Zwei Reden
Das Ritual der Neujahrsansprache gehört, in Italien wie in Deutschland, zum Ausklang des Jahres wie das obligatorische Sektglas zum Anstoßen. Selten bieten solche Reden der staatlichen Anführer – in Deutschland die Bundeskanzlerin, in Italien der Staatspräsident – Unerwartetes. Das galt ganz besonders für dieses Jahr, wo es ohnehin klar war, dass sich die Reden fast ausschließlich um ein einziges Thema drehen würden: die Pandemie mit deren gesundheitlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen. So war es dann auch.
Trotz der erwarteten inhaltlichen Parallele gab es aber auch Unterschiede, die einer Reflexion wert sind. Auch hätte man angesichts der institutionellen Funktionen der Redner – hier die Chefin der politischen Exekutive, dort der verfassungsmäßige Repräsentant des Landes – erwarten können, dass der Tenor bei Merkel stärker politisch, bei Mattarella hingegen eher allgemein-präsidentiell geprägt sein würde. Tatsächlich war es umgekehrt.
Die Rede der Bundeskanzlerin …
In Merkels kurzer Rede, die sich ausschließlich um die Corona-Pandemie drehte, lag der Akzent noch mehr als auf dem ökonomischen und politischen Bereich auf den sozialen Aspekten und den ganz persönlichen Veränderungen im Alltagsleben eines jeden. „Ein unbekanntes Virus dringt in unsere Körper und unsere Leben ein. Es trifft uns da, wo wir am allermenschlichsten sind: im engen Kontakt, in der Umarmung, im Gespräch, beim Feiern“.
„Das atemlose Jahr“ 2020 sei voller Sorgen, Ungewissheit und Trauer gewesen, aber auch ein Jahr des Lernens, „in dem so viele über sich hinausgewachsen sind, ohne das an die große Glocke zu hängen“, und sie nannte dabei diejenigen, die an vorderster Front im Kampf gegen die Pandemie und bei dem Aufrechterhalten des Alltagslebens stehen.
Merkel kennzeichnete die Bewältigung der Corona-Pandemie als „eine politische, soziale und ökonomische Jahrhundertaufgabe“, die von jedem Einzelnen ungeheuer viel Vertrauen und Geduld verlange. Sie unterstrich, erst „die Rücksichtnahme auf andere, die Einsicht, sich selbst auch einmal zurückzunehmen, das Bewusstsein von Gemeinsinn“ mache eine menschenfreundliche Gesellschaft möglich. Umso schärfer verurteilte sie „das zynische und grausame“ Verhalten „einiger unverbesserlicher“ Virus-Leugner und Verschwörungstheoretiker.
Als Gründe für Hoffnung auf die Zukunft nannte sie die Impfstoffe und die Erfolge der Wissenschaft, zu denen das deutsche Unternehmen Biontech in herausragender Weise beigetragen habe. „Die Gründer Ugur Sahin und Özlem Türeci aus Mainz haben mir erzählt, dass Menschen aus 60 Nationen in ihrem Unternehmen arbeiten. Nichts könnte besser zeigen, dass es die europäische und internationale Zusammenarbeit, die Kraft der Vielfalt ist, die den Fortschritt bringt“, erklärte die Kanzlerin.
Diese Bemerkung und ein Hinweis auf die Herausforderungen von Klimawandel und Digitalisierung in einer globalisierten Welt, angesichts derer sich Deutschland und Europa noch „besser behaupten“ müssten, waren die einzigen welt- bzw. europapolitischen Bezüge in ihrer Rede. Sie verließ ansonsten nicht den nationalen Rahmen und blieb weitgehend bei den gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Herausforderungen durch die Pandemie.
… richtet den Blick weitgehend nach innen
Besonders wenn man bedenkt, dass es sich um Merkels letzte Neujahrsansprache nach einer fünfzehnjährigen Regierungszeit handelte, die auch mit dem Ende der deutschen EU-Präsidentschaft zusammenfiel, sind dieses beinahe komplette Auslassen einer politischer Bilanz und das Fehlen eines Blicks über den (deutschen) Tellerrand hinaus erstaunlich. Zumal während der deutschen Präsidentenschaft bedeutsame politische Entscheidungen fielen: das Aushandeln des Brexit-Vertrags und das Auflegen des Corona-Wiederaufbaufonds („Next Generation EU“) in nie dagewesener Milliardenhöhe.
Gerade beim Letzteren spielten Deutschland und dessen Regierungschefin eine zentrale Rolle, die Merkel offensichtlich nicht für erwähnenswert hielt. Eine Art selbstauferlegter Bescheidenheit, die zu den Befürchtungen anderer europäischer Länder (u. a. Italien) in Widerspruch steht, Deutschland ziele darauf ab, seine – wirtschaftliche und sonstige – Stärke zu missbrauchen, um anderen Ländern in Europa seinen Willen zu diktieren und seine Machtposition auf deren Rücken auszubauen.
Mir scheint die Rede Merkels ein weiterer Beleg dafür zu sein, dass Deutschland in Wirklichkeit mit dem ihm von seinen europäischen Nachbarn unterstellten (und manchmal auch geforderten) „Führungsanspruch“ auf europäischer Ebene hadert. Nicht aus Bescheidenheit, sondern eher aus innerem Widerstand dagegen, sich dadurch auch die ganze Last der Probleme aufzubürden, die viele europäische Länder plagen. Anders als von einigen in Italien vermutet geht es weniger um imperiale Gelüste, als darum, sich der Übernahme von europäischer Verantwortung zu entziehen. Was genauso problematisch ist. Und was nicht heißt, dass hier der Wille zur Durchsetzung eigener nationalen Interessen fehlt: er ist real und wird auf wirtschaftlicher Ebene zielstrebig verfolgt. Politisch bleibt der Blick jedoch weitgehend nach innen gerichtet.
Die Rede des italienischen Staatspräsidenten …
Anders als die deutsche Kanzlerin schließt Staatspräsident Mattarella in seine Ansprache, neben der nationalen, auch die europäische Perspektive ein. Er tut es an verschiedenen Stellen, auch dann, wenn er auf die Entwicklung und die Folgen der Pandemie auf nationaler Ebene eingeht, die natürlich auch bei ihm – wie könnte es anders sein? – den größten Raum einnehmen.
Es sind manchmal nur Nuancen, die immer wieder den Standort deutlich machen, von dem aus der Staatspräsident die Lage betrachtet. Italien sei „als erstes Land in Europa“ von der Corona-Krise getroffen worden, was eine besondere Herausforderung dargestellt habe. Anders als bei der zweiten Welle, die zuerst die europäischen Nachbarn erreicht habe. Und unterstreicht: „Nun sind wir (in Europa, Anm. MH) dabei, komplexere Strategien umzusetzen, angefangen mit dem Impfplan, der in ganz Europa am gleichen Tag gestartet wurde“.
… würdigt den europäischen Paradigmenwechsel
Den zweiten Teil seiner Rede widmet Mattarella dann ausdrücklich der Rolle der EU und der europäischen Zusammenarbeit. Hier Auszüge:
„Um den schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen (der Pandemie, Anm. MH) zu begegnen, wurden innovative europäische Interventionen von außerordentlicher Bedeutung aufgelegt. …Nie zuvor nahm die EU eine so wichtige Aufgabe zum Wohle seiner Bürger auf sich…
Der Impfstoff und die Initiativen der EU sind zwei entscheidende Motoren unseres Wiederaufbaus. Die EU hat sich fähig gezeigt, einen Sprung nach vorne zu machen. Das Europa der gemeinsamen Werte und der Bürger hat sich behauptet. Das ist nicht selbstverständlich. Die Finanzkrise vor zehn Jahren beantwortete Europa damals ohne Solidarität und ohne klare eigene Zukunftsvision. Egoistische Interessen setzten sich durch, alte politische und wirtschaftliche Instrumente zeigten deutlich, wie inadäquat sie sind. Heute basieren die Entscheidungen der Europäischen Union auf neuen Fundamenten. Und Italien hat zu dieser Veränderung maßgeblich beigetragen. …
Die Pandemie hat uns verstehen und wiederentdecken lassen, wie stark wir miteinander verbunden und abhängig voneinander sind. Die Solidarität hat sich wieder einmal als notwendige Basis des Zusammenlebens und der Gesellschaft erwiesen. Internationale Solidarität. Europäische Solidarität. Solidarität in unseren Gemeinwesen.“
Keine Differenz in der Sache, aber in der Perspektive
Dieser Verweis auf die unterschiedlichen Blickwinkel beider Reden soll nicht dahingehend missverstanden werden, Mattarella sei „pro-europäischer“ als Merkel. Beide sind überzeugte Europäer, beide sehen ihre Länder fest verankert in der Union, nationalistische Versuchungen sind beiden fremd. Es ist ein Faktum, dass es gerade die deutsche Kanzlerin war, die beim Schnüren des gigantischen Corona-Hilfspakets den entscheidenden Anstoß zu jenem Paradigmenwechsel in Europa gab, den Mattarella in seiner Rede würdigt. Umso erstaunlicher ist es, dass sie darauf in ihrer Rede mit keinem Wort einging.
Bleibt jedenfalls die Feststellung: Trotz inhaltlicher Übereinstimmung in der Sache, lassen beide Reden unterschiedliche Perspektiven sichtbar werden. Bei allen Unterschieden enden beide Rede beinah gleich, mit Abschieden persönlicher Natur: Sowohl Merkel als auch Mattarella weisen daraufhin, dass das jetzt begonnene Jahr das letzte ihrer Amtszeit ist. Die Kanzlerin wird bei der nächsten Wahl im Herbst nicht mehr antreten, und das Mandat des italienische Staatspräsidenten läuft Ende Januar 2022 ab. Eins weiß ich schon: Ich werde beide vermissen.