Und ewig quält das Wahlgesetz
Nimm an, ein Land braucht ein neues demokratisches Wahlgesetz, worin sich alle einig sind, auch das Verfassungsgericht und der Staatspräsident. In der Theorie einig sind sie sich auch darin, dass es eine Balance verlangt: Einerseits soll das gewählte Parlament die verschiedenen im Volk vorhandenen Strömungen möglichst getreu abbilden, andererseits soll auch möglichst schnell eine handlungsfähige Regierung gebildet werden können. Eine lösbare Aufgabe, möchte man meinen – die Leute, die sie in Angriff nehmen, müssten eben nur einen Moment lang statt auf ihren kurzfristigen Vorteil aufs längerfristige Gemeinwohl bedacht sein.
Nimm nun aber auch an, dass sich in dem Land zwei politische Blöcke gegenüberstehen, von denen jeder meint – mit gutem oder weniger gutem Grund –, dass das Land ökonomisch, sozial, politisch und moralisch einen nicht wieder gutzumachenden Schaden erleiden würde, wenn der jeweils andere bei der nächsten Wahl an die Macht käme. Da werden die scheinbar klaren Grenzen zwischen „eigenem Vorteil“ und „Gemeinwohl“ fließend, und es dient dann eben auch dem Gemeinwohl, wenn man sich bei jedem Entwurf für ein neues Wahlgesetz als erstes fragt, wessen Chancen sich dadurch erhöhen: die eigenen oder die des politischen Gegners. Jeder möchte ja nur das Beste für sich und für das Land. So öffnet sich die Hintertür zur permanenten Manipulation.
Womit wir bei Italien sind: Schon seit Berlusconis Zeiten (der hier besonders hemmungslos war) beschäftigt sich fast jede Regierung mit der Einführung eines neuen Wahlgesetzes. Liegt es vor, hat dann auch oft das Verfassungsgericht ein Wörtchen mitzureden, ob es den Grundsätzen entspricht. Ein eigenes Vorschlagsrecht hat es auch in Italien nicht.
Im Schatten der Rechten: zwischen Populismus …
Das letzte Wahlgesetz sah ein Mischsystem von Verhältnis- und Mehrheitswahl vor, womit – durch eine Mehrheitsprämie noch verstärkt – größere Parteien und Wahlbündnisse begünstigt wurden. Als Salvini im Sommer 2019 im Zenit seiner Popularität das Bündnis mit der 5SB sprengte, hoffte er aufgrund der Umfragen und des Ausgangs der Europawahlen, dass ihm das geltende Wahlrecht bei sofortigen Neuwahlen die absolute Mehrheit bescheren würde. Bekanntlich war es eine Fehlkalkulation, denn er hatte nicht mit der Trotzreaktion der 5-Sterne-Bewegung und dem Selbsterhaltungswillen der Linken gerechnet, die in den Kammern noch fanden, was sie 2019 in der Gesellschaft verloren zu haben schienen: eine Mehrheit, mit der sie Neuwahlen verhindern und Salvinis Machtergreifung zumindest hinausschieben konnten – die Legislaturperiode endet ja erst 2023. Es war keine Vernunftehe zwischen Gleichgesinnten, sondern eher das Bündnis zweier Gegner, die sich nun aber aus Trotz und Angst zusammentaten. Wobei jeder für die eigene Anhängerschaft erkennbar bleiben wollte: Die PD stellte ihren Regierungseintritt als „Beginn einer neuen Ära der Reformen“ und radikalen Bruch mit der bisherigen Politik dar, während die 5SB im Gegenteil Kontinuität suggerieren wollte – vor allem wo sie an den populistischen Impetus anknüpfen konnte, mit dem sie 2018 zur stärksten Partei Italiens wurde. Die Verkleinerung beider Kammern musste deshalb für sie auch auf der Agenda ihres Bündnisses mit der PD bleiben, als Beweis dafür, dass sie ihren Kampf gegen die „Kaste“, der sie ja einst groß machte, nicht aufgab.
… und Reformversprechen
Obwohl die PD den antipolitischen Impetus der 5SB gegen die repräsentative Demokratie nicht teilt, stimmte sie der Aufnahme dieses Punkts ins Regierungsprogramm zu, um das Bündnis nicht zu gefährden. Worauf sie den entscheidenden Schwachpunkt dieser Verkleinerung (weniger Repräsentativität) herunterspielte und ihren verbleibenden Vorbehalt nur noch dadurch zum Ausdruck brachte, dass sie die Parlamentsverkleinerung zum Baustein eines viel umfassenderen parlamentarischen Reformplans erklärte, der ein neues Wahlgesetz, die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums und die Überwindung des „perfekten Bikameralismus“ (nach deutschem Vorbild) umfassen sollte. Dass damit der Dissens zwischen den Bündnispartnern nur oberflächlich übertüncht wurde, zeigte sich im Oktober 2019, als das Gesetz zur Parlamentsverkleinerung seine letzten parlamentarischen Hürden genommen hatte und die 5SB eine öffentliche Freudenfeier veranstaltete, die ganz im Geiste der Antipolitik stand, mit öffentlich zersägten Sesseln usw. Während sie sich bis heute eher hinhaltend und schwerhörig zeigt, wenn die PD nun auch die anderen „Bausteine“ ihrer Reform anmahnt, beginnend mit dem Wahlgesetz.
Der Vorschlag
Dabei schmort zu diesem Wahlgesetz schon seit Januar im zuständigen Parlamentsausschuss ein Entwurf, auf den sich 5SB und PD geeinigt hatten: ein Verhältniswahlrecht, welches das bisher geltende Mischsystem ablöst, in dem etwa ein Drittel der Abgeordneten nach dem Mehrheitsprinzip gewählt wurde. Was auch eine Abkehr vom deutschen „Modell“ bedeutet, das ja ebenfalls ein Mischsystem ist. (Im Januar war die Befürchtung noch groß, bei einer Wahl gegen das vereinigte rechte Bündnis keine Chance zu haben, zumal schon absehbar war, welche Schwierigkeiten die 5SB und die PD haben würden, ihrerseits ein entsprechendes Bündnis einzugehen). Vom deutschen „Modell“ abgekupfert ist die 5%-Barriere, die nun anstelle der bisher geltenden 3% eingeführt werden soll. Allerdings soll Parteien, welche die 5% nicht erreichen, noch eine Chance gegeben werden, wenn sie in einer bestimmten Anzahl von Wahlkreisen bzw. Regionen prozentual besser abschneiden („spanisches Modell“).
Allerdings ist auch dieser Vorschlag umstritten, sowohl links als auch rechts. Die PD unterstützt zwar offiziell das Verhältniswahlrecht, aber es gibt gewichtige Stimmen (Prodi, Letta), die sich für das Mehrheitsprinzip aussprechen. Am lautesten tut es Renzi, der „eigentlich“ schon immer dafür war („am Morgen nach der Wahl muss man wissen, wer gewonnen hat“), aber der sich jetzt doch kompromissbereit zeigt, besonders wenn er an die knappen 3 Prozent denkt, welche die die Umfragen seiner Minipartei gegenwärtig zubilligen. E gibt noch einen Grund, der bei der Linken für Bedächtigkeit spricht, auch wenn Staatspräsident Mattarella Gründen zur Eile mahnt: In Italien pflegt man sich erst kurz vor den Wahlen das passende Wahlgesetz zurechtzubasteln – was jetzt so manchen politischen Akteur zu der Erwartung verführen könnte, dass es nach der Einführung eines neuen Wahlgesetzes auch zu baldigen Neuwahlen kommen müsse. Und da hat es die Linke nicht eilig, auch wenn die Regionalwahlen zeigen, dass ihre Chancen wieder steigen. Am wenigsten eilig hat es aus begreiflichen Gründen die 5SB. Gut Ding braucht eben Weile.
Aber auch die Rechte ist uneins: Dass Salvini für ein Mehrheitswahlrecht ist, ist plausibel, weil die Lega immer noch die stärkste italienische Partei ist. Während Berlusconis Forza Italia für das Gegenteil ist: Die Rechte hat zwar an vielen Orten gute Aussichten auf (relative) Mehrheiten, aber kleinere Parteien wie die FI würden schon bei der Kandidatenaufstellung hoffnungslos unter die Räder geraten.
Eines ist schon klar: Auch diesmal gerät das nächste Wahlgesetz wieder zwischen die Mühlsteine kurzfristiger Interessen. Die institutionelle Schwäche, die sich in Italien nicht nur am „perfekten Bikameralismus“, sondern auch am permanent wechselnden Wahlrecht zeigt, wird bleiben. Sie scheint zu dem Land zu gehören wie das Mittelmeer.