Schleiertanz um die Verjährung
Seit Jahresbeginn sind Regierung und Opposition fast ausschließlich mit einem nicht endenden Kräftemessen um das Verjährungsgesetz von Justizminister Bonafede (5-Sterne) beschäftigt. Das Gesetz war noch zurzeit der Vorgängerregierung von Lega und 5SB beschlossen worden, ist aber erst zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten (s. „Kritik am grillinischen Verjährungsgesetz“ v. 4. 1. 2020). Mittlerweile scheint sogar die Zukunft der Regierung davon abzuhängen.
Noch einmal zum Rekapitulieren: Bonafedes Gesetz sieht vor, dass nach dem Ende eines Prozesses in erster Instanz – unabhängig davon, ob es mit einer Verurteilung oder mit einem Freispruch endet – die Verjährung gänzlich entfällt. Kriterien wie die Schwere der Straftat und der Umfang des Zeitraums zwischen Tat und Ende des Verfahrens spielen keine Rolle mehr. Angesichts der exorbitanten Dauer vieler Gerichtsverfahren in Italien kann das bewirken, dass ein Angeklagter – auch bei geringfügigen Vergehen – einem „endlosen“ Prozess ausgesetzt wird.
Die jakobinische Keule des „Bonafede-Gesetzes“
Der PD-Senator Luigi Manconi, Vorsitzender der Menschenrechtskommission und Kritiker des Gesetzes, sieht darin eine Missachtung der notwendigen Balance zwischen dem Recht des Staates, Gesetzesverstöße zu bestrafen, und (von Kapitalverbrechen abgesehen) dem individuellen Recht jeden Bürgers, nicht – potentiell – auf unbegrenzte Zeit unter Anklage zu stehen. Die Festsetzung einer zeitlichen Frist, innerhalb derer der Staat zu einer Entscheidung über Schuld oder Unschuld des Angeklagten kommen muss, sei notwendig und gerecht. Und wenn eine solche Frist aus Gründen, die dem Angeklagten nicht anzulasten sind, überschritten wird, müsse der Staat von einem Urteil absehen. Manconi weist daraufhin, dass dies auch im Art. 111 der italienischen Verfassung festgeschrieben ist, wonach jeder Bürger „das Recht auf eine vertretbare Dauer des Prozesses“ hat. Die Verjährung sei eine Konkretisierung genau dieses Rechtsanspruchs.
Solche Differenzierungen und rechtsstaatliche Prinzipien interessieren die 5SB allerdings wenig. Die korrupte politische Kaste müsse endlich zur Rechenschaft gezogen werden und dürfe nicht länger davonkommen, lautet ihr Argument. Im Wissen, dass solche martialische Vereinfachungen bei vielen populärer sind als „ausbalancierte“ Reformen wie zum Beispiel eine deutliche Verlängerung der Verjährungsfristen und eine differenzierte Regelung bei Verurteilungen und Freisprüchen. Genau in diese Richtung ging das „Orlando-Gesetz“ (genannt nach dem Justizminister der Gentiloni-Regierung), das von dem Bündnis Lega-5Sterne rückgängig gemacht und durch das Bonafede-Gesetz ersetzt wurde.
Das Thema wird politisch instrumentalisiert
Inzwischen ist die Lega aber in der Opposition und wettert, gemeinsam mit Fratelli d‘ Italia und Forza Italia, gegen die von ihr einst mitbeschlossene Regelung. Doch auch PD, LEU und Renzis Italia Viva, die das Regierungsbündnis (noch) mittragen, fordern eine Modifizierung des Bonafede-Gesetzes.
Im Wettkampf der Änderungsanträge, die von der einen oder der anderen Seite gestellt werden, und der immer schriller geführten Auseinandersetzung gerät inzwischen die Sache selbst (adäquate Regelung der Verjährung) in den Hintergrund. Das Thema wird taktisch instrumentalisiert, um die jeweiligen Parteiinteressen zu bedienen und selbst an Einfluss zu gewinnen.
Das gilt besonders für Renzi und seine „Italia Viva“, die aus einer PD-Abspaltung entstanden ist. Der egomane ehemalige Ministerpräsident hatte nach dem Zusammenbruch der Koalition von Lega und 5SB mit einer überraschenden Hinwendung zu den Grillini entscheidend zur Bildung der neuen Regierung beigetragen. Um kurze Zeit später mit einigen Getreuen aus der PD auszutreten, wobei er versicherte, die Spaltung würde die Regierung keineswegs schwächen, im Gegenteil. Inzwischen sieht er seine Hauptaufgabe darin, mit permanenten Querschüssen die politische und mediale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Auf Kosten der Stabilität und Handlungsfähigkeit einer ohnehin fragilen Regierung. Er lehnt nicht nur das Bonafede-Gesetz als verfassungswidrig ab – dafür gibt es wie gesagt durchaus plausible Gründe. Sondern sperrt sich auch gegen alle Versuche, innerhalb der Regierungskoalition, zu der er gehört, zu einem tragbaren Kompromiss zu kommen. Und nimmt eine Regierungskrise in Kauf, die Salvinis und Merlonis extremer Rechten den Weg zur Macht öffnen könnte.Kompromisslösung mit Schwachstellen
Mit Vermittlung von Ministerpräsident Conte hatten die 5-Sterne, PD und LEU eine solche Kompromisslösung gefunden. Die Kernpunkte: 1) Ein Wegfall der Verjährung nach der ersten Instanz wird auf Verurteilte beschränkt; Freigesprochene, bei denen die Staatsanwaltschaft in die zweite Instanz gehen will, bekommen die entsprechenden Verjährungsfristen zugerechnet. 2) Begrenzung der Prozessdauer auf maximal 5 Jahre durch eine entsprechende Änderung des Strafrechts, ausgenommen sind Verbrechen wegen Mafia, Terrorismus und schweren Verstößen in der öffentlichen Verwaltung. Bei Verfahren, die „aufgrund unbegründeter und unentschuldbarer Verzögerung“ länger dauern, können gegen Richter bzw. Staatsanwälte Sanktionen bzw. Disziplinarmaßnahmen verhängt werden.
Wie man sich vorstellen kann, laufen die Richterverbände besonders gegen diesen letzten Punkt Sturm. Sie weisen empört von sich, dass individuelle Nachlässigkeit und „Faulheit“ der Richter für die lange Prozessdauer verantwortlich sein könnten. Schuld daran seien vielmehr die chronische personelle Unterbesetzung und die vielen bürokratischen Bestimmungen. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich in der Mitte, d. h. in einem Zusammenwirken all dieser Faktoren. (Die Regierung hat gleichzeitig mit der Begrenzung auf 5 Jahre 1.500 Neueinstellungen im Justizbereich angekündigt, doch die dürften eher ein Tropfen auf den heißen Stein sein).
Die gefundene Lösung ist aus meiner Sicht alles andere als optimal. In der Sache wäre eine Art Neuauflage des „Orlando-Gesetzes“ die bessere Wahl gewesen. Aber das hätte bedeutet, dass die ohnehin geschwächten 5-Sterne bei einem ihrer „Steckenpferde“ kapitulieren müssten. Das war offensichtlich politisch nicht durchsetzbar, und so einigte man sich darauf, den gröbsten Unfug im grillinischen Gesetz zu korrigieren.
Renzi trainiert den Heckenschützen
Der Kompromiss wurde in der vergangenen Woche im Kabinett beschlossen, allerdings nur von PD, 5SB und LEU. Die beiden Ministerinnen von „Italia Viva“ blieben (auf Anweisung des Chefs) der Kabinettssitzung fern und verweigerten sich damit jeglichem Versuch einer Konsensfindung. Renzi selbst droht, einen Misstrauensantrag gegen den Justizminister zu stellen und im Parlament für den Änderungsantrag der Rechten zu stimmen (der im Wesentlichen die Beibehaltung des Status quo vorsieht). Was faktisch einen Bruch der bestehenden Koalition bedeuten würde.
Dieses Verhalten bestätigt, dass es Renzi und den Seinen nicht um die Sache selbst, sondern um eine Machtprobe geht. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass das Ziel Neuwahlen sind. Denn Renzi weiß, dass in einem solchen Fall seine Partei den Eintritt ins Parlament verpassen könnte (die geplante Reform des Wahlgesetzes sieht, wie in Deutschland, eine 5%-Hürde vor, und die Umfragewerte von Italia Viva liegen derzeit bei 3-4%). Worauf Renzi offenbar zielt, ist eine Art Regierungsumbildung – ohne Neuwahlen und vor allem ohne Conte als Ministerpräsident. Fällt Conte, könnten die Karten neu gemischt werden und Renzi hätte die Möglichkeit, die Stimmen von Italia Viva ins Spiel zu werfen. Zwar nicht in der Abgeordnetenkammer, wo 5SB und PD (noch) über eine klare Mehrheit verfügen, aber im Senat, wo die Regierung um ihre hauchdünne Mehrheit bangen muss.
Schon wird spekuliert, wen Renzi in der Rolle des Königsmachers gerne ins Amt des neuen Ministerpräsidenten hieven würde. Hier fiel schon der Name Mario Draghi. Da davon auszugehen ist, dass die 5SB keine Regierung unterstützen würde, die vom einstigen Chef der EZB geführt wird, könnte es Renzis Kalkül sein, Berlusconis Forza Italia und andere kleinere Gruppen in eine veränderte Regierungskonstellation zu holen.
Jenseits aller Spekulationen bleibt die bittere Erkenntnis, dass sich die Regierung und die politischen Kräfte in Italien – trotz massiver Rezessionssignale und einer politisch völlig desorientierten Bevölkerung – in Taktiererei und Machtspielchen verheddern. Statt sich den drängenden Probleme des Landes zuzuwenden.