Kompromiss an falscher Stelle
Über 100 Milliarden Euro jährlich gehen dem italienischen Staat (und seinen ehrlichen Bürgern) durch Steuerhinterziehung verloren. Milliarden, die dringend für öffentliche Dienstleistungen, soziale Unterstützungsmaßnahmen, Innovationen und Infrastrukturen benötigt werden. Ganz besonders in der Pandemie, die noch breitere Teile der Bevölkerung und viele Unternehmen in akute wirtschaftliche Not bringt und wo jeder Euro gebraucht wird, um deren Folgen zumindest partiell aufzufangen.
Den größten Anteil an den Steuerschulden haben die Mehrwertsteuer (im Zeitraum 2011-2016 im Durchschnitt jährlich 35,6 Milliarden) sowie die Steuern für Selbstständige – Handwerker, Händler, Rechtsanwälte, Ärzte etc. – und für Unternehmen (48,8 Milliarden jährlich). Aber auch das Umgehen von Kfz- und Immobiliensteuer und verschiedener Bußgelder verursacht Verluste in Milliardenhöhe.
Wiederkehr einer alten Bekannten
Seine Regierung werde der Bekämpfung der Steuerhinterziehung und der Einführung einer sozial gerechteren Besteuerung hohe Priorität einräumen, erklärte Ministerpräsident Draghi bei seiner Rede im Parlament vor der Vertrauensabstimmung. Doch in dem Gesetzesdekret über zusätzliche staatliche Corona-Hilfen, das Mitte März vom Kabinett beschlossen wurde, trifft man wieder auf eine alte Bekannte: eine – wenn auch begrenzte – Amnestie für Steuerhinterzieher. Sie soll für Altfälle aus dem Zeitraum 2000-2010 und für Schulden in Höhe bis zu 5.000 Euro für diejenigen gelten, die über ein Jahreseinkommen bis zu 30.000 Euro verfügen.
So lautet der Kompromiss, der nach zähem Ringen innerhalb der Koalition erreicht wurde. Auf der einen Seite standen Salvinis Lega, Berlusconis Forza Italia und auch die 5-Sternebewegung, die gemeinsam darauf drängten, den Kreis der Begünstigten erheblich zu erweitern; auf der anderen die PD, LEU und – last but not least – eigentlich auch der Ministerpräsident mit seinem Finanzminister, die (zunächst) grundsätzlich gegen eine solche Maßnahme waren.
Die Aktenberge über nicht abgearbeitete Altfälle, die sich in der Steuerbehörde („Agenzia delle entrate“) kumuliert haben (986, 7 Milliarden im Laufe der letzten zwanzig Jahre), sind wesentlich auch deren Ineffizienz geschuldet. „Es ist evident, dass hier der Staat nicht funktioniert hat“, räumte der neue Regierungschef zum Verwaltungsdesaster ein. Die Mechanismen der Einziehung und Steuerfahndung müssten daher dringend reformiert werden.
Das ist notwendig und richtig. Nicht richtig ist es, dass in Erwartung der Reform erneut die Steuerhinterzieher belohnt werden. Und auch wenn Draghi Salvini, der eine viel weitergehende Amnestie forderte, die rote Karte zeigte: hier hätte es überhaupt keinen „Kompromiss“ geben dürfen. Er sendet ein fatales Signal und verpasst all denjenigen eine schallende Ohrfeige, die regelmäßig ihrer Steuerpflicht nachkommen und sich nun fragen, ob sie mal wieder die Deppen waren. Nicht gerade motivierend für ihre künftige Gesetzestreue.
Salvinis „Steuerfrieden“
Dass die Lega da von „pace fiscale“ („Steuerfrieden“) redet, um das vorbelastete Wort „condono“ („Amnestie“) zu vermeiden, ist lächerlich und stellt die Dinge auf den Kopf. Das Wort „Friedensschluss“ unterstellt, dass sich hier die Bürger mit dem Staat im Kriegszustand befinden. Was wiederum suggeriert, dass das Einziehen von Steuern seitens des Staates willkürlich und unrechtmäßig ist: ein räuberischer Akt, mit dem unbescholtenen Bürgern ihr hart verdientes Geld gewaltsam aus der Tasche gezogen wird. Damit wird aus der Weigerung, Steuern zu zahlen, ein Akt legitimer Selbstverteidigung.
Und dass entspricht leider genau dem, was viele Italiener denken (was Salvini natürlich weiß). Sie erwarten zwar vom Staat, dass er für ausreichend viele Schulen, Krankenhäuser, Straßen und finanzielle Unterstützung im Notfall sorgt. Aber woher er dafür das Geld nehmen soll, ist nicht ihr Problem. Hauptsache nicht von ihnen.
Wenigstens begrifflich wollte Draghi auf keine „Kompromisse“ mehr eingehen: „Ja, doch, es geht um eine Steueramnestie“, stellte er nach der Kabinettssitzung klar. Allerdings in einem sehr bescheidenen Umfang, setzte er hinzu, mit geringem Schaden für die Staatskasse und nur für Personen, deren Jahreseinkommen unter 30.000 Euro liegt. Die Amnestie solle helfen, Altfälle von Steuerschulden abzubauen, die ohnehin nicht mehr zu begleichen sind (zum Beispiel wegen Tod oder Bankrott).
Das „soziale“ Argument
Argumente bzw. Rechtfertigungen, die nicht überzeugen. Der finanzielle Schaden für die öffentlichen Haushalte mag sich zwar in Grenzen halten, aber er ist und bleibt ein relevanter Schaden. Die Experten schätzen ihn immerhin auf ca. eine Milliarde. „Wäre es nicht besser gewesen, dieses Geld – zum Beispiel – den Gastronomen zu geben?“ fragt, etwas polemisch aber zurecht, Pierluigi Bersani (der frühere PD-Generalsekretär, der jetzt zu LEU gehört).
Ebenso wackelig ist das vermeintlich „soziale“ Argument, das vor allem von den 5Sternen vorgebracht wird: die Amnestie sei doch nur für Einkommensschwache. Erstens dürfte die prekäre wirtschaftliche Lage nicht als Freibrief für den Gesetzesbruch gelten; und zweitens ist der „condono“ eine eklatante Ungerechtigkeit gegenüber denen, die ebenfalls wenig verdienen, ihre Steuern aber dennoch bezahlen (und gegenüber den abhängig Beschäftigten, denen sie ohnehin automatisch abgezogen werden). Unterstützung durch den Staat ist notwendig, aber sie muss durch geeignete soziale Ausgleichsmaßnahmen geschehen, nicht durch Straferlasse. Bersani dixit.
Übrigens sind nicht alle, die weniger als 30.000 Euro Jahreseinkommen angeben, tatsächlich Geringverdiener. Schon da beginnt häufig der Betrug. Wie es sich auch jetzt in der Krise bestätigt hat, wo zum Beispiel Selbstständige und Unternehmer, die gegenüber dem Fiskus extrem niedrige Einnahmen (manchmal gegen Null tendierend) angezeigt hatten, auf einmal Finanzhilfen als Ersatz für Verluste beantragten, die vielfach höher sind als ihr angebliches Gesamteinkommen.
Auch die „verwaltungstechnische“ Rechtfertigung, es handele sich nur um alte Steuerschulden, die faktisch sowieso nicht mehr einklagbar sind, trifft nicht zu, weil die Amnestie keineswegs auf solche (nachgewiesenen) Fälle begrenzt wurde.
Die Tücken einer Allparteienregierung
Das Problem ist in Wahrheit, dass Draghi als Chef einer „Allparteienregierung“ (Melonis Fratelli d‘ Italia ausgenommen) permanent mit Forderungen aus dem Kreis der Koalitionäre konfrontiert wird, darunter auch welche, die er eigentlich für indiskutabel hält. Hier sind manchmal Kompromisse pragmatisch sinnvoll und vor allem faktisch unvermeidbar, um den Laden überhaupt zusammenzuhalten. Die Frage ist aber, wo Entgegenkommen und wo Unnachgiebigkeit angesagt ist. Bei dem ethisch und politisch so sensiblen Problem der Steuerhinterziehung, das in Italien schon immer verharmlost und nur inkonsequent bekämpft wird, wäre Letzteres richtig gewesen. Draghi hat sich anders entschieden.
Nachdem er und sein Finanzminister den Kompromiss gegenüber der Lega unter Dach und Fach gebracht hatten, blieb der PD und LEU, die sich anfänglich gegen den „condono“ gewehrt hatten, kaum Spielraum, den Fehler zu korrigieren. Zumal sich auch ihr „Verbündeter“ 5SB in dieser Frage auf die Seite von Salvini und Berlusconi schlug. Ausgerechnet die 5SB, die einst Vorkämpferin im gegen Korruption und Illegalität sein wollte. Offenbar gilt ihre Strenge nur der „Kaste“, aber nicht, wenn die Gesetzesbrecher sogenannte „normale Bürger“ sind.
Die geringe Begeisterung Draghis für den erreichten „Kompromiss“ zeigte sich auch darin, dass er gleich nach dem Amnestiebeschluss alle Parteien, die in seine Regierung mit eigenen Forderungen und „Steckenpferden“ im Gepäck eingetreten waren, mahnte, sich im Interesse des Landes gut zu überlegen, welche von ihnen sinnvoll und welche hingegen verzichtbar sind. Die Mahnung richtete sich, wenn auch unausgesprochen, in erster Linie an Salvini, der gar gedroht hatte, das gesamte Gesetzesdekret platzen zu lassen, wenn seine Forderung nach „Steuerfrieden“ nicht durchkäme. Der Wink scheint bei ihm allerdings nicht angekommen zu sein, denn unmittelbar danach brüstete er sich auf Facebook: „Beschleunigung mit Lega-Stempel! 16 Millionen alter Steuerakten endlich getilgt mit der Zusicherung, in diese Richtung für einen noch breiteren Steuerfrieden bis Ende April weiterzugehen “. Worin ein weiterer plumper Übertölpelungsversuch steckt.
Der Weg der Allparteienregierung ist, wie zu erwarten war, steinig. Als größter Störfaktor erweist sich – kaum überraschend – Salvini, der unter dem Druck steht, sich sowohl gegenüber dem Bündnis von Mittelinks und 5SB als auch gegenüber Melonis einziger Oppositionspartei zu profilieren, die in den Umfragen weiter wächst. Nach dem Gerangel um den „Steuerfrieden“ poltert er jetzt gegen die verschärften Corona-Restriktionen, die er – ungeachtet des Infektionsgeschehens – als „undenkbar“ abstempelt.
Ministerpräsident Draghi muss sein ganzes persönliches Gewicht ins Spiel bringen, wenn er verhindern will, dass seine Regierung durch diese stetigen Querschüsse zermürbt wird. Jetzt steht er vor der Aufgabe, sich die Autorität, die er außenpolitisch – vor allem in der EU – bereits besitzt und mit der er auch als Regierungschef Italiens rechnen kann, nun auch innenpolitisch zu erarbeiten. Getreu dem Motto: Niemand ist Prophet im eigenen Land.