Ein Versprechen der PD, das verraten wurde

Vorbemerkung der Redaktion: Am 16. Juli bestätigte die italienische Abgeordnetenkammer mit überwältigender Mehrheit, was 9 Tage zuvor auch schon der Senat beschlossen hatte: Die Finanzierung der libyschen Küstenwache durch Italien wird fortgesetzt. Dies geschah – wohl nicht ganz absichtslos – in einem Moment, in dem sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf anderes konzentrierte: die Brüsseler Verhandlungen über den Recovery fund. Denn das Thema „libysche Küstenwache“ ist heikel: Da inzwischen bekannt ist, dass hinter ihr verbrecherische Milizen stehen, die eng mit dem libyschen Lager-System verflochten sind, heißt dies: Italien will Libyen auch weiterhin zum Auffangbecken für Migranten machen, zu Bedingungen, die allen Menschenrechten Hohn sprechen. Roberto Saviano schrieb dazu am 17  Juli in der „Repubblica“ einen leidenschaftlichen Kommentar, den wir im Folgenden (fast ungekürzt) übersetzen. Er ist in erster Linie an Nicola Zingaretti adressiert, den Generalsekretär der Partei, die im politischen Spektrum Italiens noch am ehesten für das Thema Menschenrechte ansprechbar sein müsste, aber hier schon lange vor dem Problem steht, Rhetorik und politische Praxis zur Deckung zu bringen. Denn es war der ehemalige PD-Innenminister Minniti, der 2017 (mit Zustimmung Europas) die Grundlage zu dem italienisch-libyschen Abkommen legte. Dass der jetzigen Abkommensverlängerung die italienische Rechte und die meisten Abgeordneten der 5SB Beifall zollten, ist nicht verwunderlich. Verwunderlich ist jedoch, dass sich dem auch die Mehrheit der PD-Abgeordneten anschloss. Denn sie tat es unter Missachtung dessen, was die 1000-köpfige „Nationalversammlung“ der PD, eines ihrer höchsten Beschlussorgane, im Februar 2020 einstimmig gefordert hatte: die ersatzlose Kündigung des Abkommens. Saviano hat eine „realpolitische“Erklärung: die Parteinahme im libyschen Bürgerkrieg für den in Tripolis residierenden und von der Türkei unterstützten Machthaber El-Sarraj und gegen den von Russland unterstützten General Haftar, und der damit verbundene Versuch, im internationalen Machtpoker um Libyen im Spiel zu bleiben, um die italienischen Interessen in Libyen (u. a. Öl und Erdgas) zu verteidigen. Das sind Teilwahrheiten, die aber nicht den Hauptgrund verdecken, den Saviano ebenfalls andeutet: die Angst vor Salvini, dessen Demagogie die Aufkündigung des Libyen-Abkommens neue Nahrung geben könnte. An diesem Punkt schießt Saviano allerdings über das Ziel hinaus, wenn er meint,  dass die „Guten“ (die PD), „selbst Salvini werden, um das Land nicht Salvini zu überlassen.“ Es ist ein alter Fehler der radikalen italienischen Linken: politisch Nahestehenden, deren Opportunismus man zu Recht kritisiert, undifferenziert mit dem ultrarechten Hauptgegner gleichzusetzen, zu dem es angeblich keine Unterschiede mehr gibt. Zur Erklärung des Kommentars von Saviano, den er unter dem obigen Titel veröffentlichte: Die anfangs erwähnte „im Mittelmeer treibende Leiche“ verweist auf das Foto einer in den letzten Wochen im Meer treibenden toten Flüchtlings, der nicht geborgen wurde, aber auch nicht unterging, weil sich die Leiche in den Resten eines havarierten Schlauchbootes verhakt hatte. „Alan Kurdi“ ist der Name des 2-jährigen syrisch-kurdischen Jungens, dessen Leiche im September 2015 an der türkischen Mittelmeerküste angeschwemmt wurde und dessen Foto durch die ganze Welt ging. „Die roten Fingernägel“ einer im September 2019 geretteten „Josefa“ wurden in den rechten Medien als Beweis dafür gehandelt, dass ihre Rettung aus dem Meer getürkt sei. Bis sich herausstellte, dass ihr Besatzungsmitglieder ihres Rettungsschiffs die Fingernägel lackiert hatten, in der Hoffnung, sie damit aus dem Schockzustand nach ihrer Rettung herausholen zu können.

„Am Tag der Empörung über das Foto, das wieder eine im Mittelmeer treibende  Leiche zeigt, hätte uns der PD-Generalsekretär erklären müssen, warum die Minister seiner Partei  den Beschluss der nationalen PD-Versammlung gegen die Weiterfinanzierung der libyschen Folterknechte missachtet (Saviano schreibt: ‚verraten‘) haben – eine Erklärung, auf die wir in Wahrheit schon lange warten. Denn der damalige Beschluss hatte sich einstimmig für das Ende jeder weiteren Finanzierung der libyschen Küstenwache ausgesprochen, worin wir eine wichtige Abweichung von dem Kurs sahen, der von Berlusconi über Minniti bis zu den Grausamkeiten der gelbgrünen Regierungskoalition führt (Koalitionsregierung von 5SB und Lega, A.d.R.). Vorher verfolgte die PD eine Migrationspolitik, welche die NGOs kriminalisiert, eine eigene libysche SAR-Zone anerkennt (die Zone, in dem Libyen für ‚Search and Rescue‘ zuständig ist, A.d.R.) und Libyen zu einem sicheren Ort erklärt, noch nie in Frage gestellt; so dass der Beschluss der Nationalversammlung vom vergangenen Februar einen echten Kurswechsel darstellte, der allerdings inzwischen schon wieder verraten wurde.

Aber dies wird nur ein weiterer Tag der Empörung gewesen sein. An dem man sich mit einem Kommentar das Gewissen reinwäscht. Ein weiterer Tag des Grauens: ein Mensch, ein Migrant, der wochenlang im Mittelmeer treibt und der für einen Traum starb, der für uns Wirklichkeit ist: Europa. Vor ihm kamen schon Tausende, Alan Kurdi, dann Josefa und die Frau mit dem Kind, die neben ihr gestorben waren, als sie selbst lebend und unter Schock stehend gerettet wurde. Erinnert ihr euch an die kleinen Schuhe von Alan und die roten Fingernägel von Josefa? Details, die benutzt wurden, um glauben zu machen, dass hier etwas ins Szene gesetzt wurde. Ich vergesse nicht das Grauendieser Toten, ich vergesse nicht die grauenvollen Lügen,aber auch nicht das grauenhafte Schweigen derjenigen, die sich zwar als „Gute‘ präsentieren, aber unseren Gemeinsinn mit dem Argument, dass ‚wir dies Land nicht Salvini überlassen dürfen‘, immer weiter nach rechts verschieben: Um das Land nicht Salvini zu überlassen, sind sie selbstSalvini geworden. Wie lange werden unsere Empörung und unser Leiden wegen dieser neuen Leiche anhalten? Vielleicht noch bis morgen, aber dann? Ich meine, dass jetzt der Moment gekommen ist, um den Verantwortlichen für diesen Horror ein Gesicht zu geben, dessen ohnmächtige Zeugen wir und ebenso ohnmächtige Opfer Tausende sind. Aber unsere Ohnmacht ist nichts im Vergleich zu dem Preis, den die Opfer zahlen müssen, um sich einen menschlichen Wunsch zu erfüllen:  den Wunsch, Hunger, Krieg, Gewalt, Diskriminierung zz überleben. Den Preis, den sie bezahlen, um die Flucht aus den libyschen Gefängnislagern zu versuchen, die Papst Franziskus ‚Lager‘ (Saviano benutzt hier das deutsche Wort, A.d.R.) nannte. Woran alle erinnert werden sollten, die jetzt Kreuze und Heiligenbilder küssen, die Bibel schwenken und sich Christen oder Christinnen nennen.

Für diese Tragödie haben wir einen ganzen Pantheon von Verantwortlichen, und der Moment ist gekommen, um in ihn auch den Generalsekretär der Demokratischen Partei Nicola Zingaretti aufzunehmen. Unter seiner Führung hat die PD im Ministerrat die Fortsetzung der Finanzierung der libyschen Küstenwache beschlossen, also der Henkersknechtedes Menschen, dessen Leiche im Meer trieb (und von Tausenden anderer Ertrunkener, zu denen auch viele, sehr viele Jugendliche gehören), oder die Menschenhändler, die wir finanzieren, damit sie Verzweifelte foltern, einkerkern und von ihnen Geld erpressen. Die Nationalversammlung hat sich einstimmig gegen deren Weiterfinanzierung ausgesprochen, und das erst vor 5 Monaten. Noch sind auf der PD-Seite in Balkengröße die Überschriften zu lesen: ‚Die PD-Nationalversammlung fasst zu Libyen einen einstimmigen Beschluss‘. Ist dann nicht uch die Frage erlaubt, warum die PD im Ministerrat nicht dem Geist dieser Beschlüsse folgt?

Was zählt also die PD-Nationalversammlung? Nichts? Wir haben es schon befürchtet, aber jetzt haben wir den endgültigen Beweis. Aber noch einmal die Frage an den Generalsekretär, ich schreie sie: Warum haben die Minister Ihrer Partei diesen Beschluss verraten?

Werden die libyschen Herkersknechte vielleicht deshalb finanziert, um am libyschen Bürgerkrieg teilzunehmen? Soll es unser Faustpfand in einem Land sein, aus dessen Machtspielen und Entscheidungen wir ausgeschlossen sind? Dann sage man dies offen, aber nicht so: verhüllend, lügend, durch Verrat und geopferte Menschenleben.

Wenn wir uns in einigen Jahren Filme und Erzählungen über den libyschen Bürgerkrieg ansehen und anhören werden – wie es mit den nazistischen Lagern, den sowjetischen Gulags, den kambodschanischen Lagern, den Stadien von Pinochet geschah -, dann werden wir uns daran erinnern müssen, dass es auch für den heutigen Horror Verantwortliche gab.

Den ‚Meeres-Taxis‘ von Luigi Di Maio oder den ‚Kreuzfahrtschiffen‘ von Matteo Salvini muss ich wohl nichts hinzufügen, außer eines: Die Bestialität Di Maios oder Salvinis darf nicht zum Vorwand derer werden, welche die Menschenrechte als Banner schwenken, aber in Wahrheit die gleiche Verantwortung haben …

Ihr Schweigen, Generalsekretär Zingaretti, zu den Gründen Ihres Jas zur Weiterfinanzierung der libyschen Henkersknechte kann nicht toleriert werden, genausowenig wie hinzunehmen ist, dass ein Generalsekretär nicht dafür sorgt, dass ein Beschluss der Nationalversammlung seiner Partei respektiert wird. Zwischen der gelbgrünen und  der gelbroten Regierung (also „Conte 1“ und „Conte 2″, A.d.R.), gibt es keinen Unterschied, wenn nicht das menschliche Leben im Mittelpunkt steht, sondern eine schurkische Politik, die Italien auf die gleiche Stufe wie die von ihm finanzierten Kriminellen im Mittelmeer stellt. Eine Schmutzarbeit, um ein kleines Stückchen Einfluss zu behalten. Was hier geschehen ist, Generalsekretär Zingaretti, scheint Ihnen vielleicht eine Randnotizzu sein, die man heute noch verstecken kann. Aber es wird morgen eine Verantwortung sein, der Sie nicht mehr entkommen werden.“

Ein Kommentar

  • Manfred Schwab

    Ein starkes Plädoyer für die Menschlichkeit. Können die PD und der persönlich angesprochene Generalsekretär es sich leisten, nicht darauf zu reagieren? Möglicherweise werden ja noch weitere Gründe für die Missachtung dieses Parteibeschlusses geltend gemacht. Etwa, mit der Weiterfinanzierung seien irgendwelche konkreten politisch-humanitären Einflussmöglichkeiten auf Küstenwache und Lager in Libyien verbunden. Jedoch meist standen hinter angeblich humanitären Interventionen in Bürgerkriegsländern unverkennbar Öl-Interessen.

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