Hinkender Fortschritt
Mitten im August, wo sich jeder richtige Italiener zumindest ein paar Tage Urlaub am Meer oder in den Bergen leistet, hat die 5-Sterne-Bewegung ihre schon etwas angerostete Superwaffe aus dem Keller geholt, die digitale Demokratie, um ihre Mitglieder über zwei Fragen abstimmen zu lassen:
- ob in Zukunft die Regel gelockert werden soll, dass kein Repräsentant der 5SB öfter als zweimal ein gewähltes Amt ausüben darf;
- und ob es in Zukunft für die 5SB möglich sein soll, bei kommunalen und regionalen Wahlen nicht nur mit Bürgerlisten, sondern auch mit traditionellen Parteien Wahlbündnisse einzugehen.
Knapp 50.000 beteiligten sich an der Online-Abstimmung, von denen 80 % der ersten und 60 % der zweiten Frage zustimmten.
Interpretationen
Die Interpretation, die dem Ergebnis gegeben wird, fällt je nach Perspektive unterschiedlich aus. Davide Casaleggio, der als graue Eminenz hinter der „Rousseau-Plattform“ steht und sich als Lordsiegelbewahrer einer digital ermöglichten „direkten Demokratie“ aufführt, setzte die Befragung durch, um nach seinen eigenen Worten daran zu erinnern, dass die politischen Entscheidungen immer „gemeinsam“, d. h. im Kollektiv zu treffen und „das wahre kollegiale Entscheidungsorgan immer noch die Mitglieder sind“.
Der PD-Generalsekretär Nicola Zingaretti, den das Ergebnis in der Toskana erreichte, wo er sich gerade zur Vorbereitung des regionalen Wahlkampfs aufhielt (die Wahl findet im September statt), reagierte strahlend: „Das ist eine gute Nachricht! Ein weiterer Schritt in Richtung auf die Schaffung eines realen Bündnisses! Jetzt kann für Italien eine neue Ära des Reformismus beginnen“. Womit, so seine Hoffnung, das Land zum klassischen Bipolarismus zurückkehren kann, mit der 5-Sterne-Bewegung als dauerhaftem Bestandteil eines Mittelinks-Lagers, das nun endlich dem Rechtsblock geschlossen entgegentreten kann.
Die Interpretation, die politologisch orientierte Kommentatoren und Beobachter dem Ergebnis geben, fällt nüchterner aus: Sie sehen in dem Ergebnis einen weiteren Schritt bei der Transformation einer Protestbewegung, die zunächst gegen die gesamte politische Klasse antreten wollte – eine „Kaste“, deren „Professionalität“ in Wahrheit vor allem der eigenen Korruption und Bereicherung diente. Was im Umkehrschluss den Dilettantismus derer, die diese Kaste bekämpften, zur Tugend der Unschuld machte, die durch die Regel „höchstens zwei Amtsperioden“ für die eigenen Repräsentanten auch unter Artenschutz gestellt wurde. Die zweite Regel war, dass man mit keiner „traditionellen“ Partei ein Wahlbündnis eingehen dürfe, weil dies das Dogma der eigenen unverwechselbaren Besonderheit in Frage gestellt hätte. Dahinter stand (wie Ezio Mauro schreibt) das „Delirium der Omnipotenz“, d. h. der Glaube, letztlich die Alleinregierung anstreben zu können, was sich 2013 beim Streaming zwischen Bersani und der damaligen grillinischen Fraktionsspitze in der höhnischen Zurückweisung jeder Regierungsverhandlung mit der PD ausdrückte. Eine Regel, die dann allerdings 2018 bei der Regierungsbildung mit der Lega durchbrochen wurde, als die 5SB 40 % der Wählerstimmen erhalten hatte und nun glaubte, die Lega als Juniorpartner in die Tasche stecken zu können. Die aber bis heute in den Alleingängen bei Wahlen weiterlebt (wo bisher nur lokale und regionale Wahlbündnisse mit Bürgerlisten erlaubt waren).
Inhaltliche Leere
In der Aufweichung beider Regeln kann man einen Fortschritt sehen: die grillinische „Entdeckung der Politik“ (Mauro), zu deren Wesen nun einmal die Vermittlung und der Kompromiss gehören. Trotzdem ist Zingarettis Freude voreilig, besonders wenn er meint, die 5-Sterne-Bewegung nun auch dem Mittelinks-Lager zurechnen zu können. Es ist kein Zufall, dass sich die jetzt von den Mitgliedern abgesegneten Veränderungen auf den ersten Blick nur auf Fragen der Prozedur beziehen: Ein Grillino darf nun – vielleicht – auch dreimal für ein politisches Amt kandidieren. Aber gegen das Mehr an Eigenverantwortung, das ihm damit zuwachsen könnte, wurde längst die Farce eines imperativen Mandats in Stellung gebracht, das die Mitglieder ihm gegenüber per Mausklick ausüben können (wenn es die Führung will). Und wenn in Zukunft auch Wahlbündnisse mit „traditionellen Parteien“ eingegangen werden können, bleibt ungesagt, mit welchen – womit auch offen bleibt (wie Mauro zu Recht bemerkt), wer man selbst ist. Was allen politischen Entscheidungen, auf welche die 5SB Einfluss einnehmen kann, einen „improvisierten und episodischen“ Charakter gibt, „losgelöst von historischen und ideellen Gründen, als ob sich alles in Handeln auflöst… Zum einzig Wichtigen scheint die Macht selbst zu werden, wofür die Bündnispartner nach Belieben wechseln können, nur damit der grillinische Populismus mit Ewigkeitsgarantie an der Regierung bleibt, ohne einen politischen Plan, der nun einmal aus Projekten, Werten und legitimen Interessen besteht“.
Die Hypotheken bleiben
Da scheint Zingarettis Optimismus, mit dem er das Ergebnis der Mitgliederbefragung der 5SB begrüßt, kaum naiver als die Interpretation der Politologen, die in ihm einen Meilenstein im Übergang von der „Bewegung“ zur „normalen“ Partei sehen. Hinter dem spektakulären 80 %-Ergebnis der ersten Abstimmung (das im deutlichen Kontrast zu den 60 % der zweiten Abstimmung steht) dürfte etwas viel Banaleres als die Einsicht stehen, dass auch in der Politik Professionalität Sinn macht: nämlich der Wunsch, der römischen Bürgermeisterin Virginia Raggi eine erneute Kandidatur zu ermöglichen, was ihr aufgrund der bisher geltenden Regeln nicht möglich gewesen wäre, aber von Grillo, Di Maio und Battista mangels Alternativen befürwortet wird (obwohl – oder weil? – sie für die meisten Römer längst zum Inbegriff der Inkompetenz geworden ist). Da es ohne Absprache mit der PD geschah (die in Rom ebenfalls viel Unheil angerichtet hat, aber sich in diesem Fall einer Unterstützung von Raggi zu Recht widersetzt), ist dies schon ein erster Schlag gegen den Geist der zweiten Abstimmung, der doch gerade das Tor zu solchen Absprachen zu öffnen schien. Ähnliches gilt für die in diesem Herbst anstehenden Regionalwahlen, bei denen sich die Rechte vereint präsentiert und die Salvini zum neuerlichen „Rammstoß“ gegen die Conte-Regierung nutzen will. Geradezu mit Engelszungen versuchte die PD, die 5SB zum gemeinsamen Vorgehen zu überreden, aber hier stellen sich die territorialen Verbände der Grillini quer. Ähnliches gilt für die bald anstehenden 18 Kommunalwahlen, wo noch in keiner einzigen Kommune ein solches Bündnis zustande kam. Als ob die zu schlagende Rechte nur aus Papiertigern besteht.
Aber auch in der PD gibt es Widerstand gegen ein „strategisches“ Zusammengehen mit der 5SB. Die Frage scheint nicht unberechtigt, auf welcher gemeinsamen programmatischen Grundlage ein solches Bündnis errichtet werden soll, und ob es ohne eine solche Klärung der PD vielleicht eher schaden als nützen könne. Im Unterschied zur 5SB wird hier allerdings keine digitale Mitgliederbefragung, sondern die Durchführung des immer wieder angekündigten Kongresses gefordert. Zingaretti hat dies schon mit der Spitze kommentiert, dass sich hier wieder die internen Anhänger einer „15 %-Partei“ zu Wort meldeten (womit er diejenigen meint, welche die PD angeblich wieder in die Isolierung zurücktreiben wollen). Aber es sind nicht nur Linkssektierer, die hier Zweifel haben. So erklärte beispielsweise der PD-Bürgermeister der Millionenstadt Mailand, Sala, im Falle seiner Kandidatur für die dort 2021 anstehende Kommunalwahl kein Bündnis mit der 5SB anzustreben.