Contes Recovery-Plan
Vorbemerkung der Redaktion: Am 27. Mai 2020 schrieb Ministerpräsident Conte einigen italienischen Tageszeitungen einen Brief, in dem er die Grundzüge des Plans darlegt, für den er in Italien die zu erwartenden EU-Hilfen verwenden will. Wir übersetzen ihn im Folgenden fast ungekürzt. Es ist ein Eckpunkte-Papier, das vieles nur grob umreißt, und einige Hinweise auf bereits getätigte Maßnahmen wie „ACE“ und „Unternehmen 4.0“ werden den meisten deutschen Lesern unverständlich bleiben. Trotzdem wird aus diesem Brief die Absicht deutlich, nun endlich die italienische Wachstumskrise als zentrales Problem in Angriff zu nehmen. Was nicht zu dem üblichen Vorurteil passt, dass in Italien die europäischen Hilfen nur für populistische Wohltaten verprasst würden. Bemerkenswert ist auch, dass der Plan offenbar voraussetzt, dass die gegenwärtige Regierung noch Zeit bis zum Ende der Legislaturperiode hat. Angesichts der Flügelkämpfe in der 5-Sterne-Bewegung und der Profilneurose von Renzis Italia Viva verrät dies einigen Optimismus.
„Es sind wichtige Tage. Der europäische Interventionsplan ist dabei, endgültig Gestalt anzunehmen. Heute (Mittwoch, 27. Mai) wird die Europäische Kommission ihren Vorschlag für einen Recovery Plan vorstellen. Italien muss sich für diese Verabredung bereit zeigen. Es muss seinen eigenen Wiederaufbau programmieren und einen „strategischen Plan“ entwickeln, der die verfügbaren europäischen Fonds nutzt, um die Basis für einen neuen Pakt zwischen den produktiven und den gesellschaftlichen Akteuren unseres Landes zu legen. Der Moment ist gekommen, um den Kopf zu heben und den Blick auf die Zukunft zu richten. Wenn wir uns auf diese Perspektive mit Mut und Weitsicht einlassen, werden wir aus dieser Krise eine Chance machen. Es müssen einige wichtige Schritte getan werden, um beim wirtschaftlichen Wachstum und bei der Produktivität den Rückstand gegenüber den anderen europäischen Ländern aufzuholen, der vor allem in den vergangenen zwanzig Jahren unsere Entwicklung charakterisierte.
A) Wir arbeiten an der Modernisierung des Landes. Wir werden Anreize zur Digitalisierung, zur elektronischen Zahlungweise und Innovation schaffen. Wir müssen die Verbreitung der digitalen Identität voranbringen, die Vernetzung öffentlicher Datenbanken fördern und ein Programm zur Realisierung des Breitbandes im ganzen Land auflegen. Die gegenwärtige Krise hat uns zum smart working und zur digitalen Didaktik in einem Moment gezwungen, in dem wir darauf noch nicht vorbereitet waren. Wir müssen das Positive aus dieser Erfahrung nutzen und einen Gesamtplan in Angriff nehmen, um die digitale Disparität zu überwinden, so dass allen Orten und Einkommen der Zugang zu den neuen Technologien ermöglicht wird.
B) Wir müssen die Instrumente zur Kapitalisierung und Konsolidierung der Unternehmen vervielfachen, damit der Wiederaufbau der Produktionsketten unterstützt wird, besonders bei denjenigen, die am meisten unter der Krise gelitten haben. Wir müssen die Innovationen der start ups fördern und bereits mit Erfolg erprobte Maßnahmen – wie ACE und „Unternehmen 4.0“ – ausbauen und strukturell werden lassen.
C) Eine gezielte Aktion zum Wiederbeginn öffentlicher und privater Investitionen und zu einer drastischen Entbürokratisierung ist notwendig. Wir werden die europäischen Ressourcen nutzen können, um die strategische Infrastruktur des Landes zu stärken, beginnend mit den großen digitalen Netzen und den Versorgungsnetzen mit Wasser und Energie. Die öffentlichen Projekte sind wieder in Gang zu setzen, auch mit zeitlich begrenzten normativen Maßnahmen, an denen die Regierung bereits arbeitet. Gegen den Appetit der kriminellen Organisationen werden wir weiterhin auf Legalität und Kontrollen achten, aber werden die Genehmigungsverfahren und -wege beschleunigen müssen. Wir werden zu Maßnahmen greifen, die für die öffentliche Verwaltung eine kulturelle Revolution bedeuten. Auch wenn die Beamten weiterhin zu Strenge und Transparenz verpflichtet sind, müssen sie angereizt werden, die entsprechende Verantwortung zu übernehmen. Wir wollen erreichen, dass ehrliche Beamten nicht mehr durch ausufernde juristische Grauzonen belastet werden, indem wir z. B. das Vergehen des Amtsmissbrauchs und die finanzielle Verantwortung genauer umschreiben.
D) Wir brauchen den schrittweisen, aber entschlossenen Übergang zu einer nachhaltigen Ökonomie, die in unserem Land mit neuen Formen der territorialen Förderung und des Schutzes von Landschaft und Kultur verbunden werden muss. Der energetische Wandel bleibt eine italienische und europäische Priorität: Vielleicht finden wir einen Impfstoff gegen den Virus, aber mit Sicherheit keinen gegen den Klimawandel.
E) Wir müssen eine große Investition in das Recht auf Studium und die Erneuerung des Bildungsangebots tätigen, so dass Italien beim Punkt junge Leute mit Universitätsabschluss einen europäischen Spitzenplatz einnimmt. Diese Maßnahmen sind mit einem großen öffentlich/privaten Forschungsplan zu den Zukunftsaufgaben zu verbinden: digitale Technologien, ökologischer Wandel, personalisierte Medizin, soziale Inklusion und Wohlfahrt, um wieder die Wettbewerbsfähigkeit unseres ökonomischen und sozialen Systems zu stärken und neue start up- und spin-off-Unternehmen zu schaffen.
F) Es ist notwendig, die straf- und zivilrechtlichen Verfahren zu beschleunigen. Das bürgerliche Gesetzbuch stammt aus dem Jahr 1942, ohne dass es in der gesamten Folgezeit zu einer organischen Reform kam. Alle drei diesbezüglichen Reformprojekte liegen jetzt im Parlament. Ich schlage allen parlamentarischen Fraktionen vor, sich schleunigst mit ihnen zu beschäftigen. Wir können das Gesellschaftsrecht verbessern, wenn wir schlankere und effizientere Governance-Modelle einführen, die unser juristisches System wettbewerbsfähiger machen und eine größere Anziehungskraft auf italienische und ausländische Investoren entwickeln.
G) Wir werden eine wirkliche Steuerreform machen. Eine ungerechte und ineffiziente Besteuerung können wir uns nicht mehr erlauben. Die gegenwärtigen steuerlichen Bestimmungen stellen ein undurchschaubares Labyrinth dar. Seit fünfzig Jahren hat es keine strukturelle Reform gegeben, stattdessen hat man auf Einzelmaßnahmen gesetzt, die zu Doppelungen und Komplikationen führten. Wir müssen den Mut haben, das System der Steuererleichterungen neu zu ordnen: Die Gerechtigkeit und Progression des Steuersystems hängen auch von dieser Entscheidung ab. Wir müssen Klarheit schaffen über den Unterschied zwischen Schulden, die erstattungsfähig sind, und denen, die es nicht sind, um die Steuergerechtigkeit transparenter machen.
Diese Maßnahmen werden ein tragendes Element unseres Recovery Plans sein.“
Das ist ein außerordentlich bemerkenswertes Programm, vor allem auch ein politisches Dokument, fast ein Bekenntnis.
Hier werden nicht der Euro, nicht Brüssel, nicht die expansive deutsche Ökonomie, nicht die Globalisierung, sondern die inneren Strukturdefizite Italiens, der Ökonomie, vor allem auch der Politik der „vergangenen zwanzig Jahre“, der verlorenen Jahre, die selbstverschuldete Stagnation, und der Rückfall gegenüber den anderen Ländern der EU vom italienischen Regierungschef als das eigentliche Problem Italiens anerkannt.
Sehr viele der genannten Probleme lassen sich nicht – auch das macht er sehr deutlich – allein durch mehr Geld aus Brüssel, sondern vor allem durch grundlegende innere Reformen lösen. Der Text betont, dass Italien nicht vorbereitet war, um auf eine Krise dieses Ausmaßes angemessen reagieren zu können. Es geht Conte also um eine „recovery“, die weit über die Folgen der aktuellen Corona-bedingten Krise hinausgeht.
Es werden die Defizite thematisiert, die distanzierte in- und ausländische Beobachter schon seit Jahren benannt haben:
– mangelnde Produktivität der Wirtschaft, Kapitalschwäche vieler Untenehmen, Rückstände bei der Digitalisierung, Investitions- und Innovationsschwäche, unzureichende Vernetzung zwischen den Unternehmen;
– defizitäre Infrastruktur, Mängel im Bildungswesen, Notwendigkeit einer „kulturellen Revolution“ in der öffentlichen Verwaltung, Notwendigkeit einer Justizreform und des Steuersystems.
Contes Text macht klar, dass er einen engen Zusammenhang sieht zwischen der Wirtschaftsschwäche und einem jahrzehntelangen Versagen des italienischen Staates und der Politik. Der Ministerpräsident beschreibt eine politische Mammutaufgabe, deren Umsetzung mehrere Legislaturperioden beanspruchen dürfte.
Die offene Frage ist, ob die labile Koalition und das politische System insgesamt dazu in der Lage sein werden. Wird die aus den Strukturdefiziten herrührende überdurchschnittliche Betroffenheit Italiens von der Pandemie der Gesellschaft und der Politik die Augen öffnen und die Bereitschaft wachsen lassen, diese grundlegenden Reformen anzugehen bzw. zu akzeptieren, auch wenn sie nicht die unmittelbaren Folgen für die Bevölkerung in den Mittelpunkt stellen? Oder gelingt es Salvini, die aktuellen Einkommenseinbrüche, die wachsende Armut und Arbeitslosigkeit für ein come back zu instrumentalisieren?