Das Europa, das nicht mehr denkt
Vorbemerkung der Redaktion: Den folgenden Artikel, den wir ungekürzt übersetzen, veröffentlichte Massimo Cacciari unter dem obigen Titel am 11. 9. in der „Repubblica“. Er erinnert an die große Hoffnung, die einst einige Vordenker (auch in Italien!) mit dem Europa-Gedanken verbanden und die man „Einheit in der Vielheit“ nennen kann. Die Erinnerung ist melancholisch, wie an etwas, das in der Vergangenheit einmal schön und wichtig war, aber längst vom Winde verweht wurde. Für deutsche Ohren überraschend mag die besondere Rolle sein, die Cacciari retrospektiv Deutschland als möglichem „Föderator“ zuweist, der sich aber dieser Herausforderung nicht gestellt habe. Woran sicherlich richtig ist, dass Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten Europa auf eine fahrlässige Weise vernachlässigte. Aber darin steckt auch eine Selbstentlastung Italiens, mit der es sich Cacciari zu einfach macht. Die „uralten Ängste“, auf die er verweist, gibt es auch in Italien, und zwar noch heute. Am Ende dementiert sich Cacciari teilweise selbst, denn bei dem „heiteren Verzicht“, den er propagiert, will er dann doch an Europa als „regulativer Idee“ festhalten, die er keineswegs in einen abstrakten Ideenhimmel verweist.
Der politische Philosoph Massimo Cacciari war insgesamt 12 Jahre lang Bürgermeister von Venedig. In Deutschland ist er Träger des Hannah Arendt-Preises der Heinrich Böll-Stiftung.
„Kann ein politischer Organismus leben, ohne an eine eigene Bestimmung zu denken? Ohne die eigene Struktur in irgendeiner Weise als exemplarisch anzusehen, wenn auch mit der realistischen Einsicht, dass die eigenen Wirkungsmöglichkeiten begrenzt sind? Diejenigen, die – nach dem Selbstmord Europas und seiner Entthronung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – den Prozess gewollt und in Gang gesetzt haben, aus Europa eine Gemeinschaft zu machen, hätten mit Sicherheit geantwortet: Nein, das ist nicht möglich. Heute scheint diese Frage verschwunden zu sein; sie bewegt innerhalb der europäischen Führung niemanden mehr. Jedes Problem wird auf die Logik des Austauschs und der ökonomisch-finanziellen Kompatibilität reduziert.
Ich glaube, dass – auch ‚dank‘ der Pandemie – alle verstanden haben, wie stark der von Markt und Währung geprägte ‚europäische Raum’eine conditio sine qua non für das Überleben im globalen Wettbewerb ist. Vielleicht ist die Zeit des populistischen Nationalismus zu Ende gegangen. Aber hier endet auch der Diskurs. Wozu ist Europa berufen? Welche Bedeutung sollte es in der heutigen Welt haben? Das klingt heute alles nach abstrakten Fragen und unnützen Predigten. Überlassen wir ‚Missionen‘ doch lieber Papst Franziskus, antwortet der schäbige Realismus der Märkte.
In der kurzen Periode zwischen dem Mauerfall und dem Ende des Dritten Weltkrieges, den die UdSSR katastrophal verlor, war es nicht so. Es gab Leute, die verstanden, dass das Ende des tragischen 20. Jahrhunderts eine große und einmalige Gelegenheit bot, um seitens Europas eine neue eigene und spezifische ‚Zentralität‘ zu erlangen. Auch durch das Wiederentdecken seiner ‚geheimen Geschichte‘ und der Stimmen, die in seiner Tradition ungehört blieben.
Die Konstruktion der politischen Einheit der europäischen Nationen hätte einen praktischen und kulturellen Bezugspunkt für eine Welt schaffen können, die an der Schwelle zu einem epochalen Übergang stand. Und das europäische Angebot an diese Welt konnte nur eines sein: Schaut, wir verlassen die alte Staatsform der Moderne mit ihren hierarchischen und zentralistischen Strukturen; wir meinen, dass Macht tatsächlich auch Beteiligung verträgt und ein politischer Organismus desto besser funktioniert, je reicher in seinem Inneren das autonome Leben von Vermittlungsinstanzen, Parteien, Gewerkschaften ist; wir meinen, dass die Unterschiede von Sprachen, Traditionen, Religionen in keiner Weise unserem Bestreben nach Föderierung widersprechen, sondern im Gegenteil deren Voraussetzung bilden. Europa ist ein pluraler Name, Europa sucht nicht die Einheit des Einen, sondern das Eine, das wir sind – Unum sumus!. Und nur das scheint uns die politische Kultur zu sein, die in der Lage ist, eine polyzentrische Welt zu regieren, eine politische Kultur, die sich den neuen imperialen Hegemoniebestrebungen entgegenstellt. Seine internationale Rolle hätte Europa entsprechend dieser eigenen inneren Struktur spielen müssen, um so in den Krisen zu invervenieren, zu denen es kommen musste, als die Gleichgewichte des Kalten Kriegs dahinschwanden. Sein internationales Ansehen konnte dabei nur aus der Kraft seines politischen Angebots entstehen und sicherlich nicht aus wieder gewonnenen militärischen oder wirtschaftlichen ‚Imperien‘.
Dies alles wurde zwar hier und da in Betracht gezogen – dann aber durch das folgende Handeln widerlegt. Im Laufe der folgenden zwanzig Jahre wurde der europäische ‚Archipel‘ durch Interventionen begraben, die von Mal zu Mal nichts anderes als der Produkt mühsamer Kompromisse zwischen ’souveränistischen‘ Staaten waren, für die die Grundprinzipien jeder fassbaren Gemeinschaft – Solidarität, Kooperation und, wie unsere Vorfahren gesagt hätten, Freundschaft – nur Anlass zu ein paar rhetorischen Ausflügen waren. Und da sich eine neue Vision Europas in dessen Inneren nicht durchsetzen konnte, war es auch nicht möglich, dass Europa in den großen Krisen, die wir durchlebt haben und noch erleben, eine Rolle spielen konnte. Was hat gefehlt? Der Föderator (federatore) fehlte. Indem sie diesen Aspekt nicht berücksichtigten, begingen die europäischen Föderalisten die Sünde des Utopismus.
Die politische Einheit konnte nicht erreicht werden ohne eine europäische Macht, die diesen Prozess vorangetrieben hätte. Die also die Realisierung jener Einheit als eigene authentische Berufung empfunden hätte. Ein so wertvolle Bestimmung lässt sich nicht durch Kompromisse zwischen staatlichen Interessen verwirklichen. Doch der Föderator konnte – nach dem Mauerfall und der deutschen Vereinigung – kein anderer als Deutschland sein. Das ist das kolossale Paradoxon des europäischen Schicksals! Ausgerechnet das Land, welches fundamentaler Akteur, absoluter Protagonist und erster Verantwortlicher für den Zusammenbruch Europas war, war das einzige geworden, das in der Lage gewesen wäre, dessen politische Wiedergeburt zu steuern. Und zwar in einer Form – der föderativen -, die komplett dessen einstiges Machtverständnis auf den Kopf stellte, welches die Welt in die ungeheuerlichste aller Tragödien gestürzt hatte. Es wäre eine einzigartige Erzählung gewesen, ein authentischer Mythos, in dem sich das neue Deutschland hätte finden können. Sicher, dafür wäre eine enorme politische Kühnheit notwendig gewesen, die Überwindung uralter Ängste und extrem harter Widerstände der öffentlichen Meinung. Vielleicht haben einige Leader – vielleicht für kurze Momente sogar Merkel selbst – erahnt, dass die Gelegenheit da war. Was dann aber prompt durch die Handlungen dementiert wurde. Dann kam Griechenland, dann kamen die Tragödien der Migration. Deutschland hat Europa – und sich selbst – an die Säule der Stabilität gekettet und damit auch das mögliche Entstehen seiner eigenen authentischen ‚Auctoritas‘ – europäisch und international.
Der Moment, in dem vielleicht noch einen Sinn hatte, an eine europäische Bestimmung ‚im großen Stil‘ zu denken, mit Deutschland als Föderator – und dabei womöglich Lessing, Herder und Goethe zu bemühen –, ist für immer vorbei.
Trotzden müssen wir lernen, verantwortlich in die Zeit der ‚heiteren Verzichte‘ einzutreten. Ein Europa als politisch-kulturelle Macht, ein Europa, das in der Lage ist, auch intern die Appelle zu Menschenrechten und Umweltschutz in verbindliche Regeln und positives Recht umzusetzen, ein Europa, das zeigt, wie man Ungerechtigkeit und unerträgliche Ungleichheit überwindet: lassen wir es in uns als ‚regulative Idee‘ leben. Auch vom Seinsollen lebt der arme Sterbliche. Umso hartnäckiger sollten wir dann aber auch Taten und Entscheidungen fordern, um die Blockaden zu beseitigen, die aus den EU-Prozeduren entstehen, und um diejenigen mit allen Mitteln zu unterstützen, die am härtesten von der Krise getroffen wurden. Damit nicht auch noch jener Rest an Solidarität verloren geht, der in der alten Wohlfahrtspolitik enthalten war.
Verteidigen wir unsere ökonomische Einheit und beseitigen wir jene unglaublichen Disparitäten im fiskalischen und sozialen Bereich, die sie schwächen. Die Covid-Krise scheint wenigstens diese Notwendigkeit verdeutlicht zu haben, so dass man sich sich jetzt – recht oder schlecht – in diese Richtung bewegt. Was alles Übrige betrifft, glaube ich, dass nur ein Wort ehrlich ist: Geben wir es auf. Über das, was zu tun unmöglich ist, sollte man besser schweigen.“