Aufgeschobene Entscheidung
„In Zukunft wird es ein sozialeres Europa geben – oder keines mehr“, kommentierte Manfred Schwab unseren letzten Artikel. Er hat Recht, aber ein solidarischeres Europa kann offenbar nur unter Qualen geboren werden. Was am Abend des 9. April von den Finanzministern der Eurozone ausgehandelt wurde, war nicht der große Durchbruch. Aber es gab zumindest doch noch eine Einigung, die den Ländern die Hoffnung auf ein solches Europa lässt und in der Zwischenzeit ein paar konkrete Hilfen bietet. Aber noch steht es auf wackligen Füßen.
Denn die Corona-Krise treibt die Interessen eher auseinander. Es ist zwar absehbar, dass die europäischen Ökonomien schwer angeschlagen aus der Corona-Krise hervorgehen werden, und dass die Staaten zu ihrer Erholung viel Geld investieren müssen. Für die ökonomisch schwächeren Ländern des europäischen „Südens“ beginnt hier das Problem: Besorgen sie sich die nötigen Anleihen auf den internationalen Finanzmärkten, bedeutet dies für sie besonders hohe Zinsen und damit ein Dilemma: Entweder sie investieren weniger als die anderen, oder sie verschulden sich noch tiefer. Die sozialdarwinistische Wirkung des Finanzkapitalismus hätte freie Bahn: Starke Länder (wie Deutschland) würden noch stärker, schwache (wie Italien) noch schwächer. Wer sich schon vorher hoch verschuldet hat, dessen Lage würde sich zusätzlich verdüstern. Kommentar der Holländer in Bezug auf Italien: selbst schuld. Kommentar der Italiener: Mag sein, aber den Virus haben wir nicht verschuldet.
Die Ausgangspositionen
Entsprechend unterschiedlich waren vor der Konferenz die Ausgangspositionen. Der „Süden“, den dabei auch einige mitteleuropäische Länder unterstützten, verwies auf den Anspruch der EU, eine Solidargemeinschaft zu sein, in deren Interesse nicht die ökonomische Zerstörung einiger ihrer Mitgliedsländer liegen könne. Und zog daraus eine Folgerung, den viele europafreundliche Ökonomen (auch aus Deutschland) teilen: dass dann wenigstens die Schulden, welche demnächst die Länder zum Wiederaufbau nach der Corona-Krise machen müssten, den schwächeren von ihnen keine größere Zinslast aufbürden dürfe. Die einmalige Emission gemeinsamer „Coronabonds“, für die alle Länder der Eurozone haften, würde zu Zinsen führen, die dem heutigen europäischen Mittel entsprechen, d. h. etwas höher als die Zinsen, die heute Holland oder Deutschland zahlen müsste, aber deutlich niedriger als die Zinsen, die heute Italien zahlen müsste (nach Rechnung des Finanzexperten Alessandro Penati müsste es, wenn es heute allein antritt, für eine 50 Mrd.-Anleihe über 30 Jahre 2,54 % Zinsen bezahlen, während für Coronabonds 1,1 % Zinsen nötig wären – wenig mehr, als was heute Deutschland dafür zahlen müsste). Aber weniger als diese Differenz dürfte es die Demagogie der heimischen Rechtspopulisten sein, die Holland und in dessen Kielwasser Deutschland, Österreich und Finnland an dem Dogma festhalten ließ, dass es in Europa auf keinen Fall zu einer „Vergemeinschaftung der Schulden“ kommen dürfe.
Was die Nordkoalition stattdessen anbieten wollte, war die Reaktivierung des „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM), den die EU 2011 vereinbart und 2012 ratifiziert hatte. Er sollte Staaten, die in eine finanzielle Krise geraten, mit Krediten und Bürgschaften unter die Arme greifen. Wenn die Länder des „Südens“ jetzt in dieser Reaktivierung eine Provokation sehen, dann weil es die Corona-Krise, die alle Länder erfasst hat, mit der Finanzkrise eines einzelnen Landes gleichsetze, die dadurch verfügbaren Mittel viel zu gering seien und es den Ländern den Zugriff auf ESM-Mittel bisher nur dann erlaube, wenn sie bereit waren, sich auf von Brüssel diktierte Strukturreformen und ein Regime strenger Austerität einzulassen. Italien hat Erfahrungen mit solchen Auflagen, die dort vor allem den Rechtspopulismus gestärkt haben, mit indirekten Auswirkungen auch auf die heutige Regierungspolitik. So dass Conte seinen Finanzminister mit einem Veto gegen den ESM in die Verhandlungen schickte. Also Veto gegen Veto, hier gegen die MES, dort gegen die Eurobonds, war die Ausgangsposition.
Das vorläufige Ergebnis
Das Ergebnis ist, wie oft in der Politik, halb Problemverschiebung, halb Kompromiss. Die Entscheidung über die strittigste Frage – die Coronabonds – wurde verschoben: auf die Ebene der Regierungschefs und die nächsten Monate. Dass zur Finanzierung des Wiederaufbaus ein gemeinsamer „Fonds“ nötig sei, war Konsens, aber mit welchen Mitteln und zu welchen Bedingungen, blieb offen. Hier könnten auch „innovative Finanzierungsformen“ geprüft werden, sagt die Abschlusserklärung, und dies war wohl die Voraussetzung dafür, dass ihr die italienische Seite zustimmte, weil sie darin den Ansatzpunkt sieht, um die Coronabonds wieder ins Gespräch zu bringen. Aber da Holland und Deutschland zugleich verhinderten, dass dieses Wort überhaupt erwähnt wurde, ist Streit weiterhin vorprogrammiert.
Was hingegen kurzfristig zugesagt wurde:
- Die Europäische Investitionsbank EIB, das Förderinstitut der EU, ermöglicht durch Bürgschaften bis zu 200 Mrd. Euro die Vergabe von Krediten an kleine und mittlere Unternehmen – wofür die Mitgliedsstaaten 25 Mrd. Euro an Garantien zur Verfügung stellen müssen;
- die EU-Kommission stellt 100 Mrd. Euro für (in 10 Jahren zurückzahlbare) Darlehen bereit, damit die Staaten in der Krise Kurzarbeitergeld zahlen können – auch hierfür müssen die Mitgliedsstaaten 25 Mrd. Garantien aufbringen;
- der Euro-Rettungsschirm ESM setzt bis zu 240 Mrd. Euro ein, um den Einzelstaaten Kreditlinien von bis zu 2 % ihres BSP zu bieten, samt der Lockung, dass dieses Geld schon in zwei Wochen verfügbar wäre. Mit der Neuerung, dass dies nicht mehr an die Bedingungen Austerität und Strukturreformen geknüpft ist, sondern nur noch mit der Einschränkung, dass die Darlehen allein für „direkte und indirekte“ Kosten der Pandemie auszugeben sind. Die Hoffnung, dass das Wörtchen „indirekt“ doch eine Hintertür zur Finanzierung von Konjunkturpakete öffnen könne, ist jedoch illusionär. Der Anteil, der für Italien von den 240 Mrd. abfallen könnte, ist aufgrund der 2 %-Regel des BSP auf höchstens 37 Mrd. begrenzt – für das Gesundheitswesen wäre es sicherlich mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, aber für die erwartbaren Kosten eines Post-Corona- Konjunkturprogramms viel zu wenig.
Nachwirkungen
Der Streit hat schon begonnen, und zwar auf vielen Ebenen. Dass Salvini und Co. nur mit Häme auf die nicht durchgesetzten Corona-Bonds verweisen würden, war zu erwarten. Aber der Streit setzt sich in der Regierungskoalition fort und nimmt dort teilweise irrationale Züge an: Vertreter der 5SB mit Di Maio an der Spitze wollen unbedingt an ihrer bisherigen Parole ESM-Nie! festhalten und werfen Finanzminister Gualtieri (PD) vor, nicht konsequent genug gegen das ESM verhandelt zu haben. Dass er etwas viel Intelligenteres tat, nämlich dem ESM die Zähne der Austerity zu ziehen, und dass unter dieser Voraussetzung andere Regierungen durchaus bereit sind, das darin steckende Angebot zu akzeptieren, nehmen sie nicht zur Kenntnis. Wohl aus Loyalität zu Di Maio hat sich auch Conte von dieser Irrationalität anstecken lassen, indem er Gualtieri inzwischen erklären ließ, dass Italien nur um Coronabonds kämpfe und von dem ESM-Angebot keinen Gebrauch machen wolle. Dass dieses Angebot die gemeinschaftliche Finanzierung eines Wiederaufbauprogramms nicht ersetzen kann, ist unbestritten. Aber es deshalb auch zur Finanzierung der Pandemie-Kosten abzulehnen, ist kindischer Trotz, der vor allem Italien schadet. Plötzlich ließ Conte auch noch verlauten, bei der nächsten Videokonferenz der Regierungschefs am 23. April vielleicht seine Unterschrift unter das Verhandlungsergebnis vom Gründonnerstag zu verweigern: „Ich werde nichts unterschrieben, solange ich nicht über einen Fächer von Instrumenten verfüge, um der gegenwärtigen auf angemessene Weise begegnen zu können“. Er scheint hoch pokern zu wollen, um den Druck aufrecht zu erhalten.
Eine Nachbemerkung zur Rolle Deutschlands. Am Vorabend der Videokonferenz der Finanzminister schrieb Timothy Garton Ash in der „Repubblica“, dass sich jetzt Angela Merkel die „unerwartete letzte Gelegenheit“ biete, „in die Geschichte als die Erbauerin einer stärkeren europäischen Gemeinschaft einzugehen“. Und zitiert Bismarck, der den richtigen Staatsmenschen (Bismarck sagte noch: Staatsmann) daran erkannte, dass er den „Saum des Mantels der Geschichte“ ergreift, wenn er vorbeigeht. Angela Merkel hat dazu noch ein paar Monate Zeit. Aber wird sie zupacken? Sie müsste über ihren Schatten springen.