Ein staatlicher Auftragsmord

Am 3. Februar 2016 wurde in einem Kairoer Straßengraben die halbnackte Leiche eines jungen Italieners gefunden. Es war der seit neun Tagen vermisste Giulio Regeni. Die Leiche wurde nach Rom überführt und dort obduziert. Ergebnis: ausgerissene Finger- und Fußnägel, ein eingerissenes Ohr, Spuren auf dem Körper ausgedrückter Zigaretten, Male von Stockschlägen unter den Fußsohlen. Frakturen im Schultergelenk, in den Ellenbogen, Rippen, Fingern und Rückenwirbeln,. Der Todeskampf muss qualvoll gewesen sein. Zum Schluss wurde Regeni das Genick gebrochen.

Vertuschungen

Die römische Staatsanwaltschaft begann zu ermitteln. Obwohl der ägyptische Innenminister sofort behauptete, nie von Regeni gehört zu haben, tippten Szenekenner auf den ägyptischen Geheimdienst – mit dieser „Handschrift“ hatte er Tausende von Regimegegnern liquidiert. Die von den ägyptischen Behörden gelieferten Erklärungen waren so unwahrscheinlich und änderten sich so schnell, dass sie den Anfangsverdacht eher bestätigten – allzu deutlich war das Bestreben, die Verursacher möglichst fern von den eigenen Staatsorganen anzusiedeln. Erste Erklärung: Regeni sei „Opfer eines Verkehrsunfalls“ – seit wann werden einem dabei die Fingernägel ausgerissen? Die nächste war nicht weniger dreist: Es habe sich um eine „Abrechnung im Drogen- und Schwulen-Milieu“ gehandelt. Als in Italien Regenis Eltern, die Öffentlichkeit und schließlich auch die Regierung insistierten, präsentierte die ägyptische Seite ihre ultimative Version: Ihn habe eine inzwischen identifizierte „Verbrecherbande“ überfallen, in deren Wohnung sogar sein Personalausweis gefunden worden sei. Da es bei der polizeilichen Verfolgung zur Schießerei kam, seien alle Bandenmitglieder ums Leben gekommen, weshalb man sie leider nicht mehr vor Gericht stellen könne. Womit der Fall geklärt und abgeschlossen sei.

Die römische Staatsanwaltschaft kam zu einem anderen Ergebnis. Anfang Dezember legte sie nach fünfjährigen Ermittlungen einen 94-seitigen Bericht vor, der nun als Grundlage für eine Anklage wegen Mordes dient – geplant und begangen von einem General, zwei Obersten und einem Major des ägyptischen Dienstes für nationale Sicherheit (NSA), die mit Rang, Namen und Geburtsjahr genannt werden. Der erstaunlich konkrete Bericht ist durch die Aussagen von Zeugen belegt, die nicht in Ägypten leben und im Bericht anonymisiert sind. Die Anwältin der Familie Regeni scheint bei ihrem Aufspüren eine entscheidende Rolle gespielt zu haben.

Hier eine Zusammenfassung:

Die Vorgeschichte

Giulio Regeni hatte in England Arabistik und Politik studiert und 2011 am Girlton College der Universität Cambridge ein weiterführendes Studium begonnen. Eigentlich wollte er eine Dissertation über die ägyptische Industriepolitik schreiben, wurde aber durch seine Tutorin Maha Abdelrahman (eine Cambridger Dozentin mit ägyptischen Wurzeln) zu einem anderen Thema überredet: Geschichte und Strukturen der unabhängigen ägyptischen Gewerkschaften, die nach dem Sturz Mubaraks entstanden. Da Regeni kein politischer Naivling war (im „Manifesto“ hatte er pseudonym regimekritische Artikel über al-Sisi veröffentlicht),  stimmte er der Änderung nur zögernd zu – einem Freund schrieb er, mit einer solchen Untersuchung in gefährliche Gewässer geraten zu können. Noch verhängnisvoller wurde für ihn eine weitere Idee seiner Professorin: bei der britischen Stiftung Antipode eine Beihilfe von 10.000 Pfund Sterling zu beantragen. Antipode unterstützt Projekte, die Befreiungsbewegungen beforschen, „partizipativ“. Für Regeni bedeutet dies, im Falle einer Bewilligung Gewerkschaften, mit denen er in Kairo in Kontakt kam, eine finanzielle Unterstützung anbieten zu können.

Nach seinem Tod hatte die Professorin einen Moment, in dem sie die Leichtfertigkeit ihrer Einflussnahmen erkannte. Die Staatsanwaltschaft fand auf ihrem Laptop eine Mail, in der sie wenige Tage nach dem Auffinden von Regenis Leiche einer Kollegin klagt, einen  „jungen Forscher in den Tod geschickt“ zu haben. Während sie gegenüber den Staatsanwälten zunächst behauptete, dass es solche Einflussnahmen ihrerseits nie gegeben habe.

Tod in Kairo

Kontakte zu Gewerkschaftern hatte Regeni bereits geknüpft, insbesondere zu einem Leader der Gewerkschaft der ambulanten Händler namens Mohamed Abdallah, mit dem er sich in der zweiten Hälfte des Jahres 2015 oft traf. Abdallah spielte ein doppeltes Spiel: Mitte Oktober 2015 informierte er die NSA über den Kontakt, woraufhin diese Regeni zu beobachten begann und dafür auch Abdallah einspannte. Gänzlich hellhörig wurden die Agenten, als Regeni dem vermeintlichen Freund von der Finanzhilfe erzählte, die von Antipode zu erwarten sei und von der auch etwas für die „Ambulanten“ abfallen könne. Von diesem Moment an war für die NSA klar, dass er ein „Spion“ von Antipode oder vielleicht sogar vom CIA sei. Bei einem Treffen afrikanischer Geheimdienste, das im August 2017 in Nairobi stattfand, erzählte ein Oberst Sharif aus Ägypten von einem italienischen Studenten, der zur Organisation Antipode gehöre und in Ägypten auf eine neuerliche „Revolution“ hingearbeitet habe. Diesen Studenten habe sich der Oberst selbst vorgenommen. Sharif ist jetzt für die römischen Staatsanwälte einer der Angeklagten, der Mann, dem er dies erzählte, ihr Zeuge.

Kurz vor Weihnachten 2015 durchsucht die NSA in Regenis Abwesenheit seine Kairoer Wohnung (Zeuge: ein Mitbewohner). Am 25. Januar 2016 erfolgt der endgültige Zugriff. Er wird zunächst in die Polizeistation von Dokki (im Großraum Kairo) gebracht – ein Zeuge begegnet dort einem jungen Mann, der Italienisch spricht und nach einem Kontakt mit seiner Botschaft oder einem Anwalt verlangt, der ihm jedoch verweigert wird. Anschließend wird er in ein bekanntes Gebäude des Innenministeriums verbracht, wo ein Raum mit der Nummer 13, der als „Untersuchungsraum“ für verdächtige Ausländer dient, sein Folterraum wird. Ein weiterer Zeuge bekommt ihn drei Tage später zu Gesicht: „Er trug Fesseln aus Eisen, war halbnackt, mit Folterspuren, und stammelte etwas in seiner Sprache. Er delirierte. Er  war sehr, sehr mager und lag auf der Erde, mit dem Gesicht nach unten. Auf dem Rücken hatte er Rötungen. Ich habe ihn nicht gleich erkannt. Aber als ich fünf oder sechs Tage später die Fotos in den Zeitungen sah, wusste ich, er war es“.

Was den ägyptischen Innenminister nicht daran hinderte, sofort nach Auffinden der Leiche vor den Medien zu schwören, dass „seine“ Polizei mit dem Fall nichts zu tun habe. Dabei blieb das Regime bis heute: Schuldig sei die „Räuberbande“, die die römische Ermittlung gegenstandslos mache. Die Aufforderung der römischen Staatanwälte, ihnen die Adressen der vier Angeklagten zu übermitteln, blieb bis heute unbeantwortet. Sie sind „unauffindbar“.

Was tun?

Dass staatliche Sicherheitsorgane in Verhörräumen, Gefängniszellen und manchmal sogar auf offener Straße wehrlose Menschen umbringen, kann auch in Rechtsstaaten geschehen. Auch Polizisten können Mörder werden. Ein Rechtsstaat muss dies wie jedes Verbrechen verfolgen. Setzt hingegen der Staat seine Machtmittel ein, um genau dies zu verhindern, wird aus dem Verbrechen ein Staatsverbrechen und aus dem Staat ein Unrechtsstaat. Was Ägypten Regeni antat, tut er zehntausendfach den eigenen Bürgern an. Die Besonderheit seines Falls besteht darin, dass er der Bürger eines anderen Landes und einer EU ist, die ihre Bürger nicht nur schützen müssen, sondern sich auch zur Wahrung der Menschenrechte verpflichtet haben.

Damit kommen wir zur Kernfrage: Was sollen Italien und die EU nun tun? Es ist das große Verdienst von Regenis Eltern, Geschwistern und Freunden und von der italienischen Justiz, dass sie bis heute verhinderten, worauf die ägyptische Regierung (und insgeheim wohl nicht nur sie) bis heute hofft: dass „Gras über die Affäre wächst“. Ihre Forderung, mit der sie das Vergessen verhinderten und die in Italien auf Hunderten von Spruchbändern an Balkonen und Häusermauern hing, war die Wahrheit über Regenis Tod. Jetzt liegt das Ermittlungsergebnis vor, und die Wahrscheinlichkeit, dass es im Kern die Wahrheit erfasst, grenzt an Gewissheit, auch wenn der Prozess noch zu führen ist. Klar ist aber auch, dass die Suche nach Gerechtigkeit nicht bei dieser „Wahrheit“ stehen bleiben kann, sondern auch noch die nächste Frage beantworten muss: Wenn das Verbrechen, dessen jetzt vier NSA-Agenten angeklagt werden, nicht nur ihre individuelle Schuld ist, sondern die eines ganzen Regimes, was dann?

„Realpolitik“ und Moral

Hier beginnt der klassische Konflikt zwischen Moral und „Realpolitik“. Für Italien, die EU und auch Deutschland ist al-Sisis Ägypten aus vielen Gründen ein „strategischer Partner“: Es  verfügt über Rohstoffe (z. B. ein großes Offshore-Gasvorkommen); ist ein wichtiger Partner für Investitionen (z. B. ENI, Siemens) und milliardenschwerer Käufer von Patrouillenbooten, Fregatten und Jagdflugzeugen. Politisch ist es ein Partner im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus – ein Partner, der mit besonderer Vorsicht zu behandeln ist, weil er auch von China und Putin umworben wird. Und dann spielt Ägypten noch eine wichtige Rolle beim Eindämmen der Migration; es ist Teil eines Europa vorgelagerten Auffangbeckens, das von Libyen bis zur Türkei reicht, und zugleich ein Gegengewicht gegen Erdogan, der nun auch im Mittelmeer mitspielen will.

Den Widerspruch, in dem sich hier die gesamte EU befindet, machte soeben Macron deutlich. Obwohl Frankreich an der Geburt der Menschenrechte nicht ganz unbeteiligt war, empfing er al-Sisi am 7. Dezember in Paris, um ihm das Großkreuz der französischen Ehrenlegion an die Brust zu heften. Dass er es unter Ausschluss der französischen Medien tat, zeigt einen Rest von Sensibilität für die Paradoxie der Situation. Von den ägyptischen Medien wurde die Verleihung gebührend gefeiert. Woraufhin sich Macron dann doch zu einer Erklärung herabließ: „Es ist wirksamer, eine Politik des Dialogs zu machen, statt eines Boykotts, der nur zur Schwächung eines unserer Partner im Kampf gegen den Terrorismus beitragen würde“. Einige prominente italienische Ehren-Legionäre gaben ihre Medaillen zurück. In Deutschland entschloss sich meines Wissens niemand zu diesem Schritt.

Wo bleibt das Europa der Menschenrechte?

Am 18. Dezember verabschiedete das Europaparlament eine Resolution, die den ägyptischen Staat und seine Sicherheitsorgane der zunehmenden Repression anklagt und die EU auffordert, dagegen auch Sanktionen in Erwägung zu ziehen. Die Mitgliedsstaaten werden aufgerufen, sich gegenüber politischen Repräsentanten Ägyptens, die die Menschenrechte verletzen, mit Auszeichnungen zurückzuhalten. Die Resolution atmet europäischen Geist, aber ist von der konkreten Politik der EU-Länder weit entfernt. Italien erfuhr es am eigenen Leibe: Als es wegen des Regeni-Mordes eine Zeitlang seinen Botschafter aus Kairo abberief, um Druck gegen das Regime aufzubauen, und sich daraufhin das Geschäftsklima zwischen Ägypten und Italien verschlechterte, waren sofort Länder wie Frankreich und Deutschland zur Stelle, um die Lücke zu füllen. Von einer gemeinsamen Außenpolitik ist Europa immer noch weit entfernt, und was dabei als erstes auf der Strecke bleibt, sind die „Werte“, für die Europa angeblich steht. Jedem europäischen Land, das einem Regime wie das von al-Sisi die Einhaltung elementarer Menschenrechte abzuverlangen sucht, kann es dann eine höhnische Abfuhr erteilen. Da liegt es nahe, sich schon den Versuch zu sparen.