Zankapfel ESM
Ministerpräsident Conte sei ein Lügner und des Hochverrats schuldig, so unisono die ultrarechten Leader Salvini (Lega) und Meloni (Fratelli d‘ Italia). Er habe durch seine Zustimmung zu dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) dafür gesorgt, dass die Italiener ihrer Ersparnisse beraubt werden, damit mit diesem Geld „deutsche Banken gerettet werden“.
Mit diesen und ähnlichen irrwitzigen Behauptungen über den „Ausverkauf des Landes“ heizen Lega und FdI zurzeit den Volkszorn gegen die Regierung (besonders den Ministerpräsidenten) und die gesamte EU (besonders Deutschland) an.
Bevor man auf die politischen Reaktionen und Auswirkungen dieser Kampagne eingeht, muss man sich ein wenig mit den Fakten beschäftigen, auch wenn es – leider – um eine sehr sperrige und komplexe Materie geht. Was ist und wie funktioniert der Europäische Stabilitätsmechanismus (in Deutschland eher als „Rettungsschirm“, in Italien als „Salva-stati“ bekannt)? Und was beinhaltet die jetzt anstehende ESM-Reform?
Worum geht es überhaupt?
Zur Vorgeschichte: Der ESM ist eine europäische Finanzierungsinstitution mit Sitz in Luxemburg, deren Einrichtung von der EU 2011 (als Berlusconi gemeinsam mit der Lega regierte) beschlossen wurde. Der entsprechende völkerrechtliche Vertrag trat 2012 in Kraft (als Monti Regierungschef war). Der ESM-Vertrag löste als Dauereinrichtung den vorläufigen Stabilitätsmechanismus EFSF („European Financial Stability Facility”) ab, der von der EU als Reaktion auf die Krisen in Griechenland, Irland und Portugal 2010 (ebenfalls während der Berlusconi-Regierung) eingeführt wurde. Die Lega selbst war also an der Entstehung des ESM direkt beteiligt. Im Unterschied zu Ministerpräsident Conte, den sie jetzt als den „Hauptschuldigen“ anprangert. Der war damals politisch unbekannt und ging seinem Anwaltsberuf nach.
Aufgabe des ESM ist es, überschuldete Mitgliedsstaaten der Eurozone durch Kredite und Bürgschaften zu unterstützen, um deren Zahlungsfähigkeit zu sichern und die Gefahr eines Defaults abzuwenden, das sich auf die gesamte Eurozone auswirken würde. Die Hilfen können zwecks Rekapitalisierung auch an europäische Banken vergeben werden. Insgesamt verfügt der ESM über ca. 700 Milliarden Euro. Die Finanzierungsanteile der einzelnen Mitgliedstaaten entsprechen ihren Anteilen am EZB-Kapital. An erster Stelle steht Deutschland mit ca. 27% (21,7 Mrd. eingezahltes und ca. 168 Mrd. abrufbares Kapital). Italien belegt – nach Frankreich – den dritten Platz mit 17,8% (14,3 Mrd. eingezahltes und 111 Mrd. abrufbares Kapital).
Voraussetzungen für die ESM-Finanzhilfen
Nach Art. 13 des ESM-Vertrages dürfen nur Staaten Finanzhilfen vom ESM erhalten, deren Staatsverschuldung von der EU (im Benehmen mit der EZB) als „tragfähig“ bewertet wird. Im Umkehrschluss heißt das, dass ein Staat, dessen Staatsschulden als nicht tragfähig bewertet werden, sich um wirtschaftspolitische Reformen bemühen muss, wenn er ESM-Mittel in Anspruch nehmen will. Was er ohnehin im eigenen Interesse tun muss, um dem Staatsbankrott zu entgehen, der noch viel schlimmeren finanzielle Folgen für das Land und seine Bürger hätte.
Die ESM-Klausel über die „Tragfähigkeit der Staatsverschuldung“ ist der erste zentrale Angriffspunkt von Lega und FdI. Obwohl diese Regelung seit 2012 besteht. Als aktueller Anlass dient ihnen eine geplante Reform des ESM, die einige – in erster Linie technische – Änderungen vorsieht, die Substanz des vorhandenen Mechanismus aber beibehält. Salvini und Meloni behaupten aber, die Reform führe hier einen „Automatismus“ ein, in Gestalt eines Zwangs zur Restrukturierung der Staatsschulden, der die Souveränität Italiens faktisch außer Kraft setze.
Dem ist nicht so, die ESM-Reform sieht einen solchen Automatismus nicht vor. Der Text mit ihren wesentlichen Eckpunkten, über welche die EU-Regierungschefs im Juni 2019 (also während der Regierungszeit von Lega-5SB) nach monatelangen Verhandlungen eine „politische Einigung“ erzielten, enthält in diesem Punkt keinerlei Änderungen. Damals hatte Italien – vertreten durch den ehemaligen Finanzminister Tria – erreicht, dass ein Vorschlag Deutschlands, eine solche automatische Restrukturierung der Staatsschulden durch den ESM einzuführen, nicht durchkam. Es blieb dabei, dass die Entscheidung darüber nach wie vor von dem betreffenden Staat in Absprache mit der EU getroffen wird. Tria selbst hat dies mehrmals öffentlich bestätigt und auch klargestellt, dass sowohl das Kabinett (also auch Salvini, der mit Di Maio Vizepremier war) als auch das Parlament immer über den Fortgang der ESM-Reform unterrichtet wurden.
Der im Juni 2019 „politisch“ abgesegnete Text wurde übrigens – anders als Salvini und Meloni jetzt behaupten – bisher von den EU-Regierungschefs, also auch von Conte, nicht unterzeichnet. Dies stand für Mitte Dezember an, doch aufgrund der Aufregung, die es gegenwärtig in Italien (auch in der Regierungskoalition) über das Thema gibt, bat Finanzminister Gualtieri (PD) am 4. 12. beim Treffen der EU-Finanzminister um eine Terminverschiebung auf Januar 2020, die akzeptiert wurde.
„Ersparnisse der Italiener zur Rettung deutscher Banken“
Und wie verhält es sich mit dem zweiten Vorwurf von Lega und FdI, die ESM-Reform würde dazu führen, dass die Ersparnisse italienischer Bürger zur Rettung deutscher Banken eingesetzt werden?
Eine der Änderungen sieht vor, dass der ESM künftig die Möglichkeit erhält, Mittel zur Unterstützung des europäischen „Einheitlichen Abwicklungsfonds“ (SRF) für illiquide bzw. in eine Krise geratene Banken der Eurozone bereitzustellen. Der SRF wurde bisher nur durch die Banken – also nicht durch öffentliche Gelder – finanziert. Künftig soll der SRF in besonders schweren Fällen und wenn die eigenen Ressourcen nicht ausreichen, auch ESM-Gelder erhalten dürfen.Es handelt sich also um einen „Rettungsschirm für den Rettungsschirm“ für alle europäischen (nicht nur deutschen) Banken. Man kann und sollte darüber streiten, ob die Einrichtung eines solchen „Super-Rettungsschirms“, der teilweise aus Steuergeldern finanziert wird, für marode Banken grundsätzlich sinnvoll bzw. notwendig ist. Die „souveränistische Interpretation“ aber (Italiener zahlen, deutsche Banken kassieren) ist eine schlichte Verfälschung. (Der Wirtschaftsberater und Bankenexperte Dino Crivellari vertritt übrigens die Auffassung, dass die Neuerung gerade zugunsten der Banken südeuropäischer Länder eingeführt wurde, also das Gegenteil von dem, was Salvini und Meloni behaupten).
Die zweifelhafte Rolle Di Maios und der 5-Sterne
Wenn die Opposition einen alle Tatsachen verfälschenden Generalangriff auf die Regierung führt, würde man normalerweise erwarten, dass sich diese dem entschlossen entgegen stellt. Weit gefehlt. Vor allem Außenminister Di Maio (5SB), innerparteilich angeschlagen und „Capo“ einer Partei im Sinkflug, wittert beim Reizthema ESM die Möglichkeit, mit antieuropäischer Skepsis selbst wieder ein paar Restbrocken Zustimmung einsammeln zu können. Die ganze ESM-Sache sei unklar, es bestehe die Gefahr, dass italienische Interessen geschädigt werden. Man müsse nachjustieren und dazu brauche man Zeit – sprich: mindestens bis die Regionalwahlen in der Emilia-Romagna und in Kalabrien vorüber sind. (Entsprechend groß war der Jubel, als Finanzminister Gualtieri beim Treffen mit seinen EU-Kollegen genau dies erreichte).
Wider besseres Wissen dementiert Di Maio auch nicht seinen einstigen Koalitionspartner Salvini, wenn dieser behauptet, die Vorgängerregierung und das Parlament seien bei der ESM-Reform überrumpelt worden. Einmal mehr verhalten sich er und ein Teil seiner Partei so, als gehörten sie zur Opposition und nicht zur Regierung. Einmal mehr tragen sie durch Taktieren auf Zeit und ohne brauchbare Verbesserungsvorschläge dazu bei, das ohnehin miserable Erscheinungsbild der Regierung weiter zu verschlechtern. Aber ohne auch die Kraft zu haben, das ungeliebte Bündnis mit der PD zu beenden. Aus Furcht vor einem Debakel bei Neuwahlen.
Contes Gegenangriff
Ministerpräsident Conte hatte nach den massiven Anschuldigungen der rechten Oppositionsparteien ausführlich in beiden Kammern des Parlaments über den Stand der ESM-Reform berichtet. Er habe weder bereits unterschrieben noch in Sache ESM jemals im Alleingang gehandelt. Penibel zählte er alle Sitzungsdaten von Kabinett und Parlament auf, in denen das Thema beraten wurde. Das war zwar „offiziell“ an die Adresse von Lega und FdI gerichtet, aber es war jedem klar, dass er damit auch den neben ihm sitzenden Minister Di Maio meinte (der als einziges Regierungsmitglied sich nie an dem wiederholten Beifall während Contes Rede beteiligte).
Contes Nachweis, dass nicht er, sondern Salvini der Lügner ist, hindert den Lega-Chef nicht daran, seine antieuropäische Kampagne weiter zu betreiben, zumal Wahlen in zwei wichtigen Regionen nahen. Die Lega sammelt auf Plätzen Unterschriften unter dem Motto „Stoppt den ESM“; sie spekuliert darauf, dass für die meisten Bürger das komplexe Thema undurchschaubar ist. Von Journalisten gefragt, ob sie wissen, was der ESM ist, lautete die gängige Antwort der unterzeichnenden Bürger: „Keine Ahnung. Aber ich vertraue Salvini, das wird schon richtig sein“.
Letzte Bemerkung: Die AfD, die deutsche Verbündete der Lega, behauptet zum ESM genau das Gleiche wie diese, nur mit getauschten Rollen: der ESM sei ein Instrument, „um Geld aus den Taschen der Deutschen zu ziehen“, damit den verschuldeten und faulen Südeuropäern geholfen wird. Die gemeinsame Logik, die in diesem Paradox steckt, ist die souveränistische Ablehnung jeder gemeinsamen Übernahme von Verantwortung. Es ist, kurz gesagt, die Ablehnung Europas.