Russisch-türkischer Schwerttanz
Was in Libyen passiert, nahmen die Medien und die europäische Politik lange gleichmütig hin. Die eigene Mitverantwortung dafür, dass dort seit Gaddafis Liquidierung vor 8 Jahren das Chaos regiert und ein Bürgerkrieg schwelt, wurde kaum thematisiert. Der einzige Grund, warum die dortige Situation auf Interesse stieß, war das Vermögen (oder Unvermögen) Libyens, afrikanische Migranten aufzuhalten, die auf diesem Weg nach Europa gelangen wollten. Natürlich ging es dabei auch „ums Öl“ (und Erdgas), aber da hoffte man, den Status quo irgendwie halten zu können. Dass sich im Land zwei konkurrierende Machtpole gebildet haben, nahm man zur Kenntnis: der eine um eine „Regierung“ in Tripolis, welche die UNO anerkannt hatte, deren Macht aber kaum über die Stadtgrenze von Tripolis hinausreichte; der andere um den in Bengasi residierenden „General“ Haftar, der zunächst nur von Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten (und insgeheim Israel) unterstützt wurde. Und der das Ziel verfolgt, al-Sarraj aus Tripolis und aus dem Amt zu jagen, weil dieser mit „Terroristen“ paktiere (zu denen Haftar, wie sein ägyptischer Gönner al-Sisi, auch gemäßigte Islamisten zählt). Mit der kleinen Nebenabsicht, selbst zum neuen „starken Mann“ Libyens zu werden. Eine Spaltung der Macht, die weitere Mächte zur Einmischung einladen musste.
Haftars Bündnis mit Russland
Die Einladung nahm zunächst Russland an. Im Januar 2017 schloss es einen militärischen Kooperationsvertrag mit dem „General“, der zunächst zur Dauerpräsenz russischer Techniker und Militärberater in Bengasi führte. Bis Haftar im April 2019 den offenen Bürgerkrieg begann und die Millionen-Stadt Tripolis mit Flugzeugen, Artillerie und Drohnen angriff (wobei er bevorzugt Krankenhäuser unter Feuer nahm). Als sein Vormarsch stockte, kam ihm Putin mit einer „Kompanie Wagner“ zu Hilfe, einer angeblich „privaten“ Söldnertruppe, die mit dem Kreml eng verbunden ist und ihm schon in der Ukraine, in Syrien und in der Zentralafrikanischen Republik die Schmutzarbeit abnahm (die Angaben über ihre personelle Stärke schwanken zwischen einigen hundert und zweitausend Mann). Ihre Kampfkraft brachte den Vormarsch der Haftar-Truppen Anfang Dezember wieder in Gang. Und ist nach Ansicht der Experten groß genug, um den Kampf schnell zu beenden. Mitte Dezember verkündete Haftar: „Die Stunde Null ist jetzt da. Wir ziehen in Tripolis ein“.
Mit ihm hätte Putin die Bühne von Tripolis als Sieger betreten. Und damit der „Kette“ russischer Stützpunkte, die am südlichen Mittelmeer von Assads Syrien zu al-Sisis Ägypten reicht, ein weiteres westliches Glied angefügt. Mit zwei erfreulichen Perspektiven: (a) direkte russische Präsenz am Mittelmeer und (b) Kontrolle über das, was südlich davon geschieht. Denn Putins Ambition richtet sich inzwischen auf ganz Afrika. Am 23. Oktober lud er 44 afrikanische Staats- und Regierungschefs in seine Residenz in Sotschi ein, um über mehr Kooperation zu sprechen. Putin und al-Sisi leiteten die Konferenz gemeinsam, worin viele Beobachter einen Vorgriff auf die strategische Partnerschaft sahen, mit der Putin den Kontinent aufrollen will.
Europas Äquidistanz …
Die meisten europäischen Regierungen übten sich derweil in Realpolitik und gingen, wie es Conte ausdrückte, zu den libyschen Kontrahenten auf „Äquidistanz“. Einerseits war ihr Hauptansprechpartner die al-Sarraj-Regierung, die ja auch den Segen der UNO hatte und hinter der Milizen standen, deren Hilfe Italien für die Verteidigung der Fördergebiete und Pipelines der ENI und die Abwehr der Migranten braucht. Andererseits versprach Haftar der „starke Mann“ zu werden, von dem viele europäische Regierungen insgeheim meinen, dass „Libyen ihn jetzt braucht“. Also hütete man sich, eindeutig Partei zu ergreifen. Italien, Deutschland und Großbritannien schlugen sich verbal etwas mehr auf die Seite von al-Sarraj, ohne jedoch den Kontakt zu Haftar abreißen zu lassen (man kann ja nie wissen …). Während Macron Haftar Militärberater schickte. Was die Europäer einte, war ihre Friedensrhetorik, d. h. die Aufforderung an beide Seiten, im „Dialog“ zu bleiben und eine „friedliche Lösung“ zu suchen. Sie taten es auch dann noch, als Haftar bereits zum Sturm auf Tripolis angesetzt hatte.
… und die vorläufige Rettung aus der Türkei
Nun geschah das Unerwartete. Plötzlich zeigte al-Sarraj, dass mehr in ihm steckt als das von der UNO abgesegnete Opferlamm, das geduldig auf seine Hinrichtung wartet. Er brachte einen Akteur ins Spiel, den bis dahin niemand auf der Rechnung hatte. Als er im November begriffen hatte, dass er gegen die russische Pro-Haftar-Intervention von Europa außer schönen Worten nichts zu erwarten hatte, besuchte er den türkischen Präsidenten. Es war ein Moment, in dem auch Erdogan einen außenpolitischen Erfolg brauchte, weil er immer noch die Niederlage bei der Istanbuler Oberbürgermeisterwahl verdauen musste. Da kam ihm das Hilfsersuchen eines islamischen Bruderlandes gerade recht.
Das Ergebnis ist ein Abkommen, das Europa den Fehdehandschuh gleich doppelt hinwirft. Zunächst will es die bestehenden Interessengebiete und Bohrrechte im Mittelmeer zugunsten der Türkei umverteilen, wobei es die Existenz Zyperns und Kretas zu ignorieren scheint (was auch die geplante Erdgasleitung EastMed, die aus dem Nahen Osten nach Europa reichen soll, in Frage stellt). Dann kam die Gegenleistung der Türkei ans Licht: Sie liefert der Regierung in Tripolis Kanonen, Waffen und Drohnen (mit denen sich angeblich auch die chinesischen Drohnen abschießen lassen, die Haftar einsetzt). Der Aufschrei europäischer Diplomaten, dies sei „illegal“, weil es gegen ein UN-Embargo von 2011 verstößt, fehlt die Glaubwürdigkeit (wie kam denn Haftar zu seinem imposanten Waffenarsenal?). Der Hauptpunkt: Die Türkei erklärt sich bereit, eine 5000 Mann starke Söldnertruppe nach Libyen zu schicken, wenn al-Sarraj sie anfordert. Am 7. Januar wird das türkische Parlament das Abkommen ratifizieren. Es sieht so aus, als ob al-Sarraj die 5000 Mann tatsächlich anfordern wird.
Europa ist aus dem Spiel
Dies könnte alles verändern. Obwohl Haftar weiterhin Tripolis belagert, scheint sein Vormarsch erst einmal gestoppt und al-Sarraj vorerst gerettet zu sein. Aber dass nun mit der Türkei ein neuer Akteur auf den Plan getreten ist, wirft die Frage nach den längerfristigen Folgen auf. Das unwahrscheinlichste Szenario ist, dass es in Libyen zur großen Konfrontation zwischen Russland und der Türkei kommt, in der zwei Soldnerheere aufeinander einschlagen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass sich beide Seiten auf einen Kompromiss einigen, der es bei der gegenwärtigen Teilung des Landes belässt, nun aber mit Russland als alter und der Türkei als neuer Garantiemacht für den Status quo. Erdogan hat schon öffentlich erklärt, dass Putin sein „Freund“ sei. Mit dem er schon in Syrien einen Deal zum beiderseitigen Nutzen gemacht hat, mit dem ihn die Abneigung gegen Europa verbindet und mit dem er sich auch in dieser Frage einigen werde.
Wo bleibt bei alledem eben dieses Europa? Italien, das einst das Mittelmeer „Mare nostrum“ nannte, wurde jetzt von al-Sarraj beim Abschluss des Hilfsabkommens mit der Türkei nicht einmal mehr konsultiert. Als sich Di Maio deswegen in Tripolis beschwerte, sollen ihm die dortigen Regierungsvertreter geantwortet haben, dass sich zuallererst Europa illoyal verhielt, als es die aus Tripolis kommenden Hilferufe einfach überhörte und zu keiner konkreten Hilfe bereit war. So dass Tripolis keine andere Wahl blieb. Als Di Maio anschließend nach Bengasi flog, um dort (wie er ankündigte) mit Haftar Tacheles zu reden, soll ihm dieser fast väterlich gesagt haben, dass Di Maio, der Außenminister Italiens, ein lieber Junge sei und sich Haftar schon darauf freue, mit ihm weiterhin gut zusammenzuarbeiten.Paolo Garimberti schrieb am 21. Dezember in der „Repubblica“: „Mit der Komplizität von Erdogan, der freundlichen Unterstützung Trumps und der europäischen Impotenz schafft sich Putin eine Einflusssphäre, die nicht einmal die alte UdSSR erreichen konnte. Nur noch Xis China macht ihm dabei Konkurrenz. Für uns ist das leider kein Grund zur Erleichterung. Sondern ein Grund zur Sorge mehr“.
PS: Wenn jetzt in deutschen Zeitungen zu lesen ist, dass Erdogan mit diesem Abkommen „nicht nur die Bemühungen der Europäer um einen Waffenstillstand durchkreuzt“, sondern „auch eine neue Flüchtlingswelle auslösen könnte“ (HAZ vom 28. 12. 2019), ist schon der erste Halbsatz Heuchelei. Denn was hier „Bemühungen der Europäer“ genannt wird, ist eine geplante Konferenz aller libyschen Konfliktparteien, die im Januar in Berlin stattfinden soll, also zu einem Zeitpunkt, in dem Putins Kompanie Wagner ohne die türkische Intervention wahrscheinlich längst Tatsachen geschaffen hätte. Der zweite Halbsatz über die „mögliche Flüchtlingswelle“ ist noch verräterischer. Er belegt nicht nur erneut den verengten deutschen Interessenhintergrund, sondern enthält auch den Hinweis auf eine ironische Wendung unserer Migrantenpolitik: Während sich die Zweifel mehren, ob nicht das Flüchtlingsabkommen, das Angela Merkel 2016 mit der Türkei abschloss, ein strategischer Fehler war, weil es Erdogan ein prachtvolles Druckmittel gegen ganz Europa an die Hand gab, könnte sich die Sache nun in Libyen wiederholen – mit dem gleichen Erdogan als Schleusenhüter.