein Ende setzen, nehmen wir den Stöpsel weg von 700 000 Migranten“.
Abgesehen davon, dass Di Maios Zahlen der Panikmache („Invasion“) dienen, ist seine Aussage zynisch: Der „Stöpsel“ muss bleiben, damit Migranten und Flüchtlinge nicht „aus der Flasche“ fliehen. Auch wenn sie darin ersticken. Schon immer vertrat der 5SB-Chef in der Zuwanderungs- und Flüchtlingsfrage einen knallharten Abschottungskurs und kommt damit den Neigungen vieler 5SB-Anhänger entgegen. Weshalb er auch jetzt noch mit aller Kraft die Abschaffung von Salvinis „Sicherheitsdekreten“ zu verhindern sucht.
Bisher hat diese Affinität zu rechtsextremen Positionen in der Zuwanderungsfrage nicht den Absturz der 5-Sterne in den Umfragen und zuletzt bei der umbrischen Regionalwahl verhindert. Sie hat nur Konsens und Stimmen zu Salvinis Lega weitergeleitet. Was dazu beiträgt, dass die ohnehin zerrüttete Regierungskoalition nach noch nicht einmal drei Monaten Amtszeit schon um ihr Überleben ringt.