Das Dilemma der Negationisten

„Negationisten“ wurden bisher Leute genannt, die rassistisch oder ethnisch motivierte Massenmorde (z. B. an den Juden oder Armeniern) leugnen. Seit dem Covid-Virus ist dem Wort eine weitere Bedeutung zugewachsen: Inzwischen gibt es auch Leute, die behaupten, dass es das Virus nicht gibt. Sie sind in der Minderheit, aber lautstärker geworden. Die Versuche der Regierungen, die Ausbreitung des Virus zu verhindern, seien überflüssig und ein Vorwand zur Volksunterdrückung. In Italien werden auch sie „negazionisti“ genannt.

Die Konferenz mit Berlusconis Leibarzt

Am 27. Juli fand im Bibliothekssaal des italienischen Senats eine Konferenz statt, welche die Lega mit dem rechten Kunsthistoriker Sgarbi organisiert hatte und unter dem Titel „Covid-19 zwischen Information, Wissenschaft und Recht“ eine Bestandsaufnahme der Pandemie versprach. Die Botschaft, welche die Anwesenden mit nach Hause nehmen durften, war eindeutig: „Seit dem 31. Mai ist das Virus klinisch inexistent“. Wer meint, eine solche Botschaft könne nur von einem blutigen Laien stammen, wurde durch Amt und Titel des Mannes widerlegt, der sie verkündete: Alberto Zangrillo, Professor für Anästhesie und Intensivmedizin, der im renommierten privaten Sankt Raffael-Krankenhaus in Mailand tätig ist. Dass er seit einigen Jahrzehnten auch Berlusconis Leibarzt ist, machte ihn bekannt, und da er sich in den vergangenen Monaten ein paarmal kritisch über den „Alarmismus“ der Conte-Regierung gegenüber der Pandemie äußerte, erkor ihn jetzt die Lega zum Kronzeugen. Zangrillo scheint für diese Rolle eine gute Besetzung. Einerseits hat er das Renommee des Wissenschaftlers, Experten und Heilers (Berlusconi!). Andererseits ist er ein bekennender Rechter, der keine Hemmungen hat, sein fachliches Renommee auch für einfache politische Botschaften einzusetzen. Als vor wenigen Tagen bekannt wurde, dass auch Berlusconi Covid-„positiv“ ist, konnte dies Zangrillo nicht erschüttern – Berlusconi sei ja „asymptomatisch“.

Konfrontiert man die Behauptung, das Virus sei „klinisch nichtexistent“, mit der empirischen Basis, auf die sich Zangrillo beruft, wird auch dem Laien klar, dass es vor allem die kühne Interpretation ist, auf die er seine Behauptung stützt: Die Abstriche, die er in den letzten anderthalb Wochen vornahm, zeigten, dass die vom Virus ausgehende Gefahr heute geringer sei als noch vor ein paar Wochen. Hätte er sich auf diese Aussage beschränkt, wäre sie überprüfbar, zumal unter Virologen längst die Möglichkeit erörtert wird, dass sich die Pandemie im Sommer abschwächen könnte – was nicht ausschließt, dass sie im Herbst mit voller Wucht zurückkehrt. Zumal das Virus nicht nur in Italien, sondern weltweit seine unveränderte Gefährlichkeit zeigt.

Aber damit hätte sich Zangrillo im Raum wissenschaftlich überprüfbarer Hypothesen bewegt. Stattdessen ließ er sich zu der Behauptung hinreißen, das Virus sei „klinisch tot“. Als Wissenschaftler begab er sich damit auf Glatteis. Und mit der politischen Macht ist er vertraut genug, um zu wissen, in welchem Stück er sich damit zum Mitspieler macht.

Politische Konsequenzen

Die anderen Redner der Konferenz assistierten. Der schon erwähnte Sgarbi forderte die Erarbeitung eines „Manifests der Wahrheit“, nachdem er die Zuhörer mit der fake-Nachricht in Stimmung gebracht hatte, dass ja nun auch „die deutsche Regierung offiziell den Covid 19 zum globalen Fehlalarm erklärt hat“.  (Einen Bericht mit diesem Tenor aus der Feder eines deutschen Ministerialbeamten gibt es, allerdings mit dem Schönheitsfehler, dass er schon im Mai vom Innenministerium zur „Privatmeinung“ erklärt worden war, HH). Sgarbis Folgerung: „Die Institutionen müssen auch jene anhören, die schon seit Wochen sagen, dass es das Covidvirus in Italien nicht mehr gibt und es (nächste Behauptung) seit zwei Monaten keinen einzigen Virus-Toten mehr gab“. Also sei ein „alternatives Wissenschaftskomitee zu schaffen, das dem (vorhandenen, HH) institutionellen Komitee der Regierung gleichgestellt wird“. Das richtet sich gegen den italienischen Gesundheitsrat, den CTS, der die Regierung berät und Zangrillos Thesen schon als „oberflächlich, irreführend und gefährlich“ qualifiziert hat. Und auch gegen die WHO, die warnt, „den Eindruck zu vermitteln, dass das Virus von sich aus plötzlich beschlossen hat, weniger krank zu machen“. Trump, für den das Virus eine Erfindung linker Liberaler ist, macht Schule: Wo es alternative Fakten gibt, kann auch die Wissenschaft alternativ sein.

Aufruf gegen die „Diktatur“

Aber die Lega war Mitveranstalter, und hier ging es nicht nur um Wissenschaft. Gibt es nicht auch in Italien zunehmenden Unmut überMaskenpflicht, Versammlungsverbote und lockdown? Salvini, der immer noch darunter leidet, dass ihm das Virus Sichtbarkeit geraubt hat, ist anwesend. Und zollt gleich den Verschwörungstheoretikern Tribut, die im Kampf gegen die Pandemie den Versuch dunkler Mächte (Regierungen, Finanzkapital, Gates) sehen, die Völker durch Desinformation und Gängelung zu unterdrücken: „Die täglichen Bulletins über die Ansteckungen sind medialer Terrorismus“, erklärt er, und sorgt sich um die „Gedankenfreiheit“. Womit er sich auch an das Freiheitsthema in seiner rechten Fassung angedockt hat: Freiheit nur zum Ausleben des Ichs, Freiheit von Verantwortung und Solidarität. Von nun an werde er ohne Maske in den Senat gehen! Als ihn dort später die Saalordner auffordern, sich regelkonform eine Maske aufzusetzen und ihm dafür sogar eine mit Trikolore anbieten, lehnt er ab. Das Virus, so seine neueste Botschaft, ist nur ein Hirngespinst.

Salvini spielt Risiko

Das ist riskant, denn Salvini schließt sich damit einer Bewegung an, die bisher nur, wie die Umfragen zeigen, von einer Minderheit getragen wird. Ähnlich wie in Deutschland ist auch in Italien eine klare Mehrheit überzeugt, dass die Pandemie eine reale Gefahr darstellt. Machen ihn die sinkenden Umfrage-Werte unvorsichtig? Zumal die Lega damit in einen Widerspruch mit der eigenen Agitation gerät. In den letzten Monaten hatte sie begonnen, ihren Feldzug gegen die Migranten auch mit der Pandemie zu begründen, welche die „illegalen“ Flüchtlinge einschleppen. Wozu die Nachricht passt, dass die afrikanischen Länder die Pandemie nicht unter Kontrolle bekämen. Den von der Lega schon lange geschürten Ängsten vor den Migranten könnte dies neue Nahrung  geben. Gerade eben verkündete der Gouverneur von Sizilien, dort wegen der Infektionsgefahr keine Flüchtlinge mehr an Land lassen zu wollen, und Salvini hat laut Beifall geklatscht. Was wird aus dieser Kampagne, wenn er sich der Theorie anschließt, dass es das Virus gar nicht mehr gibt?

Aber nicht alles, was kognitiv „dissonant“ ist, ist auch psychisch unvereinbar. Das politische Material der Rechtspopulisten sind Ängste, und da ist es unerheblich, ob sie geschürt oder real sind. Die Menschen, die Angst vor der Pandemie haben, aber zu denen gehören, die sie zu verdrängen suchen, leugnen die Existenz des Virus und sehen in dem ganzen Geschehen nur eine Verschwörung. In der auch die „Invasion“ der Migranten ihren Platz finden kann.

Manzonis Erklärung

Im 31. und 32. Kapitel seiner „Brautleute“ schlüpft Alessandro Manzoni in die Rolle des Historikers, der über die Mailänder Pest von 1630 berichtet. Was den heutigen Leser, der die Covid-Pandemie in den Knochen hat, faszinieren muss, ist die Ähnlichkeit der Reaktionen. Es ist die gleiche Irrationalität, die damals wie heute in wilden Verschwörungstheorien Ausdruck, Begründung und Halt findet. Damals wurde der Glaube, dass hinter der Pest eine Verschwörung  von „Giftsalbern“ stecke, zum Massenwahn. Manzoni wagt eine psychologische Erklärung: „Die Gemüter, die durch das Fortbestehen der Übel immer verbitterter und die Hartnäckigkeit der Gefahr immer gereizter waren, klammerten sich umso bereitwilliger an diesen Glauben. Denn Wut will strafen…, und es ist ihr lieber, die Übel einer menschlichen Niedertracht zuzuschreiben, an der sie sich rächen kann, als sie auf eine Ursache zurückzuführen, vor der ihr nichts anderes übrigbleibt als zu resignieren… Wer noch die Existenz einer Verschwörung leugnete, wurde als blind und verbohrt angesehen, wenn er nicht gar in den Verdacht geriet, er habe ein Interesse daran, die öffentliche Aufmerksamkeit vom wahren Sachverhalt abzulenken, er sei ein Komplize, ein Salber“

Man ersetze „Salber“ durch „Bill Gates“, „Regierung“, „Flüchtlinge“, „Finanzkapital“ und rühre in das Gebräu auch noch eine Dosis rechte Freiheitsideologie hinein, und ist bei den „Querdenkern“ und „Negationisten“ von heute.

Nachbemerkung: Unter dem Slogan „Freies Italien!“ hat die faschistische „Forza Nuova“ in Rom für diesen Samstag eine Kundgebung „gegen die Gesundheitsdiktatur und die fake news zum Covid“ angekündigt. Ihr Kommen haben angesagt: Neofaschisten und Souveränisten, die NoMask und NoVax (Impfgegner), QAnon-Anhänger und viele mehr. Auch Sgarbi will teilnehmen, der nebenbei auch Bürgermeister einer italienischen Kleinstadt ist, wo er das Maskentragen sogar verboten hat (eine interessante Äußerung rechter Freiheit). Als spezieller Gast hat sich übrigens ein Deutscher angesagt: Udo Voigt von der NPD.

Zweite Nachbemerkung, wenige Stunden nach Veröffentlichung: Inzwischen ist bekannt geworden, dass Berlusconi keineswegs „asymptomatisch“ geblieben ist, sondern mit einer beginnenden beiderseitigen Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Was Zangrillo zu dem Eingeständnis veranlasste, dass er sich mit seiner Aussage, das Virus sei „klinisch tot“, vielleicht doch „etwas im Ton vergriffen“ habe. Eine Selbstkorrektur in schwächstmöglicher Form.