Um uns vom Virus zu befreien, müssen wir die Migranten legalisieren
Es charakterisiert den kulturellen Wandel Italiens, dass man den Anspruch der Migranten auf Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit nicht mehr mit ihrem Menschenrecht begründen kann, sondern dafür den Umweg über das italienische Eigeninteresse braucht: Ein Land, das sich vom Corona-Virus befreien wolle, dürfe sich keine Ghettos leisten, in denen sich das Virus ungehemmt ausbreiten und aus denen die Pandemie jederzeit wieder hervorbrechen könne.
Dabei schien sich Italien in den letzten Jahrzehnten häuslich in einer manichäischen 2-Klassen-Gesellschaft einzurichten, die die von Marx analysierte Klassenstruktur noch einmal unterläuft: hier die autochthone Mehrheitsbevölkerung im Zustand der „Legalität“, die allen Klassen und Schichten zumindest formal Bürgerrechte zugesteht, dort Hunderttausende von Parias im Graubereich zwischen Legalität und Illegalität, die wie bei den alten Griechen die Sklavenarbeiten verrichten und deren Gesamtzahl in Italien auf über 3 Millionen geschätzt wird. Mit ihnen lebte (bis heute) das Land in vielfacher Komplizenschaft: Beispielsweise in der Landwirtschaft gibt es viele Kleinbauern und Genossenschaften nur noch deshalb, weil sie im Frühjahr und Sommer eine Viertelmillion Saisonarbeiter, die überwiegend „irregulär“ aus Osteuropa, Ostasien und Nordafrika kommen, fast zum Nulltarif anheuern können. Und das italienische Bürgertum löst die Probleme seines Alterns dadurch, dass es sich aus Polen, Rumänien, von den Philippinen oder sonst woher eine Million billiger Haushaltshilfen („colf“) und Altenpflegerinnen (‚“badanti“) in die Häuser holt. An diesem Zustand änderte sich lange wenig, obwohl die Linke ein paar halbherzige Anläufe zur Verbesserung ihres Status und ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen unternahm.
Die Lage spitzte sich zu, als die Flüchtlinge über das Mittelmeer kamen. Da Europa Italien mit diesem Problem allein ließ, machte die Lega ihr politisches Glück mit der Dramatisierung der von ihnen ausgehenden Gefahr und dem Versprechen, das Land vor ihrer „Invasion“ zu „retten“. Ihre identitäre Demagogie führte nicht nur zur Schließung der Häfen, sondern wirkte sich indirekt auch auf die Menschen mit ausländischen Wurzeln aus, die längst in Italien leben oder dort sogar geboren sind. Plötzlich erklärte auch die 5-Sterne-Bewegung ihre Einbürgerung für „inopportun“, „Bürgerwehren“ machten Jagd auf sie, und Salvini konnte als Innenminister sogar den Gebrauch von Schusswaffen gegen sie liberalisieren. Dass Italien trotzdem „Ausländer“ braucht, steht damit nicht im Widerspruch, denn es hat ja die (perverse) Funktionalität, die benötigten Arbeitskräfte im Zustand permanenter Abhängigkeit und Angst zu halten.
Nun gibt die Corona-Krise dem Legalisierungsthema eine neue Wendung, denn es liegt nicht einmal im Interesse überzeugter Lega-Anhänger, dass die Tomaten, die auf ihre Esstische kommen, von virusverseuchten Händen gepflückt wurden. Welche Folgerungen daraus zu ziehen sind, darüber beginnt jetzt die parlamentarische Diskussion. Salvini weiß schon die Antwort: Er meint, die Arbeit, die bisher ausländische Saisonarbeiter leisteten, könnten doch auch Italienern machen, „die wegen des Virus ihre Arbeit verlieren“. Das folgt zwar dem Grundsatz „Prima gli italiani“, aber verkennt den wahren Grund, warum es an autochthonen Saisonarbeitern mangelt: Von den Einheimischen will niemand mehr die mörderische Arbeit in der glühenden Sonne auf den Feldern und in den Gewächshäusern für ein paar Euro am Tag machen. Dass Salvini trotzdem an seinem Nein zur Legalisierung festhält, obwohl er damit auch die autochthone Bevölkerung einer zusaätzlichen Gefährdung aussetzt, ist pure Ideologie.
Der Autor des Artikels, den wir im Folgenden auszugsweise übersetzen und der am 16. April in der „Repubblica“ unter der obiger Überschrift erschien, ist Tito Boeri, Professor für Ökonomie, der bis 2018 der Chef des „Nationalen Instituts für Sozialfürsorge“ (INPS) war, bis er von der Di Maio-Salvini-Koalition seines Postens enthoben wurde.
„Covid19 ist keine demokratische Krankheit. Sie verbreitet sich besonders leicht zwischen denen, die eng Seite an Seite mit anderen arbeiten und zur Fortbewegung auf überfüllte öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind. In 9 von zehn Fällen sind es Personen mit einem mittleren oder niedrigen Bildungsabschluss. Covid19 ist auch keine souveränistische Krankheit. Sie überschreitet geschlossene Grenzen und macht unsere Gesundheit von jedem abhängig, der an uns vorbeigeht – von wegen „Herr im eigenen Haus“! Das Virus haben uns nicht in Sizilien gelandete Flüchtlingsboote gebracht. Wir sind es, die es in die nordafrikanischen Länder exportierten.
Wenn wir uns nun wirklich von diesem vermaledeiten Virus befreien wollen, müssen wir nolens volens die Migranten legalisieren, die in unserem Land leben. Und zwar nicht nur die, die in der Landwirtschaft arbeiten, sondern alle. Und nicht aus humanitären Gründen, sondern allein schon um zum Überleben das Territorialgebiet zu kontrollieren.
Es gibt immer mehr Migranten, die sich in der Mailänder Notaufnahme mit Covid19-Symptomen melden. Das Virus verbreitet sich in den besetzten Häusern und in den von Salvini gewollten Massenunterkünften, wo man sich besonders leicht ansteckt. Ähnliches geschieht in New York, wo Daten über die Ansteckung nach Anmeldebezirken verfügbar sind. Auch die strengsten Abstandsvorschriften, die uns zum monatelangen Verbleib in unseren Wohnungen verpflichten, können nicht verhindern, dass sich Leute anstecken, die über keinen separierten Privatraum verfügen und mit anderen Menschen auf wenigen Quadratmetern zusammenleben – mit häufig wechselnden Mitbewohnern, deren Kontakte und Bewegungen nicht kontrollierbar sind.
Die Menschen zu Hause einschließen nützt nichts bei denen, die sich nirgends absondern können. Das erklärt auch, warum das Sinken der Ansteckungen nach dem Erreichen des Höchststands gerade in Großstädten wie Mailand so langsam vonstatten geht, wo es Ghetto-Stadtviertel gibt und hinter jeder Ecke die Gefahr einer zweiten Welle lauert.
Wir können das Problem weiter ignorieren. Wir können weiter die Augen verschließen und keine Daten darüber erheben, wo die Angesteckten wohnten und wo sie tätig waren (unglaublich eigentlich, dass unsere Akten über die Entlassung aus den Krankenhäusern auch zwei Monate nach Epidemiebeginn solche Daten immer noch nicht enthalten). Wie in der Lombardei können wir darauf warten, dass die Erkrankten von selbst in die Krankenhäuser kommen, statt sie aufzusuchen und von ihren Mitbewohnern zu isolieren. Aber dann muss uns bewusst sein, dass wir unsere eigenen hausgemachten Infektionsherde züchten. Von wegen „Zweite Phase“! Wir laufen Gefahr, in den Alptraum dieser Monate zurückzufallen.
Die Migranten ohne rechtliche Aufenthaltstitel sind inzwischen mehr als 650.000 geworden, erst dank der Angst vor den Populisten und dann der Populisten selbst, die über zehn Jahre lang die legale Einreise von Menschen verhinderten, die von den italienischen Familien und Unternehmen dringend gebraucht werden. Sie leben in viel größerer Promiskuität als die übrigen Migranten, weil sie weniger verdienen und keine Mietverträge unterschreiben dürfen. Während nur einer von hundert Italienern mit Menschen zusammenlebt, die nicht zu seiner Familie gehören, so ist es bei illegalen Migranten einer von dreien. Wenn man sie in Interviews danach fragt, erklären sie, sie gingen nie zu einem Arzt, weil sie Angst vor der Abschiebung haben. Wenn überhaupt gehen sie, falls es nicht anders mehr geht, zur Notaufnahme – nachdem sie schon wer weiß wie viele angesteckt haben. Und nehmen wir auch mal an, man wolle sie abschieben: so gelingt auch das nicht. Nicht mal Salvini schaffte es, der in seiner Zeit als Innenminister sein Scheitern bei den Abschiebungen dadurch kaschierte, dass er von der ministerialen Internetseite die entsprechenden Zahlen entfernen ließ. Wir werden es auch jetzt nicht schaffen, wo die Grenzen geschlossen sind.
Der Kampf gegen das Coronavirus wird oft als Gegensatz zu den Erfordernissen der Wirtschaft gesehen. Im Fall der Legalisierung der bei uns lebenden Migranten würden wirtschaftliche und gesundheitliche Gesichtspunkte übereinstimmen. In der Landwirtschaft fehlen derzeit 250.000 Arbeitskräfte, da die ausländischen Saisonarbeiter ihre Herkunftsländer nicht verlassen dürfen. Ab nächster Woche besteht die Gefahr, dass ganze Ernten vernichtet werden müssen.“
(In Boeris Artikel folgt noch ein detaillierter Vorschlag, wie in Italien bei den Migranten der Übergang von der Schwarzarbeit in die Legalität technisch und unter Einbeziehung ihrer bisherigen Arbeitgeber organisiert werden könnte. Das zu erreichende Ziel wäre es, dass der bisherige Schwarzarbeiter „als regulär anerkannt wird und eine begrenzte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erhält“ und so wie alle anderen Arbeitnehmer Zugang zu den Sozialleistungen erhält, welche die Regierung in ihren letzten Dekreten im Kontext der Corona-Krise beschlossen hat. Untersuchungen über frühere Legalisierungen ausländischer Arbeitskräfte zeigten, „dass die legalisierten Arbeitnehmer noch 5 Jahre später ihre Beiträge entrichten. Auch diese könnten helfen, den Schuldenberg zu reduzieren, der auf unseren Schultern lasten wird, wenn der Coronavirus erst einmal bezwungen ist.“)