Recovery-Plan: Die Chance als Problem
Vorbemerkung der Redaktion: Man hat sich angewöhnt, im Recovery-Plan der EU dreierlei zu sehen: die Abkehr von einer Austeritätspolitik, die in den Mitgliedsländern vor allem den Rechtspopulismus stärkte, einen qualitativen Sprung in der Entwicklung Europas zu mehr Solidarität und Integration, und für Länder wie Italien die Chance, aus dem Teufelskreis von wachsender Rückständigkeit und zunehmender Reformschwäche auszubrechen.
Die Anzeichen mehren sich, dass zumindest der letzte Punkt eine Kehrseite hat: Zur Chance gehört auch die Fähigkeit, sie zu nutzen, und das ist gerade für Italien nicht selbstverständlich. Die italienischen Regierungen taten sich schon lange vor der Pandemie schwer damit, EU-Hilfen zu nutzen. Und es war kein Geringerer als Mario Draghi, der dafür schon 2011 eine Ursachenanalyse versuchte, als er seinen Chefsessel bei der Banca d’Italia räumte, um Chef der EZB in Frankfurt zu werden: „Unsicherheit der Programme, mangelhafte Bewertung und Auswahl der Projekte, Fragmentierung und Überschneidung von Kompetenzen, fehlerhafte Normen bei der Vergabe der Aufträge und bei der Kontrolle ihrer Realisierung führen bei uns zu Vorhaben, die weniger nützlich, aber kostspieliger als woanders sind. Die Projekte, die vom europäischen Fonds für Regionalentwicklung finanziert werden, brauchen bei uns zu ihrer Realisierung fast doppelt so lang als geplant, im Unterschied zu einem Viertel mehr im sonstigen Europa, und die Kosten fallen um 40 % höher als geplant aus, im Unterschied zu 20 % im sonstigen Europa … Die strukturellen EU-Mittel, die uns gegenwärtig zur Verfügung stehen, wurden nur zu 15 % ausgegeben…“. Das war, wie gesagt, der Stand von 2011, an dem sich aber bis heute kaum etwas geändert hat. So beklagt sich z. B. die Bauindustrie im Februar 2021, „dass wir nur knapp 40 % der EU-Strukturfonds, die uns in der Zeit 2014-2020 zur Verfügung gestellt wurde, und nicht mehr als 6 % des Fonds für Entwicklung und Kohäsion ausgegeben haben“.
Dies ist der Hintergrund eines Artikels, den die Ökonomen Tito Boeri und Roberto Perotti von der Mailänder Bocconi-Universität am 20. Februar in der „Repubblica“ unter dem Titel „Recovery Fund: Es hat Priorität, die 82 Milliarden, die als verlorener Zuschuss zugesagt wurden, sofort zu nutzen“ veröffentlichten. Er zeigt die Schwierigkeiten, vor denen jetzt Italien bei der Umsetzung des Next Generation EU-Programms (NGEU) steht, und stellt die bisherige Arbeit der inzwischen abgelösten Conte-Regierung an einem solchen Plan, dem sie den „Nationalen Plan für Rekonstruktion und Resilienz“ (PNRR) gab, unter eine deutliches Fragezeichen:
(1) wisse Italien in Wahrheit noch gar nicht, wie es die ihm zur Verfügung gestellten 209 Milliarden überhaupt nutzen solle;
(2) sei der bisherige nationale Plan zur Verwendung der Recovery-Mittel grundlegend umzuarbeiten, da seine Herangehensweise die Frage gewesen sei, wo man den Geldsegen von 209 Milliarden irgendwie unterbringen kann. Statt zunächst den wirklichen Bedarf zu analysieren – und erst auf dieser Grundlage zu entscheiden, wieviel von den 127 Milliarden, die Italien nur als Anleihen bekomme und somit die Staatsschuld weiter erhöhen würden, tatsächlich anzufordern sei;
(3) erfordere dies jedoch Zeit, weshalb es für die Regierung dringend geraten sei, sich bei der Planung der nächsten Aufgaben auf das unmittelbar Notwendige zu konzentrieren und dafür vorerst nur die 82 Milliarden zu nutzen, die Italien als verlorenen Zuschuss bekommen soll.
Wir übersetzen den Artikel in Auszügen.
„… In Wahrheit wissen wir zurzeit nicht, wie wir alle 209 Milliarden des Next Generation EU ausgeben sollen. Bisher scheint es die Herangehensweise gewesen zu sein, sich einen Weg auszudenken, um das ganze Geld irgendwie auszugeben, statt zuerst zu entscheiden, was wirklich benötigt wird, und dann zu sehen, wie dieser Bedarf befriedigt werden kann. Mit evidenten Konsequenzen: Viele Teile des aktuellen Plans bestehen aus Formeln und Slogans… Auch der Abschnitt Digitalisierung, in dem es um fast 50 Milliarden geht, ist nach informeller Einschätzung der Kommission auf dem jetzigen Stand eine leere Hülse.
Es stimmt, wie auch schon Draghi betonte, dass formal der PNRR nicht neu geschrieben, sondern nur vertieft und vervollständigt werden muss. Aber wenn wir gegenwärtig nicht einmal wissen, wie wir die 50 Milliarden zur Digitalisierung ausgeben sollen (was bei einer so enormen Summe, die in einer so kurzen Zeit auszugeben ist, nicht verwunderlich ist), dann ist es unrealistisch, dass wir bis April solide und in fünf Jahren machbare Projekte definieren können, die eine so gewaltige Gesamtsumme erforderlich machen.
Ähnliches gilt für die 70 Milliarden, die für Umweltprojekte, und die 32 Milliarden, die für infrastrukturelle Maßnahmen aufgewendet werden sollen. Obwohl zum Beispiel im PNRR vorgesehen ist, die Investitionen auf Windparks und Photovoltaik zu konzentrieren, gibt es heute in Italien kein einziges bereits laufendes Projekt für die Schaffung eines Energieparks mit Windrädern und Photovoltaik. Auch wenn Vittorio Colao und Roberto Cingolani (die neuen Minister für technologische Innovation und für Umwelt und ökologischen Übergang, A.d.R.) über alle Qualitäten verfügen, um für das Land die besten Projektideen zu entwickeln, bleibt es doch ein übermenschliches Unternehmen, in wenigen Wochen eine produktive Verwendung von 209 Milliarden zu finden, abgesehen davon, dass zurzeit auch noch eine Verwaltung fehlt, welche die Projekte entwickeln und durchführen und Tausende von Ausschreibungen tätigen könnte. Der Glaube ist verbreitet, dass es auf jeden Fall dem Wachstum dient, wenn der Löwenanteil der Ausgaben auf öffentliche Investitionen entfällt. Aber die Etikette „öffentliche Investition“ sagt für sich noch gar nichts. Ein neuer Hochgeschwindigkeitszug auf einer Strecke mit wenig Bedarf ist rausgeschmissenes Geld, auch wenn es eine öffentliche Investition in eine Hochtechnologie ist. Abgesehen davon, dass alle öffentlichen Investitionen (seien es Anlagen zur Thermoisolierung, Informationssysteme oder Hochgeschwindigkeitsstrecken) dann auch instand zu halten sind, d. h. Strukturen, Organisation und angemessene Ressourcen brauchen: Das war immer unser Schwachpunkt, von dem im PNRR keine Rede ist.
Es ist wahr, dass nach dem gegenwärtigen PNRR von den aufgenommenen 127 Milliarden Anleihen sich die Staatsschulden „nur“ um 40 bis 55 Milliarden erhöhen würden (hier ist der PNRR nicht klar, wie auch das parlamentarische Amt zur Haushaltskontrolle anmerkte), denn die Differenz würde der Finanzierung von Ausgaben dienen, die in jedem Fall gemacht werden müssten, womit es sich also um „ersetzende“, nicht „zusätzliche“ Leistungen handeln würde. Aber das ist eine Bewertung, die man mit Vorsicht genießen sollte, denn die Definition dessen, was „ersetzend“ sei, ist fragwürdig: Niemand weiß, welche Ausgaben wir in den nächsten 5 Jahren auch ohne die Mittel von Next Generation EU tätigen würden. Wann hätte man vor dem NGEU je davon gesprochen, 50 Milliarden in die Digitalisierung zu stecken? Außerdem rechnete die Vorgängerregierung mit einer relativ geringen Neuverschuldung, da sie die Auswirkungen der zusätzlich aus dem NGEU-Topf finanzierten Ausgaben auf das BSP sehr optimistisch einschätzte. Das ist (neben der von der Lega vorgeschlagenen flat tax) ein Klassiker aller Zeiten und aller Regierungen: dass sich die höheren Ausgaben oder Steuererleichterungen quasi „selbst finanzieren“, dank ihrer wohltätigen Auswirkungen auf das BSP. Für die es jedoch keine empirische Evidenz gibt.
Einige der von uns wirklich benötigten Reformen, wie die der Justiz, kosten im Rahmen des gesamten Recovery Funds sehr wenig. Wenn wir unsere intellektuellen Ressourcen verwenden, um uns den Kopf darüber zu zerbrechen, wie wir enorme Mittel für Projekte von fragwürdigem Nutzen ausgeben können, entziehen wir der Debatte um die dringendsten, wichtigsten und kostengünstigsten Strukturreformen Zeit, politisches Kapital und kostbare Kompetenz…“