Pandemie: Woher die regionalen Unterschiede?
Die Verbreitung des Corona-Virus sowie die Anzahl schwerer Krankheitsverläufe und Todesfälle variieren in den betroffenen Ländern regional stark, wie empirische und statistische Daten belegen. Das gilt sowohl für die erste Welle im Frühjahr als auch auf die gegenwärtige zweite Welle.
Es geht dabei nicht um vereinzelte lokale Hotspots mit explosionsartig steigenden Infektionszahlen, die durch sogenannte Superspreading-Events verursacht werden, wie z. B. im Fall des Schlachthofs von Tönnies in Rheda-Wiedenbrück (Nordrhein-Westfalen) oder des Ski-Urlaubsorts Ischgl in Österreich. Sondern um ganze Gebiete und Regionen, die eine anomale Beschleunigung des Pandemiegeschehens aufweisen, begleitet von besonders schweren Krankheitsverläufen und einer überproportional hohen Anzahl von Todesfällen.
Rätsel Lombardei
So lag in China die Sterblichkeitsrate in der Region Hubei sechsmal höher als in den übrigen chinesischen Provinzen. In Deutschland führt Nordrhein-Westfalen – gefolgt von Bayern und Baden-Württemberg – die Corona-Statistik an, sowohl hinsichtlich der absoluten Infektionszahlen als auch der Todesfälle. Und bekanntlich sind in Italien die nördlichen Regionen besonders betroffen, wobei die Lombardei eine auch für Norditalien singuläre Stellung – im negativen Sinne – in der Statistik einnimmt. Einige Daten:
Bis zum 27. 11. war es in ganz Italien zu 1.538.217 Infektionen und zu 53.667 Todesfällen gekommen. In der Lombardei zählte man bis zum gleichen Stichtag insgesamt 398.044 Infektionen, also 26% aller Fälle, und 21.393 Tote, also etwa 40% aller in Italien an Covid-19 verstorbenen Patienten.
Der Abstand zwischen der Lombardei und den norditalienischen Regionen, die ebenfalls überdurchschnittlich von der Pandemie betroffen sind, ist groß: in Piemont betrug die Gesamtzahl der Infektionen bis zum gleichen Tag 162.165 und die der Todesfälle 4.153; in Venetien 137.474 Infektionen und 3.561 Tote. Was könnten die Gründe für eine solche übermäßige Verbreitung und Intensität des Virus in der Lombardei sein?
Der Erklärungsansatz, gerade in dieser Region sei das öffentliche Gesundheitswesen im Laufe vieler Jahre zugunsten der Gewinnmaximierung im privaten Sektor und zu Lasten des Gemeinwohls abgebaut worden, kann nur eine Teilantwort sein. Denn ähnliche Missstände gibt es – leider – auch in anderen Regionen Italiens, ohne dass es dort zu einer vergleichbaren pandemischen Intensität wie in der Lombardei kam. Insofern greift auch das von Mittelinks gerne verwendete Argument zu kurz, für das lombardische Desaster sei allein die Lega verantwortlich, die dort seit Jahrzehnten bis heute mit dem – in der Tat unfähigen – Gouverneur Fontana die Regionalregierung stellt.
Auch Faktoren wie Altersstruktur, Bevölkerungsdichte und soziokulturelle Gewohnheiten – von den oft genannten „körpernahen“ Begrüßungsritualen bis zum Wohnen in generationsübergreifenden Familiengemeinschaften – können nur bedingt für die besondere Entwicklung in den nördlichen Regionen, allen voran der Lombardei, verantwortlich sein. Denn diese Faktoren sind nicht nur dort anzutreffen, im Gegenteil: Einige von ihnen, zum Beispiel kulturelle Umgangsformen mit körperlichem Kontakt und Großfamilien unter einem Dach, sind in Süditalien stärker ausgeprägt
Es gibt auch keine empirischen Belege dafür, dass die Menschen in der Lombardei beim Einhalten der Corona-Regeln im Vergleich zu anderen Regionen besonders nachlässig sind. Eine große Mehrheit der Bürger dort befolgt diese vielmehr diszipliniert. Was interessanterweise für ganz Italien gilt, im Widerspruch zur verbreiteten Annahme, Italiener seien per se „anarchisch“ veranlagt und würden Regeln nur unter dem Aspekt beachten, wie man sie am besten umgeht. Zumindest in Bezug auf die Pandemie trifft das nicht zu (wie übrigens auch auf die Einführung des Rauchverbots in den Lokalen im Januar 2005, das die Bürger, zum Erstaunen vor allem ausländischer Medien, ohne Murren hinnahmen).
Bleibt also die Frage, ob es andere signifikante Ursachen gibt, die für die anomale pandemische Entwicklung in bestimmte Regionen (mit)verantwortlich sind. Und hier scheinen vor allem Umweltfaktoren eine wichtige Rolle zu spielen.
Feinstaubkonzentration und Virusverbreitung
Die Untersuchung dieser Frage beschäftigte die Wissenschaftler schon lange vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie. 2010 hatten chinesische Forscher in einer Studie über die Vogelgrippe einen exponentiellen Zusammenhang zwischen den Infektionszahlen und der Konzentration von Feinstaubpartikeln (PM10 und PM2.5) in der Luft festgestellt, u. a. infolge der dortigen Stürme. Zu ähnlichen Ergebnisse kam eine Forschergruppe mit Experten aus China, Australien und Finnland, welche die Ursache für die Zunahme von Masernfällen in verschiedenen chinesischen Städten im Zeitraum 2013-2014 untersuchte. Auch hier korrespondierte die erhöhte Virusaktivität mit einer besonders hohen Feinstaubbelastung in der Luft.
Nach Ausbruch der Corona-Pandemie kam eine Expertengruppe italienischer Wissenschaftler aus den Universitäten von Mailand, Bologna, Triest und Bari zu ähnlichen Ergebnissen, welche die „Italienische Gesellschaft für Umweltmedizin/SIMA“ bereits im März 2020 veröffentlichte. Während sich in Süditalien – auch in Großstädten wie Rom – die Infektion wie eine typische Epidemie ausbreite, die von Person zu Person übertragen wird, sah man in den Regionen der Po-Ebene eine „anormale Beschleunigung“, wie sie durch einen anderen Träger entsteht, stellen die Wissenschaftler fest. Einen solchen „Vektor“ (Vehikel) könnten nach ihrer Ansicht die Feinstaubpartikel bilden, deren Konzentration in der Po-Ebene europaweit die höchste ist. Die Viren (sowie auch andere chemisch und biologisch kontaminierte Substanzen) würden an diesem Vehikel „kleben“ und sich dadurch – auch über längere Zeitspannen und größere Entfernungen – ausbreiten.
Wie lange die Viren auf den Partikeln haften und infektiös bleiben, konnten die Wissenschaftler allerdings nicht präzisieren. Insofern bleibt der von ihnen postulierte Zusammenhang zwischen Feinstaubkonzentration und beschleunigtem Anwachsen des Infektionsgeschehen zunächst eine Hypothese.
Was man aber mit Studien auch aus anderen Ländern (aus Deutschland, Kanada und USA) konkret belegen konnte: Wenn man sich infiziert hat, wirkt sich der Grad der Luftverschmutzung (einschließlich der Feinstaubbelastung) signifikant auf den Krankheitsverlauf aus: Mit ihm steigt das Risiko von Krankenhausbehandlungen und eines schweren bis tödlichen Verlaufs deutlich (bis zur Verdoppelung). Das führen die Wissenschaftler darauf zurück, dass der Gesundheitszustand der Bevölkerung in Gebieten mit hoher Schadstoffbelastung sowohl im Hinblick auf die Organfunktionen als auch auf das Immunsystem fragiler bzw. „vorbelastet“ ist.
Auch weitere Umweltbedingungen – u. a. atmosphärische Temperatur, Sonneneinstrahlung, Luftfeuchtigkeit – könnten nach Meinung der italienischen Wissenschaftler für den Grad infektiöser Intensität eine Rolle spielen, die näher zu untersuchen wären. Nicht zuletzt wäre es wichtig, unter diesen Gesichtspunkten auch unterschiedliche Verläufe der Corona-Pandemie in anderen Ländern zu untersuchen.
(Vorläufiges) Fazit
Angesichts des noch partiellen Erkenntnisstands, sowohl was empirische Daten als auch (länderübergreifende) wissenschaftliche Untersuchungen angeht, scheint es am wahrscheinlichsten, dass monokausale Erklärungen für die zum Teil krassen regionalen Unterschiede beim Verlauf der Pandemie nicht greifen.
Eher ist von einem Zusammenwirken sehr unterschiedlicher Komponenten auszugehen: vom Zustand und von der Funktionsfähigkeit des öffentlichen Gesundheitswesens (besonders in dessen dezentraler Ausstattung) bis zu umweltbedingten, demographischen, soziokulturellen und politischen Wirkungsfaktoren.
Eine besondere Aufmerksamkeit sollte allerdings dem Faktor Umwelt gewidmet werden, jedenfalls eine größere als bisher. Nicht nur der Luftqualität, sondern auch der ganzen Komplexität klimatischer Veränderungen, der Qualität von Wasser und Lebensmitteln, der Artenvielfalt und dem Umgang mit natürlichen Ressourcen.
Dies wird auch für die Zeit nach dem ersehnten Beginn der Anti-Covid-Impfungen gelten, selbst wenn es mit ihnen – hoffentlich – gelingt, das Virus zurückzudrängen. Denn: Nach der Pandemie ist vor der (nächsten) Pandemie.
Seit einigen Tagen zeichnet sich eine Abschwächung der zweite Welle ab, in Italien wie auch in Deutschland und anderswo in Europa. Eben konnte auch die Lombardei von einer „roten“ zu einer „gelben“ Zone erklärt werden, mit etwas weniger drastischen Restriktionen, u. a. Wiedereröffnung der Einzelhandelsgeschäfte (mit Blick auf Weihnachten). Denn die Zahl der Neuinfektionen geht leicht zurück und auch die Krankenhäuser melden einen Rückgang von Intensivpatienten und Todesfällen. Doch Ärzte, Virologen und andere Experten warnen: Es gilt, die Eindämmungsmaßnahmen fortzuführen und sie weiterhin zu beachten, um eine dritte Welle zu vermeiden. Von einer quasi flächendeckenden Impfimmunisierung sind wir noch weit entfernt.