Wenn die Angst vor der Zukunft wächst
Artikel von Massimo Recalcati
Vorbemerkung der Redaktion: Massimo Recalcati, einer der bekanntesten Psychoanalytiker Italiens, veröffentlichte am 31. Oktober in der „Repubblica“ einen Artikel unter dem Titel „Se cresce la paura del futuro“, der zu erklären versucht, warum die „zweite Welle“ der Pandemie noch traumatischer erlebt wird und teilweise noch heftigere Reaktionen auslöst als die erste. Er stützt sich dabei auf seine therapeutischen Erfahrungen, aber beschreibt Mechanismen, die die auch im außerklinischen Bereich wirksam sein könnten (nicht nur in Italien).
„Die erste Welle war ein Schlag ins Gesicht. Mit Mühe haben wir seine Gewalttätigkeit ertragen und bewältigt. Der Sommer erschien da wie die Ankündigung des Endes eines Alptraums. Aus diesem Grund war die zweite Welle ebenso unerwartet wie die erste. Niemand erwartete, dass sie so kommen würde. Nur ein paar Kassandras beharrten auf weiteren Ermahnungen. Die Luft, die wir atmeten, war zweifellos die einer Rückkehr ins Leben. Der Verlust an Freiheit verkehrte sich ins Gegenteil, in ihre dumpfeste Affirmation, ohne noch die scheinbar stille Präsenz des Virus zwischen uns zu berücksichtigen. Die Verdrängung des Übels überwog. Nicht nur bei den Negationisten, sondern im Grunde bei uns allen. Die Zwischenzeit des Schreckens stand vor ihrem Ende. Davon waren wir überzeugt. Von der zweiten Welle berichteten zwar Geschichtsbücher der Medizin und der Epidemien, aber uns würde das nie passieren. Mit diesem unbewussten Exorzismus wollten wir so schnell wie möglich den Horror vergessen, den wir durchlebt hatten.
Die zweite Welle erscheint vor diesem Hintergrund noch schrecklicher als die erste, weil sie auch die Trauer über die vergeblich erhoffte Heilung umfasst. Es ist der Charakter eines Traumas, das jedes Rezidiv begleitet. Die unvermeidliche Wehrlosigkeit, die schon die erste Welle begleitete, zeigt sich also auch bei der zweiten, aber diesmal beschwert durch die Schuld: Wir wussten es, aber wollten das Gewusste ignorieren. Wir wurden aufs Neue überrascht, obwohl die zweite Welle schon ganz in die erste eingeschrieben war. Die Dumpfheit des Lebens, das auch jenseits seines Schutzes leben will, ist eine Form dessen, was Freud den Todestrieb nannte. Der Verzicht auf Vorsicht, der unseren Sommer charakterisierte, zeigt das sorglose Wesen des Menschlichen, das wir heute zur Einbahnstraße gemacht haben. Jeder vorsichtige Appell an die Wachsamkeit wurde als Machtmissbrauch betrachtet, als Ausdruck einer Gesundheitsdiktatur mit sadistischem Einschlag. Aber die erneute Affirmation grenzenloser Freiheit ließ uns erneut in ein Drama fallen.
Können wir aus dieser Lektion etwas lernen? Was ich von meinen Patienten während der ersten Welle hörte, wurde vom Ohnmachtsgefühl gegenüber dem Unerhörten beherrscht. Die häufigsten Symptome angesichts der sich verstärkenden Epidemie waren fobische Flucht und sozialer Rückzug. Diese Symptome passten zu den Maßnahmen, die notwendig waren, um die bösartige Verbreitung des Virus einzudämmen (Abstand, Begrenzung, Quarantäne, Nachverfolgung). Gegenüber der Bedrohlichkeit und Unbestimmtheit der Gefahr hatte das Wiedereinziehen sicherer Grenzen für viele eine angstmindernde Wirkung. Bei der zweiten Welle hat sich das klinische Bild grundlegend geändert. Die Panik, welche die ersten individuellen und kollektiven symptomatischen Reaktionen charakterisierte (Ansturm auf Züge und Supermärkte), scheint jetzt eine noch düsterere Färbung anzunehmen. Es ist nicht mehr nur das Gefühl der ersten Welle, in eine Falle ohne Fluchtwege geraten zu sein, sondern ohne Netz fallengelassen und ohne Zukunft sich selbst überlassen zu sein. Es ist eine mit tiefer Depression verflochtene Panik.
Bei der zweiten Welle bezieht sich das wahre Trauma nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft. Indem die allgemein geteilte Illusion einer Rückkehr ins Leben zertört wurde, hat sie den Horizont des Alptraums erweitert. Die zweite Halbzeit ist noch traumatischer als die erste, weil sie zeigt, dass das Übel nicht überwunden ist, sondern weiterhin mitten zwischen uns lebt. Die im Sommer entstandenen Hoffnungen sind zerstört. Was heute vorherrscht, ist das Gefühl dieser Enttäuschung.
Sich vom zweiten Niederschlag hochzurappeln ist immer schwerer als vom ersten. Die Erfahrung ist klinisch: Die Rückkehr des Traumas – sein Rezidiv – kann traumatischer als sein erstes Mal sein. In der Panik der zweiten Welle steckt auch das Gefühl, nie mehr ins Leben zurückkehren zu können. Das ist, glaube ich, der Grund, warum jetzt viele meiner depressiven Patienten ausdrücklich Präsenzsitzungen fordern, statt der Sitzungen auf Distanz, die während der ersten Welle üblich geworden waren. Sie empfinden die Notwendigkeit, die Distanz zu verringern und sich nicht in der Leere des Bildschirms zu verlieren. Es sind Umstände, in denen sich alle Schwächeren und von der ökonomischen Krise Betroffeneren befinden. Sie brauchen eine fassbare Nähe, die ihnen unmittelbaren Halt gibt und eine Fürsorge vermittelt, die nicht aufgeschoben werden kann.“