Die sich abwenden

„Der Antisemitismus ist schon immer da, er wohnt in den Armen an Geist, bis der richtige Moment gekommen ist, um Rassismus und Antisemitismus aus ihnen herauszulocken“ (Liliana Segre am 27.1. in Straßburg).

Da heutzutage das Wort „Rassist“ zur billigen Münze geworden ist, ist es sinnvoll, sich an die ursprüngliche Definition zu erinnern: Ein „Rassist“ glaubt, dass es bei den Menschen außer dem Unterschied der Geschlechter biologische Merkmale gibt, die es rechtfertigen, von „Rassen“ zu sprechen, und die eine „natürliche“ Hierarchie der Unter- und Überlegenheit konstituieren. Politisch brisant ist vor allem der zweite Teil, weil das darin enthaltene kollektive Werturteil zu einer Stufung der Menschenrechte führt, bis zu dem Punkt, dass die „überlegene Rasse“ entscheiden kann, wieviel Lebenswert der „unterlegenen“ zukommt. Eine Brisanz, die auch bleibt, wenn das Wort „Rasse“ ein wenig außer Mode gekommen ist.

Ist der Rassismus Vergangenheit?

Dass sich der Rassismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der von Europa beherrschten Welt so mörderisch austobte – zuerst im Kolonialismus, dann und vor allem in den deutschen KZs –, verführte zu der Annahme, dass es sich dabei um eine schreckliche, aber zum Glück überwundene Verirrung handelte, die auf einem inzwischen widerlegten Glauben an die Relevanz genetischer Unterschiede beruhte. Eine Verirrung, die zwar für einige Jahrzehnte eine Art kollektiver Geisteskrankheit auslöste, aber an die damalige Herrschaft kolonialistischer und faschistischer Regimes gebunden war. Diese Verharmlosung des Rassismus zu einer Erscheinung der Vergangenheit hat die Inflationierung des „Rassismus“-Vorwurfs verstärkt, mit der Wirkung, Anzeichen für sein reales Wiedererstarken zu übersehen. Liliana Segre setzte dem in Straßburg nicht nur entgegen, dass der Rassismus auch heute alles andere als überwunden sei. Sie ging noch einen Schritt weiter: Wie der Antisemitismus sei er latent immer da und warte nur auf den „richtigen Moment“, um wieder manifest zu werden. Mit der Warnung, dass dieser Moment jetzt gekommen sein könnte.

Der Rassismus hat zwei Gesichter. Das eine ist die Bestialität, die durchbricht, wenn die Jagd auf Menschen beginnt, die die falsche Hautfarbe, Sprache oder Religion haben, wenn in den Stadien Zehntausende von feixenden Fans gegen schwarze Spieler Töne brüllen, die sie für Urwaldgeräusche halten, oder wenn die Politik die Häfen gegen Flüchtlinge verrammelt, obwohl auf den blockierten Schiffen Seuchen ausbrechen.

Zum „richtigen Moment“ gehört aber auch das andere Gesicht: eine Mehrheit, die sich an den Bestialitäten nicht offen beteiligt, aber sie dadurch möglich macht, dass sie sich in den Momenten, in denen sie geschehen, einfach abwendet. Bei dem Todesmarsch, den Liliana Segre von Auschwitz bis Ravensbrück mitmachte, ist sie auch diesem Gesicht tausendfach begegnet – und hat dabei am eigenen Leib erfahren, welch mörderische Gewalt in der Weigerung liegt, auch nur ein Stück Brot aus dem Fenster zu werfen. Segre sagt, und es klingt fast wie eine Entschuldigung, dass dahinter oft „Angst“ steckte. Aber sie legt damit die Spur zu den banalen Wurzeln des Bösen. Es war nicht nur die Angst vor der Gestapo, sondern auch die Angst vor der Reaktion der Nachbarn, es war die Angst aufzufallen, die Angst, mit dem Elend überhaupt in Berührung zu kommen.

Ist das alles Vergangenheit, schlimm, aber im „Nie wieder“ begraben?

Das Libyen-Abkommen wurde verlängert

Lager in Libyen

Lager in Libyen

Am 2. Februar 2017 schloss die italienische Regierung Gentiloni mit dem libyschen Regierungschef al-Sarraj (dessen Machtbereich sich auf Tripolis beschränkte) ein Abkommen, das die Flucht „illegaler“ afrikanischer Flüchtlinge von Libyen nach Italien verhindern soll und für das die EU (Deutschland eingeschlossen) grünes Licht gab. Es sieht die Bereitstellung von Mitteln für die Einrichtung und Unterhaltung von Haftzentren auf libyschem Boden sowie die Aufrüstung und Ausbildung einer libyschen Küstenwache vor, welche die Bootsflüchtlinge abfangen und nach Libyen zurückführen soll. Am 2. Februar 2020 verlängerte „sich“ dieses Abkommen um weitere drei Jahre – soll heißen, dass zu ihm die Regelung gehört, alle drei Jahre revidiert werden zu können, ansonsten aber verlängert zu werden. Da jetzt keine Seite eine Revision beantragte, auch Italien nicht, verlängerte es sich „automatisch“.

Wenn die Menschenrechte noch irgendeine Geltung haben, ist dieses Abkommen zu einwm Verbrechen gegen die Menschlichkeit geworden. Konnte man vor drei Jahren noch behaupten (in Wahrheit nur wider besseres Wissen), dass aus Libyen bald ein normaler Rechtsstaat werden könne, so ist jetzt das Gegenteil der Fall. In Libyen herrscht ein Bürgerkrieg, in dem so menschenrechtsfreundliche Regime wie Russland, Ägypten und die Türkei das Kommando übernommen haben. Und dann das Fazit des Abkommens für die Flüchtlinge: Der UNHCR schätzt, dass in diesen drei Jahren vor der libyschen Küste ca. 5000 ertranken. Das ISPI (Instituto per gli Studi di Politica Internazionale) ergänzt, dass die libysche „Küstenwache“, deren Aktionen von einem im Hafen von Tripolis in Permanenz ankernden italienischen Marineschiff koordiniert werden, im gleichen Zeitraum ca. 40.000 meist aus Afrika stammende Bootsflüchtlinge aufgriff und zwangsweise aufs libysche Festland zurückbrachte. In Lager, von denen hundertfach bezeugt ist, dass es Orte des Horrors sind, in denen Männer, Frauen und Kinder systematisch versklavt, gefoltert, erpresst und vergewaltigt werden. Zur Rhetorik der Verteidiger des Abkommens gehört die Behauptung, damit den „Schleppern und Menschenhändlern“ das Handwerk legen zu wollen. Inzwischen weiß man, dass die „libysche Küstenwache“, die Italien aufbaute und nun weiter hochpäppeln wird, für die Milizen, die vom Menschenhandel und dem Betrieb der Lager leben, einen weiteren Geschäftszweig bilden. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, forderte Italien Ende Januar auf, „die Kooperation mit der libyschen Küstenwache zumindest so lange einzustellen, so lange diese nicht die Beachtung der Menschenrechte garantieren kann“. Es war vergeblich.

Beiseitegeschoben

Dass der „richtige Moment“, von dem Liliana Segre spricht, wieder da ist, zeigt der Aufstieg Salvinis und die die Ausbreitung des Rechtspopulismus in ganz Europa. Auch die politische Mitte zeigt es, wenn Italien das Libyen-Abkommen verlängert und die EU erklärt, an den Ausbildungsprogrammen für die libysche Küstenwache festhalten zu wollen. Es zeigt aber auch die Mehrheit der Europäer, die die Nachrichten über das Geschehen in den libyschen Lagern beiseiteschiebt. Denn erstens, und das ist für sie das Wichtigste, „kommen weniger“. Zweitens sind es „Illegale“. Drittens – niemand sage, dass es keine Rolle spielt – geht es meist „nur“ um Schwarzafrikaner (man stelle sich einen Moment lang vor, die Lagerinsassen wären weiße Europäer …)

Eine letzte Frage: Darf man eine Verbindungslinie zwischen dem Todesmarsch, über den Liliana Segre berichtet und der schon 75 Jahre zurückliegt, und den heutigen Zuständen in den libyschen Lagern ziehen? Haben wir uns nicht verabredet, dass die Schrecken der NS-Zeit „singulär“ waren? Liliana Segre hält sich zu Recht nicht an diese Verabredung. Die von den Nazis in Gang gesetzte Mordmaschine war „singulär“, zumal sie versuchten, sie vor den meisten Deutschen geheim zu halten. Aber auch hier gab es Tausende von Vorzeichen, die von der gleichen Mehrheit beiseitegeschoben wurde. Liliana Segre hat sie auch für die Gegenwart wieder erkannt.

Nachbemerkung: Bis kurz vor Ablauf der Frist, in der Italien noch eine Änderung des Libyen-Abkommens fordern konnte, erklärte der amtierende Außenminister Di Maio, dass man „natürlich“ eine solche Vertragsänderung fordern werde, im Sinne einer Erklärung der Gegenseite, dass man sich in den Lagern an die Einhaltung der Menschenrechte halte usw. Nichts davon wurde in die Tat umgesetzt.

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