Italien nach den Brüsseler Beschlüssen
Den Zweifel, ob Austerität das richtige Konzept ist, um Europa zukunftsfähig zu machen, gab es schon lange. Dann erwies sich der Grundsatz, dass jedes Land erst Ordnung in der eigenen Wohnung schaffen solle, bevor man das gemeinsame Haus weiterbauen könne, zunehmend als Falle. Italien zeigte es: Die Wirtschaft stagnierte, die Kluft zwischen dem Süden und dem Norden Europas wurde immer größer, und die Verschuldung, die als Ursache allen Übels ausgemacht worden war, wuchs trotzdem weiter. Mit der politischen Folge, dass zumindest in Italien nicht die Reformkräfte, die den Süden vielleicht wieder auf einen Wachstumspfad bringen könnten, Zulauf hatten, sondern die Souveränisten, deren Heilsversprechen ein neuer mit sozialpolitischen Placebos versüßter Nationalismus ist.
Das Ironische ist, dass es erst einer von einer Pandemie ausgelösten Krise der gesamten Weltwirtschaft bedurfte, damit die EU die Kraft zu einem Befreiungsschlag fand, der aus dieser Falle herausführen könnte. Ein Befreiungsschlag mit Risiken, denn erstens muss das Experiment gelingen, die durch den Corona-Virus verursachte ökonomische Krise durch ein massives deficit spending aufzufangen, und zweitens soll dies in einem Europa gelingen, das noch über keine gemeinsame Finanz-, Wirtschafts- und Haushaltspolitik verfügt und immer wieder in seine Bestandteile zu zerfallen droht.
Erste Reaktionen
Als am vergangenen Mittwoch die Ergebnisse des Brüsseler Gipfels bekannt wurden, gab es einen Moment, in dem in der italienischen Öffentlichkeit einfach nur das freudige Erstaunen überwog. Zwar hatte der ursprüngliche Vorschlag der EU-Kommission, den Conte zu verteidigen suchte, aufgrund des Einspruchs der „Frugalen“ ein paar Federn lassen müssen – der Teil der gemeinsam aufzubringenden Gesamtsumme, der den Südländern als verlorene Zuschüsse zur Verfügung gestellt werden sollte, war etwas kleiner geworden. Aber dies wurde kompensiert durch das Gewicht der Milliarden, die nun plötzlich so oder so zur Verfügung zu stehen scheinen: 209 Milliarden sollen es allein für Italien sein, von denen 70 % in den kommenden zwei Jahren auszugeben sind, und zwar im Unterschied zu früher unabhängig davon, ob dies die Gesamtverschuldung des Landes weiter erhöht oder nicht.
Da die Mittelvergabe projektgebunden sein wird, es aber die italienische Regierung entgegen dem Rat der Experten versäumte, schon vor der Brüsseler Entscheidung ein konkretes Reformprogramm auszuarbeiten, das mehr als nebulöse Absichtserklärungen bot, wurde aus der Freude schnell ein Gewirr von Einzelvorschlägen, wie der zu erwartende Geldsegen zu verteilen sei. Wie ein Orchester, das sich in der misstönenden Phase befindet, in der jeder sein Instrument stimmt, kamen Tausende von Einzelwünschen: Die Gewerkschaften fordern Lohnerhöhungen für alle und kündigen gleich die entsprechende Mobilisierung an; die Regionen wollen ihren Anteil; die Unternehmensverbände befürworten Steuersenkungen (beginnend mit der sofortigen Wiederabschaffung der lästigen Plastik- und Getränkesteuern); eine feministische PD-Abgeordnete macht es sich besonders einfach und will „die Hälfte für die Frauen“. Und dann kamen noch die Ministerien: Das eine will das Nord-Süd-Gefälle, das andere überfüllte Schulklassen angehen, das dritte das Kindergeld erhöhen, das vierte die „grüne Wende“ vorbereiten. Während die rechte Opposition, auch mit Blick auf die bevorstehenden Regionalwahlen, wieder ihr altes Schlachtross aus dem Stall holt, mit dem sie schon viele Wahlen gewann: Nun sei endlich die Gelegenheit zu radikalen Steuersenkungen.
Gestaltung statt Viktimismus
Ein Potpourri von Wünschen, in dem vor allem eines fehlt: ein Gesamtkonzept, das verhindert, dass Italien in den nächsten Jahren zu einem Milliardengrab wird, aber letztlich doch alles beim Alten bleibt. An Ermahnungen in dieser Richtung fehlt es auch in Italien nicht, z. B. wenn die Ökonomen Tito Boeri und Roberto Perotti am 24. 7. in der „Repubblica“ die italienische Neigung zum „Viktimismus“ geißeln, der in der „harten“ Haltung Hollands und anderer „frugaler“ Länder nur Hartherzigkeit sieht. Und die daran erinnern, dass es in Europa reale Erfahrungen mit vergangener italienischer Leichtfertigkeit in Haushaltsfragen gibt, und dass hinter der holländischen Haltung auch ein großer Teil der dortigen öffentlichen Meinung steht. Um schließlich prosaisch darauf hinzuweisen, dass noch alle nationalen Parlamente der beteiligten EU-Länder den Brüsseler Ergebnissen zustimmen müssten. Dass Italien schon einen Nationalen Reformplan verabschiedet habe, ihn aber wegen seiner Wolkigkeit noch nicht nach Brüssel geschickt habe, sei da kein ermutigendes Zeichen – bevor man Geld fordere, müsse man wissen, wofür man es braucht.
Am gleichen Tag meldet sich auch der Ökonom und alte „Europäer“ Romano Prodi zu Wort, der nach dem Gesamtkonzept fragt, mit dem Italien seine Zukunftsaufgaben anpacken will – eine implizite Ansprache an die Adresse der Souveränisten, die dem Land einen Sonderweg außerhalb Europas verordnen wollen: Europa sei nun einmal der wichtigste Absatzmarkt für Italien, das seine Probleme nur auf europäischer Ebene lösen könne. Um hier seinen wachsenden Rückstand aufzuholen, müsse Italien wieder auf den Wachstumspfad kommen, wofür das Haupthindernis nicht die zu hohen Arbeitskosten seien, denn diese lägen schon jetzt unter den Arbeitskosten in den Vergleichsländern. Seien sie die Hauptursache, wäre nicht zu erklären, warum Unternehmen wie Toyota oder Tesla ihre neue Produktion von E-Autos in Frankreich oder Deutschland und nicht in Italien ansiedeln. Vielmehr seien es institutionelle und bürokratische Hindernisse, die hier zur unüberwindlichen Barriere würden, ebenso wie die unzureichende Ausbildung vieler Arbeitskräfte, die Unterkapitalisierung der Unternehmen und die zu geringen in Innovationen gesteckten Ressourcen. Hier könne der Staat wichtige Impulse setzen, indem er sich wieder um die lange vernachlässigten Infrastrukturen kümmert, von den Verkehrswegen über das Internet bis zum Schul- und Gesundheitswesen, und durch den Einstieg in eine konsequentere Umweltpolitik. „Ohne radikale Reformen auf all diesen Gebieten wird unsere Verschuldung wachsen, aber sich unsere Rolle in der Welt weiter verringern“.
Politische Auswirkungen
Auch politisch haben die Brüsseler Beschlüsse einiges in Bewegung gesetzt. Schon bei der Verwendung der Mittel, welche die EU jetzt zur Bewältigung der ökonomischen Krise bereitstellt, kann es weder darum gehen, die Lobbies zu bedienen, die sich am lautesten melden, noch wieder zum status quo ante zurückzukehren. Sie bedarf der politischen Gestaltung, sprich eines Konzepts, mitsamt einer entsprechenden Steuerung, und schließlich des Dirigenten. Da Conte in den letzten Monaten wegen der Spannungen in der Koalition immer häufiger als potenzieller Rücktrittskandidat gehandelt worden war, hat das Brüsseler Ergebnis seine Stellung gestärkt, da es in Italien vor allem als sein Erfolg verbucht wird. Was ihm bei der Frage, wer die Verwendung der Gelder künftig steuern soll, einen Startvorteil verschafft: Er wird versuchen, die Fäden in der Hand zu halten, und damit auch der Frage nach einem baldigen Rücktritt den Boden entziehen. Klugerweise versucht er nun, Teile der Opposition einzubeziehen: In beiden Kammern sollen Kommissionen für die Verwendung der Mittel des Recovery funds eingerichtet werden, und in der Abgeordneten-Kammer wird sogar einem Berlusconi-Mann (Brunetta) angeboten, den Vorsitz zu übernehmen. Das muss Contes Bewegungsfreiheit nicht unbedingt einengen, wie das Beispiel der ESM-Mittel zeigt. Denn da es die 5-Sterne-Bewegung bisher fast zur Identitätsfrage machte, sie nicht anzurühren, war die Regierung in diesem Punkt zur Handlungsunfähigkeit verdammt. Die Berlusconi-Truppe könnte Bewegung in die erstarrten Fronten bringen, da sie hier eine pragmatische Position zwischen den Fronten einnimmt: Einerseits beteuert sie ihre Treue zur rechten Einheitsfront bei den anstehenden Regionalwahlen, stimmt aber anderseits auch immer öfter mit der regierenden Koalition, wenn es für diese um die Existenz geht (bei Neuwahlen könnte Berlusconis Forza Italia nur verlieren). Mit einer solchen Schaukelpolitik, so scheint sich Berlusconi zu schmeicheln, spielt er zumindest als Strippenzieher noch eine Rolle in der Politik.
Wen vorerst das politische Glück verlassen hat, ist Salvini. Erst verpokert er sich bei der Durchsetzung von Neuwahlen, dann stiehlt ihm das Corona-Virus die Schau, und nun schüttet auch noch die EU ihren Geldsegen über Italien aus. Neben den Flüchtlingen war Europa das zweite Feindbild, das seiner Demagogie Halt und Struktur gab. Das sich nun plötzlich in Luft auflöst. Während sich um ihn herum alle Welt mit der Frage zu beschäftigen beginnt, was von den Brüsseler Sternentalern in ihre Schürze fallen wird, erscheint er am Morgen danach in der Abgeordnetenkammer mit der Feststellung, dass dies doch alles nur „ein Beschiss (sei), besser gesagt ein Superbeschiss“ („una fregatura grossa come una casa! Anzi, una superfregatura!“). Um dann noch hinzuzufügen, dass dieses „Geld erst in einem Jahr kommt, wo wir es doch sofort brauchen“. Was eher nach Hilflosikeit klang, zumal sein holländischer Gesinnungsgenosse Geert Wilders gerade die fast gegenteilige Sichtweise twitterte: „390 Milliarden Euro Zuschüsse für Südeuropa… Wahnsinn! Milliarden weggeschmissen, die wir im eigenen Land ausgeben müssten!“
Eines ist klar, und dies zeigt auch das Beispiel Italiens: Die Brüsseler Beschlüsse sind der Beginn eines teuren Experiments mit ungewissem Ausgang. Wenn es gelingt, kann es Europa einen großen Schritt voranbringen. Wenn es misslingt, fällt Europa in die Stagnation zurück. Die ersten Reaktionen aus Italien zeigen, dass beide Möglichkeiten immer noch real sind.