Süditalien: „Ein sozialer Kollaps droht“
„In Süditalien droht ein sozialer Kollaps“ warnte vor einigen Tagen der Minister für den Süden, Giuseppe Provenzano (PD). Die vom Virus verursachte Krise könne sich dort in Wut und gewaltsame Proteste entladen, wenn man nicht schnellstens gegensteuert. Man müsse rasch und unbürokratisch existenzsichernde Instrumente schaffen, um auch diejenigen zu erreichen, die jetzt durch alle Maschen des sozialen Netzes fallen. Es sind im Süden die Millionen, die nur durch Tätigkeiten in der Schattenwirtschaft und in der Schwarzarbeit überleben: illegale Straßenhändler und Parkwächter, Kellner, Gelegenheits- und Hilfsarbeiter. Aber auch schwarz arbeitende Migranten in der Landwirtschaft oder ausländische Putzfrauen und „badanti“ (Altenbetreuerinnen), die von den Familien nicht mehr beschäftigt werden.
Protest explodiert
Die Warnung des Ministers kommt nicht von ungefähr. Vor allem in Kampanien und Sizilien ist in den vergangenen Tagen mehrfach zu Gruppenüberfällen auf Supermärkte gekommen. Die Leute stopfen Einkaufswagen und mitgebrachte Taschen mit Waren voll und gehen ohne zu zahlen an den Kassen vorbei. „Wir haben kein Geld, wir müssen etwas essen!“ rufen sie aufgebracht. Aus Apotheken werden Medikamente entwendet, man reißt Passanten auf der Straße die Einkaufstüten aus der Hand. Im Netz kursieren Aufrufe zu solchen Aktionen, auch von organisierten Gruppen (mit Namen wie „Rivoluzione nazionale“).
In Palermo und anderen Orten sind inzwischen Polizei und Carabinieri vor den Supermärkten postiert. Bürgermeister Leoluca Orlando, der jahrzehntelange Erfahrung mit dem Kampf gegen die Mafia hat und deren Strukturen kennt, berichtet, die organisierte Kriminalität sei bereits dabei – wie in früheren Krisensituationen –, die Fäden des sozialen Protests in die Hand zu nehmen. Besonders denjenigen, die von den staatlichen Hilfen nicht erreicht werden, präsentiert sie sich anstelle des Staates als „Retter in der Not“. Nicht nur Bürgern, sondern auch notleidenden Unternehmen, die sie mit Geldanleihen und leichten Krediten anlockt. Was der Mafia nicht nur Einfluss und Abhängigkeit verschafft, sondern auch die Gelegenheit, auf dieser Weise große Mengen an „schmutzigem Geld“ aus ihren illegalen Geschäften zu waschen.
Palermo ist eine der ersten Städte, die zur Entschärfung der Situation einen kommunalen Unterstützungsfond für einkommenslose Familien eingerichtet hat, die von Wohlfahrtverbänden und Ehrenamtlichen direkt und unbürokratisch mit Lebensmittelpaketen versorgt werden. Einzige Voraussetzung ist, dass die Betroffenen sich in eine Liste für „Zentrale Lebensmittelhilfe“ eintragen lassen. Ca. 2.500 Familien haben bisher davon Gebrauch gemacht.
Regierung plant „Notstandseinkommen“ …
Inzwischen hat die Regierung auf die Alarmrufe der Bürgermeister und Gemeindeverwaltungen reagiert (wozu wohl auch ein interner Bericht der Nachrichtendienste beigetragen hat, in dem vor einer schnellen Eskalation der Proteste gewarnt wird). Eine Soforthilfe in Höhe von 400 Mio. Euro, die Ministerpräsident Conte vor einigen Tagen ankündigte und mit der die Kommunen Lebensmittelgutscheine an bedürftige Familien verteilen können, wird bereits umgesetzt. Außerdem wird die Auszahlung von 4,3 Milliarden aus einem „Solidaritätsfonds“ vorgezogen, die eigentlich erst im Mai starten sollte, um den Gemeinden vor Ort notwendige Anschaffungen zu ermöglichen, die Infrastrukturen zu erhalten oder Gebühren zu kompensieren, die den Bürgern zurzeit erlassen werden.
Angesichts der Dimension des Problems ist dennoch klar, dass diese punktuellen Maßnahmen nicht ausreichen. Das wissen auch die Regierung und die sie tragenden Parteien. Es werden daher verschiedene Optionen geprüft, um allen, die aufgrund der Pandemie in wirtschaftlicher Not sind, für die gesamte Dauer der Korona-Krise eine regelmäßige Unterstützung zukommen zu lassen.
Die derzeit konkreteste Überlegung ist die Schaffung eines „reddito di emergenza“ („Notstandeinkommen“). Dieses würde einerseits die bereits eingeführte Unterstützung in Höhe von 600 Euro ergänzen, die Handwerker, kleine Selbständige, Händler, Kulturschaffende etc. erhalten. Und es würde vor allem diejenigen erreichen, die zurzeit leer ausgehen, weil sie bisher von Schwarzarbeit oder Gelegenheitsjobs ohne Sozialversicherung lebten. Insgesamt wären hierfür ca. 6 Milliarden notwendig.
… ist sich aber uneinig, in welcher Form
Doch innerhalb der Regierungsmehrheit ist man sich über diese Option noch nicht einig. Die 5-Sternebewegung, die mit der PD und LEU die Regierungsmehrheit bildet, favorisiert ein Modell, bei dem die zusätzlichen Zuwendungen in den „reddito di cittadinanza“ (Bürgereinkommen) integriert werden, das auf ihre Initiative zurückgeht: Durch die Einführung leichterer Zugangsvoraussetzungen könne man den Kreis der Berechtigten für das Bürgereinkommen auf weitere Bedürftige erweitern, die darauf bisher keinen Anspruch hatten. Die PD, allen voran Finanzminister Gualtieri, haben sich gegen eine solche – kostspielige – grundsätzliche Reform des Bürgereinkommens ausgesprochen. Sie betonen, es gehe um Übergangsmaßnahmen in einer Ausnahmesituation, und nicht darum, neue Instrumente auf Dauer (und ohne gesicherte Gegenfinanzierung) „auf die Schnelle“ einzuführen.
Eine Art „Mittelweg“ könnte das Maßnahmenbündel darstellen, das vom „Forum Uguaglianza e Diversità“ unter Leitung des ehemaligen Ministers in der Monti-Regierung Fabrizio Barca (PD) und der „Alleanza Italiana per lo Sviluppo Sostenibile“ um den früheren Präsident des Nationalen Statistikinstituts, Enrico Giovannini, vorgeschlagen wird. Dort werden drei Instrumente genannt, die es zum Teil bereits gibt oder zum Teil modifiziert bzw. neu eingeführt werden müssten: 1) Verlängerung des Kurzarbeitergeldes in der von der Regierung beschlossenen Form, das heißt für alle, auch für Unternehmen mit nur einem Beschäftigten; 2) Verlängerung der Zuwendung für kleine Selbstständige, die bisher „una tantum“ ausgezahlt wurde, auf die gesamte Dauer der Corona-Krise, und zwar nicht begrenzt auf 600 Euro, sondern in der Höhe abhängig von der wirtschaftlichen Familiensituation und vom realen Einkommenverlust; und 3) Änderung des bestehenden Bürgereinkommens in ein – zeitlich begrenztes – Notstandseinkommen, bei der die Antragsstellung radikal vereinfacht wird und Regelungen weggefallen, die bisher den Bezug erschweren: z. B. das Anrechnen des Besitzes von Immobilien und Ersparnissen und die Verpflichtung, angebotene Beschäftigungen anzunehmen (die es derzeit sowieso kaum gibt).
Ein Problem hat die Regierung schon jetzt vor Augen: Wenn Unterstützungen zeitlich begrenzt und später bei der Rückkehr zur „Normalität“ wieder gestrichen werden, muss mit Unmut und Protesten seitens der Betroffenen gerechnet werden. Denn jedermann weiß, dass nach der Krise vor der Krise sein wird. Die sogenannte Normalität wird mit einer tiefen Rezession und wachsender Armut einhergehen, der Druck auf den Staat, diese sozial abzupuffern, wird steigen, statt zurückzugehen.
Noch konnte die Regierung sich auf keine der diskutierten Varianten einigen. Doch die Zeit drängt, die rechte Opposition nutzt die sozialen Spannungen für Angriffe auf die Regierung und – was noch wesentlicher ist – die Lage der bedürftigen Familien wird von Tag zu Tag prekärer. Spätestens bis Mitte April wird mit einer Entscheidung gerechnet.