Wir mutieren

Vorbemerkung der Redaktion: Wir veröffentlichen den folgenden Artikel von Paolo Rumiz mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion der Wochenzeitung „der freitag“


Jenseits des Meeres erheben sich die verschneiten Alpen. Ich sehe sie von der Terrasse aus. Es weht ein leichter Wind; seitdem die Welt stillsteht, ist die Luft glasklar. Ich komme mir vor wie auf einem Schiff. Ich habe mich für strenge Klausur entschieden, wie ein Mönch. Nicht nur, weil ich zur Risikogruppe gehöre, ich bin 72, sondern auch, um das Gesetz zu respektieren, mit gutem Beispiel voranzugehen. Ich dachte, ich würde an Klaustrophobie leiden, ich war ja ein Leben lang ein Zugvogel, doch ganz im Gegenteil. Ich entdecke gerade, dass ich von meiner Klosterzelle aus Tausend Dinge sehe, vor allem, weil der Lärm des Alltags verlöscht. Außerdem liegt Triest an der Grenze, und Grenzen sind immer interessant.

Slowenien hat die Grenze geschlossen. Versiegelt. Die Bauern haben sogar die kleineren Grenzübergänge mit Steinen verriegelt. Zum Schutz gegen uns Italiener, die Pestsalber. Ich verstehe sie. Doch es tut mir leid, dass sie sich der Illusion hingeben, man könnte Mikroben mit einem Grenzbalken aufhalten. Für die hiesigen Populisten, die bis gestern eine Mauer errichten wollten, um die Flüchtlinge aufzuhalten, tut es mir nicht leid. Recht geschieht ihnen. Eine armselige Illusion. Eine armselige Imitation des Eisernen Vorhangs, bei dem nicht ganz klar ist, wer wen aussperrt.

Die Grenzstadt Gorizia ist zweigeteilt wie 1945. Die slowenische Polizei und Miliz haben dieselben Posten wie 1991, zu Beginn der jugoslawischen Tragödie, bezogen. Auch die fünfziger Jahre scheinen zurückzukehren. Aber nicht nur der Kalte Krieg. Auch der Erste Weltkrieg. Die alten Schützengräben auf den Hügeln am Isonzo sind ein Beweis dafür, dass sich seit 1915 immer wieder dieselbe Grenze neu bildet. Der Kontinent zerbricht an denselben Stellen.

Wie ein Seismograf vibriert Triest seit jeher entlang der uralten Bruchlinien. In den letzten dreißig Jahren habe ich in meinem Basislager immer im Voraus vom Fall der Mauer, dem Ausbruch des Jugoslawienkriegs, Haiders Populismus und dem Separatismus der Lega im Norden Italiens erfahren. Dann sind die Flüchtlinge gekommen. Jetzt beobachte ich, wie die Schengen-Grenzen und vielleicht auch eine wunderbare, nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Utopie – die EU – Schiffbruch erleiden. Ich hole ein Buch von Christopher Clark, Die Schlafwandler, aus dem Regal. Darin geht es um die Orientierungslosigkeit der europäischen Regierungen, die 1914, vor Ausbruch des Krieges, schlafwandlerisch über ein Seil tanzten. Ich sehe keinen großen Unterschied zu jetzt. Johnson jagt ein ganzes Volk in den Abgrund. In Spanien hat die Partyszene bis gestern wild gefeiert. In Deutschland hat man erst nach dem Fasching über das Virus gesprochen, um die Wirtschaft nicht abzuwürgen, dann wurden nur die kontrolliert, die aus China und Italien einreisten. Na ja.

Es ist absurd, von zu Hause aus die Balkanisierung Europas zu beobachten. Balkanisierung besteht jedoch nicht nur in Krieg und Barbarei. Sie besteht darin, den Idioten einzureden, das Böse komme vom Fremden. Sie besteht in der irrigen Annahme, man sei vor dem Bösen immun, das wir hingegen in uns tragen. Die Tatsache, dass wir uns von jeglicher Schuld freisprechen, ebnet dem Faschismus den Weg. Das ist das Virus, das Jugoslawien verpestet hat, und dasselbe passiert heute. Die Nationen schotten sich ab, anstatt ihre Einheit unter Beweis zu stellen. Überall Riegel und Schlösser. Und keine mächtige, respektgebietende Stimme erhebt sich und sagt: „Meine Herrschaften, das ist unsere Chance, Einheit unter Beweis zu stellen.“ Hölderlin, ein großer Europäer, schrieb: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“.

Also alle in häusliche Quarantäne. Die Italiener gehorchen, die einen aus Angst, die anderen aus Bürgersinn. In Triest sind die Straßen gespenstisch leer, wie bei einem Bombenangriff. Der Zivilschutz scheucht uns mit Megafonen in immer entlegenere Winkel. Düsteres Echo in den Wäldern. Worte wie „Strengstens verboten“ schrecken sogar die Rehe. Ich fürchte, nur die Angst bringt die Menschen dazu, zu verstehen. Jeder, der auf den Straßen unterwegs ist, muss einen Ausweis bei sich tragen, auf dem Ziel und Grund der Fahrt vermerkt sind. Haben wir schon einen Polizeistaat oder werden wir zu einem Volk von Verantwortungsbewussten? Ich frage mich, ob die zügellose Freiheit uns nicht ans Ende der Freiheit bringt.

Doch zumindest haben wir es mit einer begründeten, echten Angst zu tun, einer großen Angst, die alle anderen, flüchtigen und kleinen Ängste fürs Erste verschluckt. Wie die, das Handy zu verlieren. Doch vor allem macht das Coronavirus ein für alle Mal die Lügen des Populismus zunichte. Sollen wir wieder Grenzen errichten? Das Virus pfeift darauf. Sollen die Regionen autonom werden? Genau so ist das Chaos entstanden. Italy first? Jetzt sind wir die letzten. Die Häfen schließen? Jetzt machen sie uns die Häfen vor der Nase zu. Die Gefahr des politischen Islam? Nein, im Augenblick ist China die Gefahr. Ausländer raus? Die Landwirtschaft gesteht, es fehlen 370.000 Tagelöhner, um das BIP aufrechtzuerhalten. Warum nannte niemand davor diese Zahlen? Damit wir uns bei den Immigranten nicht bedanken müssen? Das Ergebnis: Erdbeeren, Kiwi, Spargel verfaulen.

Bitte, nach Ihnen

Ich stelle fest, Berichte über den Alltag sind fast interessanter als Nachrichten über das Virus. Es ist eine persönliche und kollektive Mutation im Gang, an deren Ende wir nicht mehr dieselben sein werden. Ich häute mich, das erkenne ich an den Gedanken, die so schnell sprudeln, dass ich sie fast nicht niederschreiben kann. Mein Geist läuft auf Hochtouren, obwohl ich festsitze. Ich habe schon alle meine Notizbücher vollgeschrieben und kann keine neuen kaufen. Ich verwende alte, bereits beschriebene Blätter, die ich vierteile und auf der Hinterseite vollschreibe.

Meine Lebensgefährtin, die 22 Jahre jünger ist als ich, geht einkaufen. Sie erzählt, sie ist unterwegs nur zwei älteren Personen mit ihren Enkeln, drei türkischen Lkw-Fahrern, einem Chinesen mit Atemschutzmaske und vier Afghanen begegnet. Ein merkwürdiger Bevölkerungsquerschnitt. Bei den Schlangen vor den Supermarktkassen herrscht eine merkwürdige Spannung. Die Angst vor Ansteckung ist greifbar. Man geht nicht gern hinein. Die Menschen kaufen lieber bei kleinen Bäckern, Fischläden, den traditionellen Obstgeschäften, wo man im Freien wartet und die Freundlichkeit (bitte, nach Ihnen) sich automatisch ergibt. Die Megalomanie erweist sich als verletzlich. Die Küche wird derweil zur Schiffskombüse. Wir essen Pasta und Tomatensugo, wie beim Segeln.

Auch der Himmel ist leer. Die wenigen übrig gebliebenen Möwen auf den Straßen im Zentrum schreien vor Hunger. Ohne die Reste der Partyszene drehen sie durch. Sie überschwemmen die Straßen, wie die Affen in Thailand ohne Touristen. Sie hüpfen um die alten Leute mit Einkaufstasche herum. Sie zerfleischen die verhungernden Tauben bei lebendigem Leib. Das reicht wohl, um zu verstehen, wie sehr der Planet aus dem Gleichgewicht ist.

Wir aktivieren die Kontakte mit den Nachbarn. Am Balkon der Wohnung gegenüber singt ein Herr La donna è mobile, zum Beweis, dass Italien zusammenhält. Ich plaudere mit einer Freundin am Balkon links. Wir machen uns jeder einen Kaffee. Sie sagt: „Allmählich denkt man wieder im Sinn des Gemeinwohls, es war höchste Zeit.“ Sie hört gern Radio, zu genau festgelegten Zeiten, wie BBC zu Kriegszeiten. Das Fernsehen macht ihr Angst, zu chaotisch. In Augenblicken wie diesen braucht man nur Worte. Klare, eindeutige Worte.

Wie in ganz Italien bitten auch in Triest Ärzte und Pfleger „ruhiger“ Abteilungen, an die Front versetzt zu werden. Ich habe einige Kriege erlebt und weiß, dass im Krieg die Menschen über sich hinauswachsen. Kompromisslos. Entweder Held oder Feigling. Das geschieht jetzt auch beim Virus. Einerseits die, die den Ruf hören. Auf der anderen Seite die Feiglinge, die Lügner, die Verbreiter von Zwietracht. Viele tolle Menschen halten das Land am Laufen, der Häme der Drückeberger zum Trotz.

Die Welt steht kopf. Ein besorgter Freund ruft aus Afghanistan an. Unsere Freunde in Bosnien leiden mit uns mit. Vor fast dreißig Jahren litten wir mit ihnen. Die Muslimin Amela schreibt: „Kopf hoch, meine italienischen Freunde, ich weiß, ihr gebt nicht klein bei. Liebe erfährt man erst, wenn man Angst um den Nächsten hat. Das ist der Beweis der ursprünglichen Liebe.“ Genau. Man bleibt nicht um seiner selbst willen zu Hause, sondern um die Krankenhäuser frei zu halten und die anderen nicht zu gefährden.

Ich wache auf. Große Stille

Wie viele Nachrichten! Carl Wilhelm aus München teilt mir mit, dass Henning Klüver, ein Hamburger Journalist, in Mailand „Briefe aus der Klausur“ postet. Carlo, ein nach Berlin ausgewanderter Freund, erzählt, dass die Deutschen allmählich von Panik auf Pfeifdrauf umschwenken, doch alle denken: Wir sind ein Volk und gemeinsam schaffen wir es. Esther zieht Individualismus vor und schreibt aus Udine, sie sei glücklich, „ausgerechnet in diesem Augenblick in Italien zu leben“.

Ich wache um drei auf. Große Stille. Wie viel unerwartete Herzlichkeit lag doch in den Nachrichten der letzten Tage! Auch viele alte, schon verloren geglaubte Gesichter tauchten auf. Ja, wir sind all die, die wir geliebt haben. Ich trete auf den Balkon hinaus. Eine leichte Bora weht, trocken und kühl. Seitdem die Industrie stillsteht, ist die Luft sauber. Ich frage mich, was für einen Dreck wir bisher eingeatmet haben. In Neapel sieht man den Vesuv wie nie davor. Im Canal Grande schwimmen wieder die Fische. Wir genesen nicht aus Klugheit, sondern aufgrund eines Traumas, aber egal. Werden wir die Lektion verstehen? Das Schlimmste kommt wahrscheinlich nach dem Virus. Wenn wir feststellen, dass alles weitergeht wie davor. Am Himmel segelt das Mondlicht. Die Plejaden funkeln.

Übersetzung: Karin Fleischanderl