Was wurde aus den „Sardinen“?

Mitte Dezember begrüßten wir sie als „Weihnachtswunder“ („Die Sardinen schwärmen aus“). Zwar wussten auch wir, dass es neben dem Volk, das den Rattenfängern nachläuft, noch ein anderes Italien gibt: den Kosmos (meist jugendlicher) Ehrenamtlicher, die sich sozial im In- und Ausland engagieren und von den Rechtspopulisten als „buonisti“ („Gutmenschen“) verhöhnt werden. In der politischen Öffentlichkeit schien dieses andere Italien verstummt zu sein, was den Nationalisten und Souveränisten einen Durchmarsch gestattete, der ganz Europa zu zerstören drohte. Bis im vergangenen Herbst drei Studienfreunde aus Bologna die Idee hatten, bei der Regionalwahl in der Emilia Romagna, die Salvini selbst zur „Schicksalswahl“ erklärt hatte, mehr Demonstranten als er auf die Beine zu bringen. Woraus eine Bewegung wurde, die Hunderttausende mobilisierte und Salvini die Wahl verlieren ließ. Da begann auch unsere Phantasie zu arbeiten: Waren die „Sardinen“ nicht eine Bewegung „von unten“, die mit Frische und moralischer Unbedingtheit sozialpolitische Forderungen vertrat, die richtig waren, beginnend mit der Abschaffung von Salvinis Sicherheitsgesetzen? Und die sich deshalb als ideale Ergänzung einer überalterten politischen Linken anbot, deren zentrale Formation, die PD, den Kontakt zur Jugend und zum „Territorium“ weitgehend verloren hat und sich in Taktiererei, Spaltungen und allzu oft auch in der Korruption verloren hat?

Wie weiter nach den Erfolgen des Anfangs?

Aber so sehr man sich über diese „ideale Ergänzung“ freuen konnte, so unklar war, wie es weitergehen sollte. Dass Salvinis Siegeszug erst einmal gestoppt war, konnte noch nicht alles sein, zur römischen Kundgebung vom 14. 12. kamen 100.000 Menschen. Die 5-Sterne-Bewegung schmollte über die neue Konkurrenz, aber Conte und die PD-Führung erklärten, sich „gern“ mit Vertretern der „Sardinen“ treffen  zu wollen. Die Hoffnung, aus Italien könne wieder ein Land werden, in dem die Menschenrechte regierten, schien begründet.

Aber dazu musste das politische Profil der Bewegung weiter geschärft werden – es reicht nicht, nur gegen Salvini und den Faschismus zu sein. Die Organisation muss strukturierter werden. Eine schlichter Masseneintritt der „Sardinen“ in die PD hätte zu einer Totgeburt geführt – die PD-Führung ist sich zwar bewusst, dass sich die Partei in einer Krise befindet, aber ist bei der Frage nach der Konsequenz bisher nicht über die rhetorische Forderung ihrer eigenen „Neugründung“ hinausgekommen. Und so willkommen ihr die Hilfe in der Emilia Romagna war, so klar musste ihr auch sein, dass sie sich den „Sardinen“ nur behutsam nähern durfte. Denn es war allzu offensichtlich, dass deren Erfolg zwei Wurzeln hat: zum einen ihre klare Stoßrichtung gegen Faschismus und Rechtspopulismus, zum anderen aber auch den Willen zum Selbsttun, zur unmittelbaren Partizipation. Wer bei den „Sardinen“ mitmacht, erwartet einen autonomen Handlungsraum, in dem nichts „von oben“ vorgeschrieben wird.

Dies belastete schon ihr Verhältnis zur eigenen informellen Führung, die bei Mattia Sartori lag, aber bisher nur dadurch legitimiert war, dass er einer der Gründerväter der „Sardinen“ ist und dass die Medien vor allem ihn als Sprecher suchten. Es musste aber auch die Transformation der Bewegung in eine eigenständige Partei bremsen, auch wenn ein großer Teil der Aktivisten schon in diese Richtung drängt. Erst recht schloss es die Unterordnung unter eine schon bestehende Organisation wie die PD aus, auch wenn sie die Mehrheit der Sardinen im Vergleich zu den Rechtsparteien und der 5SB als das kleinere Übel sieht. Santori war klug genug, beides auszuschließen, auch wenn er die „Vorläufigkeit“ dieser Entscheidung betonte. Dass aber auch in dieser Nicht-Entscheidung ein Problem liegt, wurde bald klar. Denn was solche Bewegungen vorantreibt, ist ja nicht nur moralischer Rigorismus einerseits und politischer Gestaltungswille andererseits, sondern auch die Spannung zwischen beiden. Es ist nicht immer das beste Rezept, die Bearbeitung dieser Spannung hinauszuschieben.

Sündenfall in Treviso

Ende Januar geschah, was Santori mittlerweile seinen „Fehler“ nennt: Er ließ sich und die Mitstreiter aus seiner Bologna-Zeit in ein privates Kultur- und Kreativzentrum in Treviso einladen, um sich mit dort geförderten Jugendlichen zu treffen. Eine Initiative, die unter „gut gemeint“ verbucht werden könnte, wenn sie nicht ein paar tiefschwarze Schönheitsflecken gehabt hätte: Der einladende Fotograf Oliviero Toscani war eng mit der Benetton-Familie verbandelt und hatte für sie schon umstrittene Werbekampagnen organisiert; das Zentrum gehört den Benettons; und schließlich ist die Benetton-Familie über die Holding Atlantia für 3100 Km mautpflichtige Autobahnen zuständig, unter anderem auch für die Morandi-Brücke bei Genua, deren Einsturz im August 2018 43 Menschen in den Tod riss. Auch wenn die Schuldfrage gerichtlich noch nicht endgültig geklärt wurde, ist ganz Italien wohl mit Recht überzeugt, dass die Benetton-Familie eine erhebliche Mitverantwortung trägt.

Das „Erinnerungsfoto“ von Treviso

Von dem Treffen in Treviso wurden „Erinnerungsfotos“ gemacht, die die lächelnden Sardinen-Führer außer mit den Jugendlichen und Oliviero Toscano auch mit dem Patriarchen Luciano Benetton zeigen. Was nicht nur Salvini, die rechten Skandalblätter und die sozialen Medien zu der Behauptung nutzten, dass sich nun zeige, dass die „Sardinen“ zu einer „linken Schickeria“ gehören, die über Leichen geht, sondern was auch innerhalb der „Sardinen“ heftige Reaktionen auslöste.

Suche nach eigener Identität 

Ob Santoris inzwischen erfolgtes Eingeständnis, hier einen „Fehler“ gemacht zu haben, die Sardinen wieder zur alten Schlagkraft zurückfinden lässt, muss sich noch zeigen. Denn bevor der Streit ausgetragen werden konnte, brach ein noch größeres Unglück über sie herein: die Corona-Krise. Sie musste die „Sardinen“ ins Herz treffen, da ihnen das Versammlungsverbot, das Anfang März auf ganz Italien ausgedehnt wurde, noch mehr als anderen politischen Akteuren die bisherige Geschäftsgrundlage entzog. Worauf Mattia Santori der Bewegung erst einmal eine „Reflexionspause“ verordnete.

Die Anzeichen mehren sich, dass sie jetzt zu Ende geht. Am 7. Juni wagten die „Sardinen“ einen ersten Anlauf: eine Solidaritätskundgebung für George Floyd, die in Rom ein paar tausend Teilnehmer auf die Beine brachte. Am 14. Juni veröffentlichte die linkskatholische Zeitschrift „Avvenire“ ein Interview mit Santori, in dem er nicht den Eindruck macht, sich aufs Altenteil zurückziehen zu wollen. Das Schwergewicht ihres Handelns sollten die Sardinen in der nächsten Phase darauf legen, die „Einheit des progressiven Lagers“ durch die Konzentration auf  „die ethische und kulturelle Dimension der Politik“ voranzubringen. Auf dieser Linie scheinen sich die „Sardinen“ in die bevorstehenden Regionalwahlen einbringen zu wollen, auf die sich Salvini in der Hoffnung vorbereitet, nun endlich doch noch zu seiner „Spallata“ (Rammstoß) gegen die römische Regierung zu kommen. Das Verhältnis der Sardinen zur PD charakterisiert Santori dadurch, „dass wir uns Kämpfe erlauben können…, für die Zingaretti und die PD zu ängstlich sind“, und meint damit die Seenotrettung und das Einbürgerungsrecht.

Die „Sardinen“ bleiben notwendig. Für die Linke wäre es eine Falle, wenn sie sich von den Rechtspopulisten in die Paläste und in die Wahlkabinen zurückdrängen lassen würde.