Referendum der Widersprüche
Vor zwei Wochen bekamen die Ortszirkel der Mailänder PD von der Zentrale in Rom die Aufforderung, so schnell wie möglich Plakatflächen für das Referendum zur Reduzierung der Abgeordnetenzahl zu reservieren, das am 20./21 September – gleichzeitig mit den Wahlen in sieben Regionen und vielen Kommunen – stattfindet. „Ok, aber sollen wir für das ‚Ja‘ oder für das ‚Nein‘ werben?“ fragten die verwirrten Genossen. „Reserviert erst einmal den Platz, wir sagen euch noch Bescheid“ lautete die Antwort.
Inzwischen hat sich das Leitungsgremium der PD – knapp zwei Wochen vor der Abstimmung – zu einer offiziellen Positionierung aufgerafft: am vergangenen Montag folgte eine breite Mehrheit (188 von 220) der Empfehlung von Generalsekretär Zingaretti, beim Referendum zum „Ja“ aufzurufen. 13 waren dagegen, 8 enthielten sich und 11 – die Gruppe um Matteo Orfini, einem scharfen Kritiker des „Ja“ – nahmen nicht an der Abstimmung teil.
Die Anekdote aus Mailand bleibt dennoch symptomatisch für den zerrissenen Zustand der PD, die immer mehr aufgrund ihres schwierigen Bündnisses mit der populistischen 5-Sternebewegung unter Druck gerät. Was sich beim anstehenden Referendum besonders deutlich zeigt.
Die Vorgeschichte
Die Verkleinerung des Parlaments, das sie als Sitz der parasitären politischen Kaste ansehen, gehört seit langem zu den Steckenpferden der Grillini. Schon bei der Regierungsbildung mit der Lega wurde sie Teil der Koalitionsvereinbarung. Da es sich dabei um eine Verfassungsänderung handelt, musste es zwei Lesungen in beiden Kammern des Parlaments geben, die Dauer des Verfahrens war entsprechend lang. So kam es, dass die endgültige Verabschiedung in der Abgeordnetenkammer erst im Oktober 2019 stattfand, als schon die neue Regierung von PD und 5SB im Amt war. Die PD, die – solange sie Opposition war – das Gesetz aus gutem Grund als populistische Stimmungsmache gegen die repräsentative Demokratie und ihre Institutionen abgelehnt hatte, stimmte diesmal aus koalitionstaktischen Gründen zu, denn das Vorhaben hatte auf Druck der Grillini wieder Eingang ins Regierungsprogramm gefunden. Im Gegenzug bestand die PD darauf, das Wahlgesetz in Richtung auf ein Verhältniswahlrecht (anstelle des bisher geltenden Mehrheitswahlrechts) zu ändern.
Das Gesetz sieht eine Reduzierung von 630 auf 400 in der Abgeordnetenkammer und von 315 auf 200 im Senat vor. Nachdem es im Oktober mit überwältigender Mehrheit verabschiedet worden war, liefen die 5SB-Abgeordneten triumphierend auf den Vorplatz des Parlaments und zerrissen dort demonstrativ große Plakate mit der Abbildung der „poltrone“, d. h. der roten Parlamentssitze als Symbol der „Kaste“ (zu der sie schon längst selbst gehören).
Womit das Thema aber noch nicht erledigt war. Denn bei verfassungsändernden Gesetzen gibt es die Regelung, dass eine Volksabstimmung (ein sog. „bestätigendes Referendum“) durchzuführen ist, wenn in einer der beiden Kammern die Zweidrittelmehrheit verfehlt wurde und mindestens ein Fünftel der Abgeordneten dies beantragt. Das war im Senat der Fall, wo die Abstimmung noch zu Zeiten der Regierung von Lega und 5SB stattfand und die PD – die damals noch in der Opposition war – mit „Nein“ abstimmte. 71 Senatoren aus verschiedenen Parteien beantragten daraufhin, ein Referendum durchzuführen.
PD-Begründungen für die Kehrtwende
Zingaretti und die Mehrheit der Parteileitung müssen nun begründen, warum sie für ein Vorhaben werben, das sie in der Opposition als populistische Propaganda und Angriff auf die parlamentarischen Institutionen abgelehnt hatten. Sie haben dafür drei Argumente:
1. Die Verkleinerung des Parlaments ist Bestandteil des mit dem Koalitionspartner beschlossenen Regierungsprogramms, „Pacta sunt servanda“.
2. Sie darf nicht isoliert gesehen werden, sondern – wie in der Koalitionsvereinbarung vorgesehen – im Zusammenhang mit der Änderung des Wahlgesetzes in Richtung Verhältniswahlrecht und mit einer Reform des Zweikammersystems, mit der die – bisher identischen – Kompetenzen von Abgeordnetenkammer und Senat differenziert werden.
3. Das dritte Argument wird zwar nicht offen formuliert, ist aber de facto entscheidend: Wenn die PD sich nicht für das „Ja“ zum Gesetz ausspricht und dieses möglicherweise gekippt wird, würde dies das Regierungsbündnis gefährden.
Um glaubwürdiger zu sein, insistieren die Befürworter des „Ja“ in der PD besonders auf dem zweiten Punkt und drängen ihre Koalitionspartner – 5SB, Renzis „Italia Viva“, LEU – , mit dafür zu sorgen, dass die Änderung des Wahlgesetzes möglichst schnell durch das Parlament gebracht wird. Ein erster Schritt dahin ist gemacht: der zuständige Ausschuss der Abgeordnetenkammer stimmte dem Grundentwurf zu. Doch es gibt noch Hindernisse, denn Renzi und LEU sind mit der bisher vorgesehenen Sperre von 5% nicht einverstanden, da sie damit laut Umfragen den Eintritt ins Parlament verfehlen würden, und plädieren für eine Herabsetzung auf 3%. Und die 5SB beteuert, mit der Änderung des Wahlsystems einverstanden zu sein, es aber nicht als Priorität zu sehen.
Unsicherheit auch im rechten Lager
Die PD ist nicht die einzige politische Kraft, die mit der Haltung zum Referendum Probleme hat. Auch die Lega hadert damit, aus gegenteiligen Gründen. Offiziell gilt für Salvinis Lega das „Ja“ zu einem Gesetz, das sie seinerzeit im Parlament mitbeschloss. Sie weiß, dass die Mehrheit ihrer Anhänger (und Wähler insgesamt) eine Reduzierung der „poltrone“ befürwortet. Doch insgeheim drücken Salvini und seine Parteifreunde dem „Nein“ die Daumen, um die Conte 2-Regierung in Bedrängnis zu bringen.
Die Wahlorientierung ist in allen Parteien – des Regierungsbündnisses wie der Opposition – gespalten. Die „Nein-Fraktion“ quer zu den Parteien ist zwar minoritär, hat aber in ihren Reihen prominente Befürworter. In der PD zählen dazu die Gründer des „Ulivo“-Bündnisses Romano Prodi, Arturo Parisi und Rosy Bindi, außerdem die ehemaligen Vorsitzenden Cuperlo und Orfini und der einflussreiche Gouverneur der Region Kampanien De Luca. Bei der FI, wo die Gegner der Parlamentsverkleinerung besonders zahlreich sind, haben sich u. a. Renato Brunetta und Mara Carfagna, die früher Minister in der Berlusconi-Regierung waren, und die Fraktionsvorsitzende im Senat Bernini für das „Nein“ ausgesprochen. Berlusconi selbst hat sich nicht positioniert und den FI-Anhängern „Wahlfreiheit“ gelassen. Innerhalb der Lega hat sich das Schwergewicht Giorgetti, der als Kopf und „graue Eminenz“ der Partei gilt, für das „Nein“ ausgesprochen.
Grillinisches Lieblingsprojekt
Die einzige Partei, die (fast) einhellig für „Ja“ wirbt, ist natürlich die 5SB. Sie tut es mitunter mit „Argumenten“, die verraten, welche hohe Meinung von der repräsentativen Demokratie und ihren Verfassungsorganen manche Grillini haben. „Ein numerisch geschrumpftes Parlament kann besser kontrolliert werden, denn je höher die Zahl der Abgeordneten ist, desto mehr potentielle Korrupte gibt es dort“ erklärte Manuel Tuzi, selbst Abgeordneter, mit bestechender Logik – da war Lenins Charakterisierung des Parlaments als „Schwatzbude“ noch vergleichsweise wohlwollend.
Als häufigste Begründung der 5-Sterne ist die finanzielle Einsparung, welche die Streichung bringen werde. Sie sprechen von 100 Mio. im Jahr und damit von 1 Milliarde in 10 Jahren, werben aber auf Plakaten pauschal mit „1 Milliarde mehr für die Bürger“. Tatsächlich beträgt die Einsparung jährlich ca. 82 Mio. brutto (0,007% der öffentlichen Ausgaben); nach Abzug der von den Abgeordneten zu zahlenden Steuern und Abgaben sind es netto 57 Mio. „Für jeden Bürger der Preis eines Espresso pro Jahr“, spottet Massimo Cacciari, der Philosoph und ehemalige Bürgermeister von Venedig.
Auch das Argument, dass eine Verkleinerung des Parlaments seine effizientere Arbeit bewirken werde, ist nicht schlüssig. Erstens besteht zwischen der – in der Tat dringend notwendigen – qualitativen Verbesserung der Parlamentsarbeit und der Anzahl der Abgeordneten kein automatischer Zusammenhang. Und zweitens fragt man sich, warum die 5SB dann 2016 gegen die von Renzi gewollte Abschaffung des „perfekten Zweikammersystems“ und der Umwandlung des Senats in einer „Kammer der Regionen“ stimmte und damit zum Scheitern einer Reform beitrug, die in der Tat die Effizienz des Parlaments hätte steigern können.
Die Wahrheit ist, dass sachliche Argumente bei diesem Referendum kaum eine Rolle spielen. Die Grillini setzen mit der Streichung auf das Ressentiment gegen „die da oben“. Die PD ist eigentlich gegen das Gesetz, aber aus taktischen Gründen dafür, um ihr Bündnis mit der 5SB nicht zu gefährden. Und ein großer Teil der Rechten, die offiziell für „Ja“ wirbt, hofft insgeheim auf ein gutes Ergebnis des „Nein“, um der Regierung eins auszuwischen.
Wie wird es ausgehen?
In den Umfragen führt das „Ja“ deutlich vor dem „Nein“ mit Werten zwischen 60% und 80%. Insbesondere Arbeiter, Hausfrauen und Rentner befürworten bis über 90% die Streichung. In der letzten Zeit ist allerdings die Zahl der „Nein“-Anhänger gestiegen. Ein ungewisser Faktor stellen die PD-Wähler dar: Wie viele von ihnen werden der offiziellen Empfehlung ihres Generalsekretärs folgen und mit „Ja“ stimmen? Ein Grund für die Entfremdung der PD von ihrer eigenen „Basis“ ist ihre Profillosigkeit – gerade ihre ehemals treuesten Anhänger wissen oft nicht mehr, wofür die PD eigentlich „steht“, was sie schon seit Jahren in die Enthaltung treibt. Das Herumtaktieren in der Frage der Parlamentsverkleinerung wird diese Distanz nicht verringern.
Alles spricht für einen Sieg des „Ja“, die Frage lautet aber, wie hoch. Sollte nämlich das „Nein“ ein unerwartet gutes Ergebnis erreichen, wären nicht nur die 5-Sterne, sondern auch Ministerpräsident Conte und PD-Chef Zingaretti beschädigt. Und für beide würde sich die Frage stellen, ob bzw. wie lange sie sich in ihrem Amt halten können.