Zweiter Juni: Versuch einer Bemächtigung
Der zweite Juni ist in Italien Nationalfeiertag, man feiert das „Fest der Republik“. Seine Herkunft verliert sich fast in grauer Vorzeit, denn bis zum Ende des Faschismus wurde an diesem Tag die Einigung Italiens im 19. Jahrhundert gefeiert. Dann wurde das Referendum auf den 2. Juni 1946 gelegt, das entscheiden sollte, ob aus der italienischen Monarchie eine Republik wurde. Die Abstimmung, an der sich 89 % der Wahlberechtigten beteiligten, zeigte allerdings, dass das Land immer noch gespalten war. Im Norden war eine Zweidrittelmehrheit dafür, im Süden eine fast ebenso große Mehrheit (63,8%) dagegen, so dass die Zustimmung, die in der Summe herauskam, nicht gerade überwältigend war: 12,7 Millionen dafür, 10,7 Millionen dagegen. Nicht weniger wichtig – in jedem Fall aber überfälliger – war die Entscheidung, auch die Frauen, die bis dahin nur das kommunale Wahlrecht hatten, am Referendum teilnehmen zu lassen. Die sich dann auch gleich an der parallel laufenden Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung beteiligen konnten, deren Ergebnis, die italienische Verfassung, Ende 1947 verabschiedet wurde und die am 1. Januar 1948 in Kraft trat.
Seitdem ist der 2. Juni das „Fest der Republik“ und der Tag der Institutionen: Die öffentlichen Gebäude sind beflaggt, die Polizei- und Militärorchester spielen, das Militär paradiert (was diesmal coronabedingt ausfiel), eine Kunstflugstaffel malt die Trikolore in den Himmel (was nicht ausfiel). Es ist der Tag des Staatspräsidenten, der Reden hält, die Nation zur Einheit und zum Respekt vor den Institutionen aufruft, und in Rom am Grab des unbekannten Soldaten auf der Piazza Venezia die Schleifen eines riesigen Kranzes ordnet.
Versuch eines Tabubruchs
So war es bisher: Im offiziellen Teil viel Zeremoniell und gepflegte Langeweile, und für die meisten italienischen Familien, zumindest wenn der 2. auf einen Arbeitstag fiel, einfach ein Feiertag mehr, den man vielleicht nutzen kann, um mit Hilfe von ein paar „Brückentagen“ einen kleinen Sonderurlaub am Meer oder in den Bergen herauszuschlagen.
So war es diesmal nicht. Das Land versucht den Lockdown des Corona-Virus hinter sich zu lassen, die Auflagen werden gelockert, und Salvini, der schon unter Entzugserscheinungen litt, weil er ein paar Monate lang nicht mehr im Zentrum der medialen Öffentlichkeit stand, hatte eine Idee, die seinen Sinn für Symbolik zeigt: Die Rechte sollte den 2. Juni für einen großen Aufmarsch nutzen, der sich gegen die amtierende Regierung richtet. Das war zwar ein Tabubruch, denn bisher ging es an diesem Tag um die Einheit der Nation und die Republik als Staatsform. Aber da es der Anspruch der von Salvini geführten Rechten ist, nicht nur dem Volk „seine Stimme wiederzugeben“, sondern es auch als einzige zu repräsentieren, war es aus seiner Perspektive nur folgerichtig, nun auch den 2. Juni für sich zu fordern.
Um den Anspruch auch symbolisch zu unterstreichen, hatten sich er, der Lega-Chef, und Giorgia Meloni, die Chefin der postfaschistischen Fratelli d’Italia, eine Neuerung ausgedacht, die auf den ersten Blick harmlos erscheinen mag, bei Licht betrachtet aber eine Provokation war: Zwei Stunden, nachdem der offizielle Akt mit Mattarella am Grab des Unbekannten Soldaten stattgefunden hatte, wollten auch sie dort ihren Kranz niederlegen. Die Medien hätten dann zeigen können, wie die beiden Führer der Rechten in Demut verharren, wo eben noch der Staatspräsident stand. Es wäre ein kleiner Zwischenschritt auf dem Weg zur Macht gewesen (man weiß, dass ihnen die Prärogative des Staatspräsidenten ein Dorn im Auge sind, hat er ihnen doch beispielsweise vor einem Jahr die geforderten Neuwahlen verweigert). Aber leider war auch das genehmigungspflichtig, und zwar vom Verteidigungsministerium, das Giorgia Meloni (die den Antrag unterschrieben hatte) nur kühl antwortete, dass die Genehmigung „aus technischen Gründen“ nicht möglich sei.
Auftritt des rechten „Volks“
Aber die Kranzniederlegung war nicht die einzige Karte, welche die Rechte an diesem Tag ausspielen konnte. Sie hat ja noch ihr „Volk“. Was bedeutet, dass sie an diesem 2. Juni von der Leine ließ, was man euphemistisch die „gesamte Rechte“ nennen könnte, um sich an diesem Tag, an dem ihr außer dem Staatspräsidenten niemand entgegentrat, in ganzer Schönheit zu zeigen.
Da waren zunächst die Vertreter des parlamentarischen Rechtsblocks, die am Vormittag in ganz Italien zu Kundgebungen gegen die Regierung aufgerufen hatten, mit der zentralen Demonstration im römischen Zentrum. Natürlich waren in Rom Salvini und Meloni dabei, und sie schleppten als Dritten im Bunde Tajani mit, den Vize-Chef von Berlusconis geschrumpfter Forza Italia. Als Symbol ihres Anspruchs auf Führung und Vertretung der gesamten Nation hatten sie eine gigantische Trikolore anfertigen lassen, die angeblich einen halben Kilometer lang war und die römische Flanierstraße, den Corso, durch den der Demonstrationszug führte, auch in der Breite völlig ausfüllte. Womit schon mal die Demonstration gerettet war, weil auf beiden Seiten zumindest 300 Leute nötig waren, um sie überhaupt zu halten (von 300 Teilnehmern hatte Meloni auch geredet, als sie die Demonstration anmeldete, da immer noch die strengen coronabedingten Auflagen galten). Aber 5000 sollen es dann doch geworden sein, die abwechselnd „elezioni, elezioni“ und „Conte, Conte, vaffanculo“ schrien. Die Faschisten der Casa Pound zeigten ihre Präsenz durch Atemschutzmasken in den Farben der Trikolore (Salvini trug eine von ihnen).
Aber von der gesamten Rechten kamen noch mehr. Um 14 Uhr übernahmen ungefähr 1000 „Orangene Westen“ die Piazza del Popolo. Es waren die Anhänger von Antonio Pappalardo, der pensioniert ist, aber „General“ genannt wird, weil er sich bei den Carabinieri bis zum Brigadegeneral hochdiente. Für ihn sind die französischen Gelbwesten das Vorbild für die Revolte, auf die er auch in Italien hofft. Seine Spezialität sind Verschwörungstheorien, seine Anhänger Träger des entsprechenden überlegenen Wissens. Die Impfpflicht zum Beispiel sei der Versuch, eine neue Nazi-Diktatur über das Land zu errichten, und das Corona-Virus eine terroristische Erfindung („hat es von euch schon jemand gesehen?“ Antwort: „No!“). Gegen all das will der General den Italienern „die Freiheit“ bringen (tausend schreien „Libertà!“). Sein Volk, verspricht er, wird die Paläste der Politik leeren und alle nach Hause schicken, „natürlich im Guten“, aber „auch Mattarella“. Einer brüllt: „Bei dem hat die Mafia den falschen Bruder erledigt!“ (Mattarellas Bruder brachte 1980 die Cosa Nostra um). Seit Pappalardo ein paar Tage zuvor in Mailand eine gut besuchte Kundgebung zustande gebracht hatte, ist er für die Führer der „traditionellen“ Rechten interessant geworden. Salvini, der immer noch davon träumt, der Regierung den definitiven „Rammstoß“ („spallata“) zu verpassen, bereitet seine nächsten Wahlkampfeinsätze vor. Vielleicht sollte man den „General“ und seine Truppen in die regionalen Wahlbündnisse aufnehmen, mit ein paar Sitzen als Gegenleistung?
Rechte in Gärung
Die Stimmung auf der Rechten ist wie vor einer Entscheidungsschlacht, sie mobilisiert auch Kräfte, die sich bislang aus der „großen Politik“ raushielten. Sogar die Hooligans, die bisher vor allem durch Schlägereien und rassistische und homophobe Stadionchöre auffielen, verlassen die Stadien und erfinden sich als politische Partei. Am Samstag nach dem 2. Juni versammelten sich ihre aus ganz Italien kommenden Abordnungen am römischen „Circo massimo“. Sie trafen sich dort mit ausgewiesenen Faschisten von Casa Pound, Forza Nuova, Rivolta Nazionale und verkündeten „Kampfbereitschaft“. “Duce“-Rufe und der faschistische Gruß gehörten zum Ritual, Journalisten wurden gejagt. Salvini war nicht dabei, aber pflegt die Verbindung. Grenzziehungen sind dieser Rechten fremd, wenn Salvinis Führungsrolle anerkannt wird. Und dessen Vorbild ist Viktor Orban.
Die „Sardinen“ sind aus dem öffentlichen Raum weitgehend verschwunden. In das Vakuum, das sie hinterließen und das auch die Regierungsparteien nicht füllen konnten, stößt wieder eine Rechte, in der sich Rassisten, Faschisten und Verschwörungstheoretiker tummeln. Die Vernunft verschanzt sich in den Palästen und hofft, dass sie sich auch an den Wahlurnen durchsetzt.