Der Schutz fragilen Lebens – Anleitung für ein anderes Weihnachten
von Massimo Recalcati
Vorbemerkung der Redaktion: Viele westliche Beobachter kritisieren am heutigen Islam, sich nicht mit genügender Klarheit von seiner fundamentalistischen Interpretation durch diejenigen zu distanzieren, die „Islamisten“ genannt werden. Sie tun es zu Recht, übersehen dabei aber, dass es auch in den sogenannten „christlichen“ Ländern eine unausgetragene Koexistenz widersprüchlicher Interpretationen gibt. Siehe die identitäre Rezeption der Weihnachtsbotschaft, die sich eigentlich an alle Menschen richtet, aber in ihr Gegenteil verkehrt wird, wenn ihr Gehalt und das mit ihr verbundene Ritual zum Kulturgut erklärt wird, das gegen die „Invasion der Fremden“ verteidigt werden muss. Dort Öffnung, hier Schließung, mit mörderischen Konsequenzen.
Massimo Recalcati, der den nachfolgenden und von uns übersetzten Beitrag am 22. 12. in der „Repubblica“ veröffentlichte, ist ein bekannter italienischer Psychoanalytiker, Universitätsdozent und Essayist, der Beiträge für verschiedene Zeitungen (neben „Repubblica“ auch „Il manifesto“ und „La Stampa“) schreibt. Ob er ein gläubiger Christ ist, wissen wir nicht, zumal sich der folgende Text explizit auch an „Laizisten“ wendet. Auf jeden Fall zeigt er, dass es auch im katholisch geprägten Italien eine Denktradition gibt, die – wie der argentinische Papst Franziskus – aus der Berufung auf die eigenen Wurzeln die universellen Menschenrechte ableitet. Als Psychoanalytiker sieht er in der Pandemie die Chance, wieder die „tragische Grenze ans Licht zu bringen, die das Leben grundlegend mit dem Tod vereint“. Und in diesem Licht die Weihnachtsbotschaft als die Verkündigung der „unermesslichen Sakralität“ jedes menschlichen Lebens zu hören. Und zwar gerade auch des besonders schutzlosen Lebens, das nach Zuwendung („cura“), Aufnahme („accoglienza“) und Nahrung (nicht allein materieller Natur) verlangt. Also nach den Gütern, die das Leben selbst erst „menschlich werden lassen“. Krasser kann der Widerspruch zur identitären Lesart nicht sein.
„Es wird ein Weihnachten sein, das sich vom üblichen unterscheidet. Es kann gar nicht anders sein. Aber vielleicht wird es auch ein Weihnachten, das sich dem ursprünglichen Sinn dieses Festes nähert. Seine Entsakralisierung scheint im Laufe der vergangenen Jahrzehnte unaufhaltsam geworden zu sein. Schon lange haben wir Weihnachten seine symbolische Bedeutung genommen und es auf einen seelenloses Konsumritual reduziert. Die Geburt Jesu ist nichts anderes als ein Märchen unter vielen geworden, das nur dazu gut ist, unsere Kinder zu erheitern, solange sie noch in dem Alter sind, das kein kritisches Denken kennt. Sogar die religiöse Zeremonie ist meist zu einem mondänen Anlass für geselliges Zusammensein geworden.
Doch das Covid-Trauma bringt plötzlich wieder ans Licht, was wir zu vergessen suchten, nämlich die tragische Grenze, die das Leben grundlegend mit dem Tod vereint. Dass wir von Tod und Krankheit umgeben sind, müsste bei uns einen veränderten Blick erzeugen, eine Bereitschaft zur Solidarität mit denjenigen, die schwächer sind, und leiblich oder ökonomisch durch das Virus besonders stark betroffen sind. Es müsste uns dazu bringen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Stattdessen – auch angesichts der Wunden der Pandemie – beharren viele darauf, feiern zu wollen, wobei sie die unverlierbare Schönheit der Geselligkeit, des gegenseitigen Beschenkens und des familiären Zusammenseins bekräftigen. Es ist der unreflektierte Negationismus, der zu unserem Leben und unserer magisch-kindlichen Denkweise gehört, die uns wähnen lässt, wir wären bereits aus dem schrecklichen Sumpf herausgekommen, in dem wir uns befinden. Dieser Drang zu feiern weigert sich, die dramatische Notsituation wahrzunehmen, in der wir alle noch stecken und die eigentlich jede Art von Feierlichkeit falsch und deplaziert erscheinen lässt.
Das Kind in der Krippe offenbart den Zustand der Verlassenheit, der uns von unserem Ursprung her eigen ist. Das Schicksal des kleinen Jesus ist schon geschrieben, es ist das des Sterbens am Kreuz. Doch dieses Schicksal zum Tode beseitigt nicht die Notwendigkeit, das Leben zu hüten, das nun in die Welt eintritt – im Gegenteil, diese Notwendigkeit wird dadurch potenziert. Es geht darum, das Lebens eines Jeden „unermesslich heilig“ (immensamente sacra) werden zu lassen – wie sich Papst Franziskus in seiner letzten Enzyklika „Fratelli tutti“ ausdrückt –, indem der christliche Gott sich in skandalöser Weise zu seiner „kenosis“, seiner Menschwerdung entscheidet und zum Kind macht. Seine Fragilität zeigt, dass das, was das Leben menschlich macht, die Gnade der Hinwendung ist zu dem, was es umgibt, die Wärme des Kontaktes, die Präsenz des Anderen, das Geschenk. Ist das etwa nicht die wichtigste Lehre des Weihnachtsfestes, die wir in der grausamen und bisher nie erlebten Covid-Zeit mehr als alles andere verinnerlichen müssten? Unerträglich wird dann das Gejammere über die verpasste Feier, das verhinderte gesellige Treffen, den von der Regierung verordneten sozialen Abstand, die Zerstörung unserer Rituale.
Dieses wird notgedrungen ein anderes Weihnachten, das uns dahin bringen müsste, seine Bedeutung wieder zu sakralisieren: Das Leben des Schutzlosen ist das eines seltsamen Gottes, der Zuwendung verlangt, um zu überleben. Hier liegt das phänomenale Paradoxon der christlichen Weihnacht! Sein sakraler Sinn beharrt darauf, uns an den fundamentalen Gestus der Aufnahme zu erinnern, ohne die das Leben nicht menschlich werden kann, sondern in totale Verlassenheit abstürzt. Denjenigen, die die Türen ihrer Häuser verschließen und der aus der Ferne kommenden Familie die gastliche Aufnahme verweigern, stehen jene gegenüber, die dem Ereignis glaubten und in der Nacht herbeieilten, um das göttliche Kind anzubeten, das in einem Stall Schutz fand. Die Weihnachtsnacht verkündigt nach der christlichen Erzählung, wie wir wissen, die Ankunft des „Retters“ in der Welt. Gibt es eine laizistische Lesart für die mächtige Kraft dieser Erzählung? In meinen Augen besteht sie in dem Geschehen, welches das menschliche Leben unermesslich heilig macht. In der traumatischen Zeit der Pandemie erinnert uns das Weihnachtsfest daran, dass jeder Tod nie ein anonymer Tod ist, sondern der Tod des unermesslich Heiligen. Augustinus denkt über die im Lukas-Evangelium beschriebene Handlung Marias nach, ihren „Erstgeborenen“ in eine armselige Krippe zu legen, um so die Äquivalenz des Körpers Jesu mit dem Nähren zu unterstreichen.
Dieses Weihnachten wird keine Zeit zum Feiern sein, sondern eine, in der wir gezwungen werden, an die Existenz einer anderen Art des Nährens zu denken, als die, die wir üblicherweise mit unserer mondänen Verständnis von Weihnachten verbinden. Das Leid und die Toten dieses schrecklichen Jahres verlangen es von uns.“