ESM-Reform bringt Regierung in Not
Vor zwei Wochen berichteten wir über die „Generalstände“ der Grillini, die viele Beobachter erwarten ließ, sie würden endlich zu ihrer Identitätsfindung beitragen. Und mit der Hoffnung, dass sich dies positiv auf die Handlungsfähigkeit des Regierungsbündnisses auswirken werde. Die Hoffnung ist schon wieder verflogen – sie droht am ersten Prüfstein zu zerschellen, der ihr in die Quere kommt. Dies könnte schon am 9. Dezember geschehen, wenn Regierungschef Conte den Kammern berichtet, mit welchen Absichten er einen Tag später nach Brüssel fliegt, und dafür um parlamentarische Rückendeckung bittet.
Das Brüsseler Treffen
Denn am 10. Dezember trifft sich in Brüssel der Europäische Rat, dem am 11. Dezember eine Sitzung des Euro-Gipfels folgt. Auf der Tagesordnung steht natürlich das drohende Scheitern des gesamten Recovery-Projekts aufgrund des Vetos von Ungarn, Polen und Slowenien gegen den Rechtsstaat-Vorbehalt. Zunächst aber soll die Reform des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) abgesegnet werden, auf die sich die Euro-Finanzminister nach langen Verhandlungen am 30. November geeinigt haben und die vor allem den Banken ein Stück mehr kollektive Haftung bringt: Wenn sich in einer neuen Finanzkrise die Mittel des brancheneigenen Fonds SRF als nicht ausreichend erweisen sollten, um alle in die Schieflage geratenen Banken zu retten, soll der ESM die Rolle des letzten Rettungsschirms übernehmen. Wobei man hofft, dass er möglichst selten in Anspruch genommen wird, weil allein schon seine Existenz dazu beitragen werde, spekulative Angreifer zu entmutigen.
Weil es aber am 11. Dezember um das Kernstück einer grundsätzlichen Reform des ESM gehen soll, wird in ihr nicht nur festgeschrieben, was am Mechanismus verändert, sondern auch, was an ihm nicht verändert werden soll: die Bindung der Finanzhilfen für in die Krise geratene Länder an die Bedingungen des Stabilitätspakts, z. B. die Schuldenbremse, die in jedem Fall zu beachten ist, und die mögliche Auflage von Strukturreformen nach Eintreten des Krisenfalls. Dass diese Bedingungen auch gelockert werden können, bewies die EU durch zwei Neuerungen, zu denen sie sich angesichts der Pandemie in diesem Jahr durchgerungen hat: im Mai durch den Beschluss der EU-Kommission, ESM-Mittel für die Sanierung der durch die Pandemie angeschlagenen Gesundheitssysteme der Euro-Länder freizugeben, und später durch den gemeinschaftlich einzurichtenden Recovery Fund, mit dessen Mitteln die ökonomische Folgekrise der Pandemie bewältigt werden soll, und zwar ohne sie (in beiden Fällen) den Vorgaben der Schuldenbremse unterwerfen zu müssen. (Dass dieser Plan noch nicht in trockenen Tüchern ist, steht auf einem anderen Blatt).
Die Falle des Parlaments
Nun kommt der Haken: Wenn Conte als italienischer Regierungschef am 10. Dezember nach Brüssel reist, um die ausgehandelte ESM-Reform abzusegnen und das – eigentlich noch viel wichtigere – Recovery-Projekt wieder flott zu machen, braucht er dafür am 9. Dezember seitens beider Kammern grünes Licht. Eigentlich wäre zu erwarten, dass ihm dies problemlos gelingen müsste, denn ein zusätzlicher Rettungsschirm für die Banken ist eine alte Forderung Italiens, und das Land wäre auch der größte Nutznießer des Recovery Funds. Aber wo der Populismus so tiefe Wurzeln schlug wie in Italien, ist Rationalität ein knappes Gut.
Von Salvini und Meloni, den beiden gegenwärtigen Führern der italienischen Rechten, weiß man, dass ihr Nationalismus sie ins Lager der Antieuropäer treibt – in Wahrheit richtet sich Salvinis Argument, dass kein italienischer Euro dazu verwandt werden dürfe, um eine deutsche Bank zu retten, eher gegen Europa insgesamt als nur gegen Deutschland. Es saugt seinen Honig daraus, dass jede europäische Regelung potenzieller Hilfsmaßnahmen zunächst offen lassen muss, welcher Bank in welchem Land sie im konkreten Fall zugutekommen. Was jedem Nationalisten die Möglichkeit gibt, die (theoretische) Möglichkeit, dass diese Mittel auch einem anderen Land als dem eigenen zugutekommen könnten, zum verborgenen „wahren“ Zweck der Übung zu erklären. Eine Gedankenführung, mit der jede Gemeinschaft oberhalb der nationalen Ebene von vornherein für obsolet und verlogen erklärt werden kann (was die italienischen Legisten, französischen Lepenisten und deutschen AfDler nicht hindert, in Europa eine gemeinsame „Front“ zu bilden und sich gegenseitig zu Kundgebungen einzuladen).
Dass sich also Salvini und Meloni weigern, Conte für seine Reise nach Brüssel am 9. Dezember grünes Licht zu geben, war zu erwarten. Nicht ganz so selbstverständlich ist es, dass sich ihnen inzwischen auch Berlusconi anschloss, zumal seine Partei Forza Italia auf europäischer Ebene immer noch zur EVP gehört, deren Führung maßgeblich zur Entwicklung der jetzt auf der Brüsseler Tagesordnung stehenden Projekte beitrug. Von ihm gab es in den letzten Wochen ein paar Signale, dass er nicht einfach den antieuropäischen Kurs der italienischen Ultrarechten mittrug. Die Erklärung dafür, dass er hier letztlich doch einknickte, ist einfach: Salvini stellte ihm ein entsprechendes Ultimatum, das ihm offenbar bewusst gemacht hat, dass er sich inzwischen auf dem Altenteil der italienischen Rechten befindet und es für ihn besser ist, ohne Widerspruch das ihm hier gewährte Gnadenbrot zu verzehren.
Das Kellergespenst
Aber der Populismus beherrscht nicht nur die souveränistische Rechte, sondern sitzt auch beim gegenwärtigen Regierungsbündnis mit am Tisch. Und zwar in Gestalt einer innerlich zerrissenen 5-Sterne-Bewegung, die ihre programmatische Leere dadurch zu überdecken sucht, dass sie wieder die alten Schreckgespenster aus dem Keller holt, mit denen sie in früheren Jahren eine Art Massenkonsens erreichte. Ein solches Schreckgespenst war die von Brüssel auferlegte und vor allem immer wieder beschworene „Austerität“, welche die EU zwar nur selten durchhielt – wo sie damit Erfolg hatte, wie Griechenland, war die Wirkung eher abschreckend –, die aber die Spätwirkung hat, zumindest als Gespenst noch (negativ) identitätsstiftend zu sein. So dass es schon genügt, dass der Entwurf für einen reformierten ESM-Vertrag den Hinweis auf den alten Stabilitätspakt enthält, um alle Abwehrreflexe zu mobilisieren, koste es was es wolle. Da hilft auch nicht der Hinweis auf die Banken-Union, und es reicht auch nicht, dass Italien zwar die ESM-Reform unterstützt, aber bei der Sanierung seines Gesundheitswesens auf die angebotenen ESM-Mittel verzichtet (ein Weg, den offenbar andere Länder der EU gehen, weil sie glauben, die Inanspruchnahme dieser Mittel werde sie einem „Stigma“ aussetzen). Nein, der Europäische Stabilitätsmechanismus muss grundsätzlich verschwinden, auch wenn die Mehrheit der europäischen Länder für seine Beibehaltung plädiert. Knapp 70 Abgeordnete der 5SB unterschrieben einen offenen Brief, in dem Conte aufgefordert wird, den ESM-Reformvertrag in Brüssel nicht zu unterschreiben, und in dem sie gleichzeitig ankündigen, ihm auch keine entsprechende Vollmacht zu erteilen. Vor allem im Senat, in dem die Mehrheitsverhältnisse knapp sind, könnte ihre Zahl reichen, um ihm das grüne Licht für seine Reise nach Brüssel zu entziehen.
Was dann geschieht, ist unklar – Contes Position in Europa wäre schwer angeschlagen, und er könnte sich zum Rücktritt veranlasst sehen, mit der wahrscheinlichen Folge von Neuwahlen. Für Italien wäre es gerade in der jetzigen Situation eine Katastrophe, und für Europa ein großer Rückschlag, in einem Moment, in dem es wegen des Vetos Polens und Ungarns gegen das Recovery-Projekt sowieso am Rande des Abgrunds steht. Ganz zu schweigen von der Rolle, die Italien künftig in diesem Europa spielen wird.
Di Maio versucht gerade, die Dissidenten durch individuelle „Von-Mund-zu-Mund-Beatmung“ von ihrem Vorhaben abzubringen, am 9. Dezember gegen die Vollmacht für Conte zu stimmen. Vermutlich morgen werden wir wissen, mit welchem Erfolg. Der ganze Vorgang zeigt einmal mehr, an welch dünnem Faden diese Regierung hängt.
Nachbemerkung 1: Die letzte Meldung aus dem grillinischen Lager besagt, dass etwa zehn Senatorinnen und Senatoren aus ihrer Fraktion bei ihrem „Nein“ zur Vollmacht für Conte bleiben wolle, was ihm im Senat die Mehrheit kosten könnte. Nun ist die letzte Hoffnung, dass eine etwa ebenso große Gruppe von gegenwärtigen oder ehemaligen Forza Italia-Abgeordneten für Conte stimmt oder der Abstimmung zumindest fernbleibt. Wenn dies zuträfe, hinge alles an diesem Faden. Und die Regierung wäre zumindest angezählt.
Nachbemerkung 2: Nach den Unsicherheiten, welche die Profilneurose der 5SB dem Bündnis bereitet, ist schon das nächste Sturmtief im Anzug. Renzi – der mit seiner Italia Viva-Gruppe ebenfalls zur Koalition gehört – droht, den Plan für die italienische Verwendung der Recovery-Mittel, den die Conte-Regierung nun endlich vorgelegt hat, nicht mittragen zu wollen.
Nachbemerkung 3: Nun ist auch Contes Innenministerin, Lamorgese, Covid-positiv. Die Regierungssitzung vom 7. 12. ist schon ausgefallen. Vielleicht muss jetzt die halbe Regierung in Quarantäne gehen.
Nachbemerkung 4, am Morgen des 10. Dezember nach der Abstimmung in beiden Kammern: Nun hat Conte doch noch von beiden Kammern grünes Licht für seine Reise nach Brüssel bekommen. Das Abstimmungsergebnis im Senat, wo das Stimmenverhältnis sowieso am knappsten ist, lautete 156 Ja- zu 129 Nein-Stimmen, bei 4 Enthaltungen. Das sind fünf Stimmen weniger als die absolute Mehrheit (die bei 161 liegt), die aber hier glücklicherweise nicht vonnöten war.Von den Senatorinnen und Senatoren der 5-Sterne-Bewegung stimmten letztlich nur 2 dagegen, 9 entzogen sich der Abstimmung. Was den Stimmungsumschwung derer bewirkte, die eigentlich dagegen stimmen wollten, brachte hinterher die grillinische Abgeordnete Taverna in einem Interview mit der „Repubblica“ auf den Punkt: Damit habe zwar Conte die Vollmacht, in Brüssel auch für die ESM-Reform zu stimmen, aber da nun klar sei, dass Italien niemals auf ESM-Mittel zurückgreifen werde, sei auch ein für allemal der Stabilitätspakt „begraben“. Das sei ein „Sieg“. Worin der Keim für weitere Konflikte mit der EU und mit der pro-europäischen PD enthalten ist.