Draghi übernimmt
Staatspräsident Mattarella hat also die Reißleine gezogen. Nachdem ihm am Dienstagabend der mit Sondierungen beauftragte Roberto Fico mitgeteilt hatte, dass es zu keiner Einigung zwischen den Parteien auf eine dritte Regierung Conte gekommen sei, reagierte er schnell. Noch am gleichen Abend kündigte er an, am Folgetag einen überparteilichen Kandidaten seiner Wahl mit dem Versuch der Bildung einer „hochkarätig besetzten“ Regierung zu beauftragen, um dessen parlamentarische Unterstützung er bitte. Der Kandidat, den er dann präsentierte, war keine Überraschung: Es war Mario Draghi, der Tausendsassa, der erst den Euro und dann auch die italienischen Staatsschuldverschreibungen „gerettet“ hatte.
Die Entscheidung, auf sofortige Neuwahlen zu verzichten, begründete Mattarella mit der aktuellen Situation, die einen monatelangen Wahlkampf „inopportun“ mache: Pandemie, Impfkampagne, Auslaufen des Entlassungsstopps (Ende März), Vorlage eines vorher mit Brüssel abgestimmten Verwendungsplans für die Recovery-Mittel, die nicht aufs Spiel gesetzt werden dürften (April).
Renzi, der die Krise durch den Rückzug seiner Ministerinnen aus Contes Kabinett ausgelöst hatte, feierte die Ernennung Draghis als seinen Triumph: „Haben wir toll hingekriegt, oder?“, soll er hinterher gesagt haben. In der Tat: Wie er Conte ausschaltete, war eine taktische Meisterleistung, immer mit dem frommen Augenaufschlag dessen, der nur edelste Ziele verfolgt. Ob Renzi von vornherein genau dieses Ziel angestrebt hatte, darüber streiten sich die Gelehrten – einige Beobachter meinen, dass er sich notfalls auch mit ein paar Ministerposten mehr und einem demontierten Conte zufrieden gegeben hätte (ein guter Taktiker pokert nicht nur an einem Tisch). Einigkeit besteht darin, dass er die 5SB unter Stress setzen wollte – und damit auch ihr Bündnis mit der PD, das ihm schon lange ein Dorn im Auge ist, obwohl er es vor anderthalb Jahren selbst mit aus der Taufe hob. Er will eine Öffnung nach rechts, vor allem Richtung Berlusconi – seine gegenwärtige Randrolle hindert ihn daran, aus der 3 %-Falle herauszukommen, in der sich seine Neugründung „Italia Viva“ seit ihrer Abspaltung von der PD befindet.
Auftritt von „Super-Mario“
Aber nun ist Mario Draghi da, und er könnte vielleicht mehr in Bewegung setzen, als es selbst dem Taktiker Renzi lieb ist. Denn nun ist er der Mann, der entscheidet, was mit den 209 Milliarden aus dem Recovery-Programm geschieht, über die Italien verfügen soll, zumal er auch die Garantie dafür ist, dass es im Einklang mit den Brüsseler Vorgaben geschieht.
Das Erstaunliche ist, wie er schon durch die Vorgespräche, die er jetzt mit den im Parlament vertretenen Parteien führt, die politische Szene Italiens aufmischt. Zunächst ist es ihm gelungen, fast das gesamte bisherige Regierungsbündnis hinter sich zu bringen. Dies war keineswegs selbstverständlich, denn erstens hat das Zerbrechen der Conte2-Koalition Verletzungen hinterlassen – die 5SB sieht in Conte einen der ihren, den Renzi durch eine „lumpige“ Intrige zu Fall gebracht hat. Draghi war klug genug, noch vor dem Beginn seiner sonstigen Sondierungen mit den Parteienvertretern ein langes Gespräch mit Conte zu führen, das diesem möglicherweise die Perspektive eröffnete, auch weiterhin gebraucht zu werden. Zu einem weiteren Stolperstein konnte Renzi werden: Dass man mit ihm „nie wieder“ ein Bündnis eingehen dürfe, weil er alles seinem persönlichen Ehrgeiz unterordne, fand nicht nur bei den Grillini Anhänger (Renzi war der Mann, der 2018 auch die PD gespalten hatte). Zweitens gibt es Vorbehalte gegenüber der Person Draghis: bei den LeU-Genossen, weil er ein Banker ist, und beim Fundi-Flügel der Grillini nannte ihn Di Battista „einen Apostel der Elite“. Aber es ist etwas anderes, was Draghi auf längere Sicht noch gefährlicher werden könnte: Seit er 2012 als EZB-Präsident „den Euro rettete“ (mit dem berühmten „whatever it takes“), gilt „Super-Mario“ bei vielen als Wundermann, der nun auch Italien retten werde.
Bei den Grillini hat es übrigens gedauert, bevor sich bei ihnen die Überzeugung durchsetzte, dass der Euro überhaupt gerettet werden müsse. Grillo, der daran einst die größten Zweifel hatte, hat auch jetzt einen Moment gezögert, ob Draghi überhaupt unterstützungswürdig sei. Erst als sich jetzt auch Conte nach zweitägigem Schweigen für Draghi aussprach, war der Bann gebrochen (Casaleggio fordert schon wieder, man müsse über seine Plattform „die Basis fragen“). Die Mehrheit der 5SB-Abgeordneten scheint jedoch Draghi sicher zu sein – unter einer Bedingung allerdings: die zu bildende Regierung müsse nicht „technisch“, sondern „politisch“ sein. Was sich noch zu einem Problem entwickeln könnte (s. u.).
Spaltung des Rechtsblocks
Während Conte mit dem Versuch, das bisherige Regierungsbündnis um ein paar Abgeordnete aus dem Zentrum zu erweitern, nur Hohn und Spott erntete, ist es Draghi sofort gelungen, den Rechtsblock zu spalten: Für die Forza Italia-Fraktionen, die in den Kammern verdammt schienen, nur noch schrumpfen zu können, ist der Anschluss an das neue Draghi-Bündnis beschlossene Sache, und auch die Lega, der die norditalienischen Geschäftsleute im Nacken sitzen, läuft schon hinterher. So dass es nur Giorgia Melonis postfaschistische Fratelli d’Italia sind, die dem Grundsatz „Nie mit den Linken“ treu bleiben und sofortige Neuwahlen fordern (obwohl jetzt auch dort einige meinen, dass man sich vielleicht enthalten könne).
Wunderbar, könnte man meinen, wenn es Draghi gleich gelingt, den Rechtsblock zu spalten. Aber langsam wird auch das Problem deutlich, das schon in Mattarellas Ankündigung steckte, eine „hochkarätig“ besetzte Regierung („un governo di alto profilo“) zu suchen, die sich mit keiner politischen Richtung identifizieren dürfe, und für die er um das Vertrauen „aller im Parlament vertretenen politischen Kräfte“ bitte. Viele, die hier Beifall klatschten, erwarteten, dass sich davon auf der Rechten nur Berlusconi angesprochen fühle und sich deshalb zur Unterstützung Draghis nur eine „Ursula-Mehrheit“ finden werde (von der in Italien geredet wird, seit 2019 bei der Straßburger Wahl der Kommissionspräsidentin im Unterschied zur Lega und zu den „Fratelli“ auch die Forza-Italia-Abgeordneten für Ursula von der Leyen stimmten).
Aber inzwischen hat auch Salvini beschlossen, mit vollem Gepäck in den Draghi-Zug einzusteigen – nach dem Sondierungsgespräch sprach er von „voller Übereinstimmung“, wobei er die möglichen Konfliktthemen auf Sparflamme herunterdrehte (die Migration muss „kontrolliert“ werden, in Brüssel muss man auch „nationale Interessen“ vertreten können). Die Madonna, die ihn sonst immer begleitet, hat er gegenüber dem einstigen Jesuitenschüler Draghi nicht mehr erwähnt.
Problem Lega
Das Problem steckt in der Ankündigung, die Salvini vorsorglich einen Tag früher machte: Wenn die Lega mitmache, müsse sie natürlich auch Ministerposten bekommen. Die Frage, ob Draghis Regierung eher mit „Politikern“ oder mit „Technikern“ zu besetzen sei, war von Mattarella bei seiner Ankündigung offen gelassen worden, aber er soll Draghi geraten haben, zur besseren Einbindung der ihn unterstützenden Parteien auch Politiker in die Regierung aufzunehmen. Die 5SB, die schon immer gegen „Techniker“ zu Felde zieht, fordert jedoch eine politische Regierung. Andererseits ließ die PD gegenüber Draghi durchblicken, dass es sie vielleicht – auch mit Blick auf die eigene Wählerschaft – überfordern würde, wenn er Legisten in die Regierung berufen würde. Was sich Draghi freundlich angehört haben soll, ohne jedoch zu sagen, was er daraus folgert (die „Synthese“ aus allen Gesprächen behält er sich ausdrücklich vor). Die Frage ist, wie weit Draghi seine Überparteilichkeit einschränken will, wenn es z. B. um die Grundsatzfrage pro oder kontra Europa geht. Oliver Meiler schrieb am 6. 2. in der SZ, Draghi müsse „erst einmal alle miteinander aussöhnen“. Aber ist der Konflikt zwischen werteorientierten „Europäisten“ und nationalpopulistischen „Souveränisten“ nur ein familiärer Streit, der durch „Aussöhnung“ aus der Welt geschafft werden kann? Immerhin gehört es zum Kern von Draghis Auftrag, die Chance eines europäischen Projekts zu nutzen, das bisher von den Nationalpopulisten eher abgelehnt wurde, weil sie mit Europa nichts im Sinn haben.
Noch hat der designierte Ministerpräsident nicht die parlamentarischen Hürden genommen, aber schon jetzt ist klar, dass vor ihm eine Herkulesarbeit liegt. Er muss nicht nur den Recovery-Plan überarbeiten, sondern beispielsweise auch die italienische Bürokratie reformieren, um ihn überhaupt umsetzen zu können. Dass von ihm Wunder erwartet werden, wird ihn auch belasten. Und zu seinen parlamentarischen Unterstützern gehören Parteien, zwischen denen Abgründe klaffen – und von denen teilweise auch Draghi ein Abgrund trennt.
Die Allianz für nachhaltige Entwicklung bleibt
Aber es gibt auch Positives. Die von Renzi mutwillig und zur Unzeit vom Zaun gebrochene Regierungskrise scheint durch das entschlossene Eingreifen des Staatspräsidenten schnell bewältigt werden zu können. Dies ist auch für Europa wichtig. Wenn es das wahre Ziel Renzis war, das langsam Gestalt annehmende Bündnis zwischen einer populistischen Bewegung und Mittelinks zu torpedieren, so zeigt sich jetzt, dass das Bündnis dies überstehen könnte – und damit vielleicht noch stärker wird. Die Entwicklung Contes ist emblematisch: Aus der einen Perspektive wurde ihm in der letzten Woche im Senat vorgeworfen, er sei ungreifbar „wie Wasser“, weil er, der selbsternannte Advokat des Volkes, jeden Klienten bediene, ob er Salvini, Di Maio oder Zingaretti heißt. Aus der anderen Perspektive ist er der Mann, der sich Schritt für Schritt zum Europäisten entwickelte, immer populärer wurde und dabei auch eine ursprünglich form- und strukturlose „Bewegung“ mitnahm, obwohl „seine“ Partei, wenn es sie heute gründen würde, laut Umfragen 15 % Wählerstimmen einfahren könnte. Und der sich trotz seiner Demütigung im Parlament nicht in die Opferrolle flüchtet, sondern auf der Straße vor laufenden Kameras erklärt, er sei nicht nur für eine Regierung Draghi, sondern wolle auch „mit den Freunden von PD und LeU an der Allianz für nachhaltige Entwicklung“ festhalten. Offenbar mit der Absicht, dabei nicht nur für sich, sondern auch für die 5SB zu sprechen.
Nachbemerkung: Es ist übrigens nicht sicher, dass Draghi im Fall seiner Wahl bis zum Ende der Legislaturperiode regieren wird. Da jedoch ein neuer Staatspräsident am 31. Januar 2022 gewählt wird, darf der noch amtierende Mattarella das Parlament nur bis zum 3. August 2021 auflösen. Angesichts der Aufgaben, die von der Regierung Draghi nach ihrer Amtsübernahme zu bewältigen sind, verkleinert sich das Zeitfenster für eine vorzeitige Parlamentsauflösung auf wenige Monate, wenn nicht Wochen. Mit anderen Worten: Sie ist unwahrscheinlich.