Ficos Sondierungsauftrag
Nach Abschluss der (ersten) Konsultationsrunde mit Vertretern aller Parteien und Fraktionen trat Staatspräsident Mattarella am Freitagabend vor die Presse. Wie alle Staaten in Europa und weltweit befinde sich Italien pandemiebedingt in einer schweren nicht nur gesundheitlichen, sondern auch ökonomischen und sozialen Krise, die nach sofortigem und entschlossenem Regierungshandeln verlange. Das Land brauche hierfür rasch eine neue Regierung mit einer „angemessenen parlamentarischen Unterstützung“, erklärte er. Die Gespräche hätten ergeben, dass „ausgehend von denselben politischen Kräften, die die gegenwärtige Regierungsmehrheit bilden“ (also neben 5SB, PD und LEU auch Renzis Italia Viva) eine Perspektive für eine solche Regierungsbildung gebe. Diese gelte es nun zu verifizieren und zu konkretisieren. Zwei Stunden später erteilte er dem Präsidenten der Abgeordnetenkammer (und Vertreter des „linken Flügels“ der 5-Sternebewegung) Roberto Fico einen entsprechenden Sondierungsauftrag. Deadline: nächster Dienstag.
Von einer solchen „Perspektive“ konnte er sprechen, weil bei den Konsultationen alle bisher zur Koalition gehörenden Parteien entsprechende Signale gegeben hatten, entgegen ihren vorherigen Äußerungen.
Die Ergebnisse der ersten Konsultationsrunde
Auch die 5SB, die am lautesten „Nie wieder mit Renzi!“ geschrien hatte, gab sich ihm gegenüber auf einmal konziliant. Die Lage des Landes lasse „gegenseitige Vetos, Personalismen und stures Festhalten an Positionen“ nicht zu, erklärte ihr Delegationsleiter Crimi. Man sei daher bereit, mit „allen Kräften der bisherigen Koalition“ über eine erneute Zusammenarbeit zu reden. Allerdings auf Grundlage einer bis zum Legislaturende geltenden klaren und verbindlichen Vereinbarung. Wie zu erwarten, sprachen sich die 5-Sterne für Conte als Ministerpräsidenten aus.
Davor hatten PD und LEU – trotz scharfer Kritik am „unverantwortlichen“ Auslösen der Regierungskrise (ohne Renzi namentlich zu nennen) – ebenfalls ihre Gesprächsbereitschaft mit „allen europafreundlichen Kräften“ angekündigt (also auch mit Italia Viva). Auch sie sprachen sich für Conte aus.
Der Sinneswandel, wenn es überhaupt einer ist, kommt nicht überraschend. Denn sie alle schrecken davor zurück, bei Neuwahlen etliche Mandate zu verlieren, erst recht nach der inzwischen in Kraft getretenen drastischen Reduzierung der Abgeordnetenzahl.
Renzi selbst tat bei seinem Auftritt vor der Presse so, als hätten nicht er und seine Partei die Koalition verlassen, sondern seien die Hinausgeworfenen. Italia Viva müsse wissen, ob man sie „als Teil der Regierungsmehrheit betrachtet oder nicht“, verkündete er. Ansonsten schwadronierte er – gegen alle protokollarischen Regeln – lange und im Stil einer Fernseh-Talkshow über alle Versäumnisse der bisherigen Conte-Regierung: beim Recovery Fund, der Bildung, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus oder bei der Justizreform.
Zur Personalie des künftigen Ministerpräsidenten habe er sich nicht geäußert, erklärte Renzi. Was nicht stimmt, denn er hatte sich gegenüber Mattarella ausdrücklich gegen eine sofortige Wiederbeauftragung von Conte und für einen Sondierungsmandat mit offenem Ausgang ausgesprochen. Mit Erfolg, wie man sieht.
Worum geht es beim Sondierungsauftrag?
Mattarella will also ausloten lassen, ob und unter welchen Bedingungen die Aussicht auf eine Regierung „Conte ter“ besteht, die möglicherweise von einem (um die sogenannten „responsabili“ oder auch Teile des Zentrums und der Rechten) erweiterten Bündnis getragen wird.
Ob dies tatsächlich gelingt, ist noch völlig offen. Insofern schließt Ficos Sondierungsrunde andere Alternativen nicht aus. Es geht dabei vor allem um folgende kontroverse Punkte:
1. Die Personalfrage, allen voran in Bezug auf das Amt des Ministerpräsidenten, aber auch bei der Besetzung umstrittener Schlüsselressorts (Finanzen, Justiz, Bildung);
2. Die Bündnisfrage: Um wen soll das Bündnis erweitert werden, um der Regierung eine größere Stabilität zu geben?
3. Und last but not least: Welche politische Prioritäten sollen die Grundlage der neuen Koalition bilden?
All diese Fragen bergen genügend Zündstoff, um Ficos Mission zu gefährden. Oder im schlimmsten Fall scheitern zu lassen, mit vorgezogenen Neuwahlen als gravierende Folge.
Problem Regierungschef
Renzis Mantra, er habe „Vorbehalte gegen niemanden“, es gehe ihm nur um die Inhalte, sind Nebelkerzen. In Wirklichkeit ist es sein erstes Ziel, Conte „abzuschießen“. Nicht nur weil das Verhältnis zwischen den beiden zerrüttet ist, sondern auch, weil er hofft, so als „Königsmacher“ sein Gewicht innerhalb der Koalition erhöhen zu können (er muss allerdings aufpassen, das Ziel der Ausschaltung Contes nicht allzu stark zu forcieren, denn er riskiert, dass ihm auf diesem Kurs ein Teil seiner parlamentarischen Truppen nicht mehr folgt).
Wiederum sind die klaren Bekenntnisse der übrigen Regierungsparteien (5SB, PD, LEU) zu Conte zwar ernst zu nehmen, aber nicht unabdingbar. Besonders dann, wenn es darum geht, Neuwahlen abzuwenden, die bei dem immer noch geltenden Wahlgesetz mit einem höchstwahrscheinlichen Sieg der souveränistischen Rechten enden würden.
Es besteht damit auch die Möglichkeit, dass man sich auf eine andere Person als Conte einigt. Auf jemanden, der „super partes“ ist und über genügend Kompetenz und Autorität verfügt, um nicht zuletzt von der EU als Garant für die Zuverlässigkeit und Handlungsfähigkeit Italiens anerkannt zu werden. Der erste Name, der in diesem Zusammenhang kursiert, ist Mario Draghi. Er selbst hat sich bisher in dieser Frage bedeckt gehalten, so dass schwer abschätzbar ist, ob er am Ende für einen solchen Schritt gewonnen werden könnte. Alternativ wird die frühere Präsidentin des Verfassungsgerichts Marta Cartabia genannt, die zwar sehr kompetent, aber politisch unerfahren und international kaum bekannt ist.
Problem erweiterte Koalition
Wenn Mattarella von einer Regierungsbildung spricht, die von den gegenwärtigen Bündnispartnern „ausgeht“, sagt er implizit, dass auch er eine erweiterte parlamentarische Basis für wünschenswert oder gar notwendig hält. Das entspricht auch den Absichten von PD und 5SB, die sich erhoffen, dadurch Renzis Erpressungspotential zu vermindern.
Wer kommt aber (neben 5-Sterne, PD, LEU und IV) dafür in Frage? Die ca. zehn Abgeordneten, die aus der Gruppe der Auslandsitaliener, dem „gruppo misto“ plus zwei Forza Italia-Abtrünnigen besteht, die sich in aller Eile zu einer neuen „europäistischen Fraktion“ zusammengerauft haben, reichen nicht aus, um notfalls Renzis Gefolgsleute zu ersetzen.
Dafür müssten noch die kleinen Zentrumsparteien hinzustoßen – wenn nicht sogar Berlusconis Forza Italia (das wäre die sogenannte „maggioranza Ursula“, genannt nach Ursula von der Leyen, die von einem solchen Bündnis im EU-Parlament zur Kommissionspräsidentin gewählt wurde). Das wiederum ist nur denkbar, wenn es zu keinem „Conte ter“, sondern zu einer „Regierung der nationalen Rettung“ unter Führung einer überparteilichen Persönlichkeit kommt. Ob Berlusconi bereit ist, dafür aus dem Rechtsbündnis mit Salvini und Meloni auszubrechen, ist fraglich. Teile seiner Partei könnten sich aber angesichts des schwindenden Einflusses von Forza Italia zu einem Seitenwechsel entschließen.
Problem Regierungsprogramm
Höchste Priorität haben – darin sind sich alle einig – der Kampf gegen die Pandemie und der „Piano nazionale di Ripresa e Resilienza/PNRR“, der aus den von der EU bereitgestellten Mitteln (209 Milliarden) finanziert werden soll. Grundsätzliche Einigkeit besteht auch darin, dass der Entwurf trotz seiner bereits erfolgten Änderungen weiterer Verbesserungen bedarf. Anstelle von Projekten nach dem Gießkannenprinzip, die in erster Linie die Wünsche verschiedener Lobbies befriedigen, soll der Plan sich auf wenige strukturelle Reformen und nachhaltige Vorhaben konzentrieren. Doch darüber, welche es sein sollen, gibt es unter den möglichen Koalitionspartnern durchaus Differenzen. Ähnliches gilt für andere wichtige Themen der Regierungsagenda, u. a.: ein neues Wahlgesetz (Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht), die Justiz- und Steuerreform.
Eine Einigung noch vor Dienstag hinzukriegen, ist nicht einfach. Renzi besteht darauf, eine solche Vereinbarung mit den wichtigsten Prioritäten schon jetzt schriftlich zu fixieren. Erst danach sei er bereit, über Namen für das Amt des Regierungschefs zu sprechen. Er will in dieser Frage – die für die Regierungsbildung entscheidend ist – weiterhin mit verdeckten Karten spielen, um die Chancen für Contes Fall auszuloten oder zumindest seine Forderungen als Gegenleistung für ein „Conte ter“ hochzuschrauben. Sein Spiel ist riskant, zumal bei einem Teil der Abgeordneten seiner Partei der Unmut über sein Vorgehen wächst.
Zweite Verhandlungsrunde nötig
Fico hat am Sonntag nach Abschluss der ersten Sondierungsgespräche angekündigt, dass es die Zeit bis zur von Mattarella gesetzten Frist (Dienstag) für weitere Verhandlungen nutzen wird. Man wird sehen, wie nah er dem Ziel kommt, dem Staatspräsidenten einen praktikablen Vorschlag zu unterbreiten.
Inzwischen hüllt sich Conte (der wahrscheinlich schon bereut, sich mit seinem frühen Rücktritt selbst handlungsunfähig gemacht zu haben) in Schweigen. Und erst recht Draghi.