Aufstand mit vielen Gesichtern
Neapel gab das Signal: in der Nacht von Freitag auf Samstag (vor einer Woche) kam es dort zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen die von der Regierung angekündigten (und inzwischen beschlossenen) weiteren Restriktionen infolge des rasanten Anstiegs der Infektionszahlen. Unter Prekäre, Schwarzarbeiter, Arbeitslose und Gewerbetreibende mischten sich Neofaschisten, Fußball-Ultras und linksradikale Autonome aus den „Centri sociali“. Und nicht zuletzt die Camorra, die neapolitanische bzw. kampanische Version mafioser Kriminalität, die immer zur Stelle ist, wenn soziale Unruhen und Wut auf den Staat und die Institutionen für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren sind.
Profiteure der Verzweiflung
Innerhalb weniger Tage verbreiteten sich die Proteste durch das ganze Land: in Mailand, Turin, Rom, Florenz, Catania und anderen Städten kam es zu Plünderungen und Angriffen gegen die Polizei mit Knallgranaten und Molotowcocktails. Vor allem Jugendliche aus den Peripherien – unter ihnen viele Minderjährige mit und ohne Migrationshintergrund, einige vorbestraft – waren dabei. Über Chats und das Netz hatten sowohl Neonazis von Forza Nuova und Casa Pound als auch Fussball-Hooligans zum Kampf „gegen die Gesundheitsdiktatur“ und für die „Freiheit des Volkes“ aufgerufen.
Auch wenn die Anzahl der Teilnehmer nicht hoch war (in Neapel etwas mehr als tausend, in Rom einige hundert): Es ist einerseits der Ausmaß der Gewalt, andererseits die Mischung, die beunruhigen. Verzweifelter Protest aus sozialer Not und Angst vor dem wirtschaftlichen Untergang werden durch politische Extremisten und organisierte Kriminalität unterwandert, um den Protest zu radikalisieren und die Lage weiter zu destabilisieren. Um darauf adäquat zu reagieren, müssen die staatlichen Institutionen und die Regierung einerseits gegen Brandstifter und Gewalttäter durchgreifen, andererseits aber auch möglichst viele ansprechen, deren Existenznot real ist und Angst und tiefe Verunsicherung in manchmal unkontrollierte Wut umschlägt.
Regierung versucht, Verluste abzufedern
Das ist es, was die Regierung gegenwärtig versucht. Sie flankiert den verordneten „Mini-Lockdown“ mit Hilfen, die den betroffenen Bereichen – von der Gastronomie und dem Kulturbereich bis zu den kleinen Selbständigen und Schwarzarbeitern, die sonst durch alle Maschen des sozialen Netzes fallen – einen zumindest partiellen und vor allem schnellen und unbürokratischen Ausgleich bieten. Das Unterstützungspaket beträgt insgesamt 5,4 Milliarden, die durch Schulden finanziert werden müssen, da die sehnsüchtig erwarteten Ressourcen aus dem europäischen Recovery Fund wegen der Streitereien unter den Mitgliedsstaaten noch blockiert sind. Für von der Schließung besonders betroffene Sektoren wie den Kultur- und Freizeitbereich, den Tourismus und die Gastronomie werden die Entschädigungen und Unterstützungsleistungen erhöht oder gar verdoppelt. Das Kurzarbeitergeld wird um sechs Wochen verlängert, bis Ende Januar besteht ein Entlassungsstopp, die zweite Rate der Immobiliensteuer wird ausgesetzt, die Mieten werden durch Bonuszahlungen reduziert.
„Es gibt sowohl den Protest als auch den Angriff auf den Staat. Diesem letzten müssen wir uns kraftvoll und unnachgiebig entgegenstellen. Aber der sozialen Wut müssen wir in die Augen schauen, wir müssen ihr zuhören und Antworten geben“, so Peppe Provenzano (PD), Minister für den Süden, im Interview. Man müsse den betroffenen Betrieben und deren Arbeitnehmern, aber auch denen, die zur „Welt der informellen Ökonomie“ gehören und davon leben, substantielle Hilfen – wie z. B. das neu eingeführte „reddito di emergenza“ (Notstand-Einkommen) – schnell und einfach zukommen lassen (leichter gesagt als getan, wie die bisherigen Erfahrungen zeigen). Auch um der organisierten Kriminalität den Rekrutierungsboden zu entziehen. „Schon in der ersten Phase der Pandemie konnten wir sehen, wie die Mafia versucht, sozialen Konsens zu gewinnen. Die Bosse verteilten Nudelpackungen, doch der Staat ist schnell interveniert, zunächst mit kommunal bereit gestellten Lebensmittelhilfen und dann mit gezielten Fonds zur Unterstützung des sogenannten dritten Sektors“, so Provenzano.
Die Restriktionen im neuen Corona-Dekret, das am vergangenen Montag in Kraft trat, sind zwar erheblich, liegen aber (noch) unter dem Level der in Frankreich, Spanien und inzwischen auch in Deutschland beschlossenen Maßnahmen. Sie sehen u. a. die Schließung der Gastronomie um 18.00 Uhr vor, Essen und Trinken im Freien sind ebenfalls ab 18.00 Uhr verboten. Nach 21.00 Uhr kann (außer für Anwohner) der Zugang zu bestimmten Straßen und Plätzen gesperrt werden: im Visier sind dabei Orte der sogenannten „Movida“, also beliebte Treffpunkte vor allem von Jugendlichen. Theater, Diskotheken, Fitnesscenter, Freizeiteinrichtungen etc. werden geschlossen, Feiern sind sowohl in geschlossenen Räumlichkeiten als auch draußen verboten. Für die höheren Jahrgänge der Schulen gilt weitgehend – mindestens bis zu 75% – das digitale Lernen zu Hause. Bei Präsenzunterricht sollen die Möglichkeiten von Vor- und Nachmittagsschichten genutzt werden. Anders als im Frühjahr gibt es keine generelle Ausgangssperre, die Bürger werden jedoch „dringend“ aufgerufen, die Wohnung nur zu verlassen, um den Arbeitsplatz bzw. die Schule zu erreichen oder aus anderen zwingenden Gründen, z. B. gesundheitlicher Natur.
Ministerpräsident Conte, der in der ersten Phase der Pandemie schon frühzeitig drastische Maßnahmen eingeleitet hatte, verhielt sich beim Auftreten der „Herbstwelle“ zunächst eher abwartend. Er wollte offensichtlich – vor allem innenpolitisch – partout vermeiden, als „Vorprescher“ unter den europäischen Staaten dazustehen. Auch jetzt weist er immer wieder daraufhin, dass andere Länder mit ähnlichen Infektionszahlen (oder sogar niedrigeren, wie Deutschland) einen noch schärferen Kurs fahren.
Das Virus der Rebellion
Er konnte damit allerdings nicht verhindern, dass die Proteste in Italien heftiger als anderswo in Europa sind – zumindest bis jetzt. Das ist insofern bemerkenswert, als sich bisher die Italiener, die als etwas anarchisch und nicht gerade regel- und ordnungsliebend gelten, geradezu vorbildlich an die mitunter strengen Corona-Vorgaben gehalten haben. Ezio Mauro, der frühere Chefredakteur der Repubblica, der einer der klügsten Kommentatoren ist, skizzierte seine Sicht der Entwicklung in der Repubblica vom 26. 10. unter dem Titel „Das Virus der Rebellion“. Hier Auszüge:
„Es ist so, als ob die zweite Welle der Pandemie jenes einheitliche Nationalgefühl gebrochen hätte, das es noch in der ersten Phase des Virusangriffes im Frühling gab. Spontaneität, Solidarität, Hilfsbereitschaft, sogar Fahnen an den Balkonen und die gegenseitige Entdeckung, im Alltag als wehrlose Bürger ein gemeinsames Schicksal zu teilen … In dieser Zeit, in der Italien auf den Angriff des Virus gewissermaßen experimentell und auch im Auftrag ganz Europas reagieren musste, schrieben die Bürger der Regierung eine Art metaphysischer Macht zu, aus der sich die Erklärung des Notstands und die daraus folgenden Maßnahmen ergaben. Aus dieser Interpretations- und Definitionsmacht leitete sich die Autorität der Regierung ab. Heute glauben wir, schon alles selbst zu wissen, und mussten andererseits lernen, dass dieses Wissen nutzlos ist, denn wir können uns weiterhin nur mit den primitiven Methoden des Abstands, der Schutzmasken, der gewaschenen Hände und der häuslichen Isolierung verteidigen. Niemand kann uns Neues enthüllen, die Realität ist so klar in ihrer Einfachheit …, dass manche deren Evidenz ablehnen und versuchen, sich ihr durch Flucht zu entziehen, als ob das möglich wäre. Andere, wie sich zuerst in Neapel zeigte, stellen den endlosen Notstand in Rechnung, die ewige Unsicherheit und Instabilität, und entdecken, dass deren Kosten mindestens so hoch sind wie die der Infektion, und präsentieren der Regierung die Rechnung …
Wir wussten schon, dass die Infektion die Bürger in Individuen verwandelt, wenn die Sozialräume zerstört werden… Jetzt wissen wir auch, dass das Virus weiter geht: Es zersetzt die Gesellschaft, segmentiert sie und stärkt die Neigung zum Partikularismus… So protestieren jetzt Fahrradkuriere neben Pizzabäckern, Arbeitslose aus den Randbezirken neben ‚Badanti‘ (häusliche Pflegekräfte, Anm. MH) und Souvenirverkäufern, die ihre Stände nicht mehr aufstellen dürfen: Jeder mit seiner Partikularwut, in einer Kollektion von Ressentiments, die nur der Moment der Rebellion zusammenhält. Interessen, die nicht in ein gemeinsames politisches Projekt zusammenfließen, sind notwendigerweise konkurrierend, egoistisch und aufeinander eifersüchtig… Es kommt zu Vergleichen, zu Aufrechnungen der Unterschiede, die weitere Ressentiments entfachen, und zur permanenten Anklage gegen den Staat, der per se als Schuldner gegenüber dem Bürger betrachtet wird: ‚Wenn du uns schließt, musst du uns bezahlen‘. Das ist der Motor der neuen separierten Rebellionen“.
Druck auf Conte wächst
Natürlich versucht die rechte Opposition aus den Protesten Gewinn zu ziehen, schwankt aber selbst in der Frage, welcher Kurs nun richtig ist. Das gilt besonders für Lega-Chef Salvini, der im Laufe der Corona-Krise an Konsens verlor. Ausgerechnet er, der sich der Maskenpflicht öffentlich verweigerte und die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie als nutzlos und gefährlich anprangerte, wirft nun der Regierung und dem Ministerpräsidenten vor, sechs Monate lang untätig gewesen zu sein und jetzt den Menschen die Existenzgrundlage entziehen zu wollen. Um einen Tag später zu verkünden, keiner habe den Zauberstab in der Hand und die Opposition werde „Verantwortung zeigen“.
Auch innerhalb der Regierungskoalition gibt es gegenüber den Protesten opportunistische Anbiederungsversuche: Renzis Italia Viva, die zur Koalition gehört und alle Regierungsmaßnahmen mitbeschlossen hat, zeigt auf einmal „Unverständnis“ für die Schließung von Kultur- und Freizeiteinrichtungen. Was den PD-Generalsekretär in Rage bringt: „Man kann nicht am Abend etwas am Regierungstisch beschließen und dann am nächsten Tag Opposition spielen“ kommentiert er verbittert.
Conte selbst blickt in eine unsichere Zukunft: Seine persönliche Zustimmungswerte sind zwar noch hoch (55%), aber um 12 Punkte niedriger als im März und inzwischen auf gleicher Höhe mit Zaia, dem Lega-Gouverneur von Venetien. Sowohl in der Koalition als auch in den Oppositionsparteien formiert sich eine Front, die auf die Bildung einer „Regierung der nationalen Einheit“ schielt, an deren Spitze nicht unbedingt Conte stehen müsse. In den Umfragen ist inzwischen Mario Draghi an die dritte Stelle aufgerückt – dicht dahinter mit 54%.
Letzte Meldung: Heute Abend (30. 10.) werden 30.000 Neuinfektionen in Italien gemeldet. Die Verschärfung des Lockdowns steht schon vor der Tür.
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