Italien und Frankreich – Populisten am Scheideweg

Artikel von Marc Lazar

Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Artikel von Marc Lazar, der am 7. 3. 2021 in der Repubblica (unter dem Titel „Italia e Francia populisti al bivio“) erschien, ist aus zwei Gründen von Interesse. Zum einen, weil er durch den Vergleich Italiens mit Frankreich einen Blick über den jeweiligen Tellerrand ermöglicht und damit Licht auf das strukturelle Problem wirft, vor dem gegenwärtig die europäischen Populisten stehen und der sie zu einer „Metamorphose“ zwingt. Zum anderen weil der Autor in den letzten sieben  Jahren ein wissenschaftlicher Weggefährte von Enrico Letta war, dem neuen Generalsekretär der PD. Lazar ist ein französischer Historiker und Soziologe, der seit 2014 Direktor des Pariser Centre d’histoire des Sciences Po ist, wo er eine Forschungsgruppe zum heutigen Italien leitet. Und der nach eigener Aussage Letta 2014 nach Paris holte. Man kann deshalb vermuten, dass der differenzierte Blick Lazars auf Grillos 5-Sterne-Bewegung und auf Salvinis Lega auch der Blick Lettas ist. Das zeigen Lettas letzte Äußerungen gegenüber der internationalen Presse, in denen er u. a. auf das Verhältnis zur 5SB einging: Bei den Wahlen 2023 steuere „das Land auf die Konfrontation zweier großer Lager zu: auf der einen Seite die Rechte mit Salvini und Meloni als Protagonisten, auf der anderen Seite ein Mittelinks-Bündnis, das von der PD geführt werde und mit den 5 Sternen im Dialog ist“. Darin steckt eine Bestätigung der Absicht Zingarettis, der dieses Bündnis anstrebte, aber doch mit einer anderen Nuancierung: Zingaretti wollte es von vorherein „strategisch“, während Letta die 5 Sterne vorerst nicht dem Mittelinks-Bündnis zurechnet, sondern sich dieses Bündnis, das sich als „Mittelinks“ versteht und von der PD geführt wird, mit ihnen „im Dialog“ befindet. Eine Nuancierung, die nicht nur mehr Distanz signalisiert, sondern beiden Partnern auch mehr Autonomie einräumt. Und diese auch jetzt schon in Anspruch nimmt, indem er z. B. gegen den heftigen Widerspruch der Rechten die Absicht bekräftigt, in Italien (nach französischem Vorbild) den „Ius soli“ einzuführen. Woran sich die 5 Sterne, die es einst selbst einführen wollten, in den letzten Jahren konsequent vorbeigedrückt haben.

„Oft wurde in Italien ein Laboratorium der europäischen Populismen gesehen, besonders im Jahr 2018, als sich unter Führung von Giuseppe Conte die Regierung von Lega und 5-Sterne-Bewegung bildete. Nach der Geburt der Regierung von Mario Draghi könnte man jetzt fragen, ob es nicht zum Laboratorium der Metamorphose der Populismen geworden ist.

Marc Lazar

Urteilen Sie selbst. Die 5-Sternebewegung – die Partei, die keine sein wollte – war in die Kartographie der europäischen Populismen nicht einzuordnen, da sie gleichzeitig links, rechts und ökologisch war und eine äußerst zentralisierte persönliche Macht mit Formen horizontaler Partizipation über Online-Plattformen verband. Sie geißelte die ‚Kaste‘, lehnte die Europäische Union ab, wollte die direkte Demokratie einführen und strebte sogar die Ausmerzung der Armut an.

Inzwischen befindet sich die 5SB in einer Bremsphase. Sie hat sich gespalten: in eine Komponente, die Verantwortung zeigen und die Institutionen respektieren will und viel proeuropäische Begeisterung zeigt, und in eine Minderheit, die dagegen protestiert und die Abspaltung erwägt. Gewiss, die 5SB wird sich weiterhin für Maßnahmen zum Schutz der Umwelt einsetzen, mit Klauen und Zähnen ihr Bürgereinkommen verteidigen und versuchen, besonders die Menschen in Süditalien zu unterstützen. Aber insgesamt hat sie sich angepasst. Sie hat sich institutionalisiert. Ihre Minister arbeiten nun unter der Führung von Mario Draghi – für die Grillini von einst Inbegriff der Kaste – und werden bald als Leader Giuseppe Conte inthronisieren, was mit ihrer ursprünglichen DNA nichts gemein hat.

Zwischen 2013 und 2019 hat Matteo Salvini aus „seiner“ Lega eine Partei mit nationalem Anspruch gemacht, die sich sehr von dem Rassenblement National von Marine Le Pen inspirieren ließ. Der Capitano (Salvini, A.d.R) war europa-, immigrations- und islamfeindlich. Dies trug Salvini von Sieg zu Sieg, so dass es am Ende Marine Le Pen war, die ihn zum Vorbild nahm.

Und jetzt, im Jahr 2021, hat Matteo Salvini Minister innerhalb der neuen Regierung. Gewiss, die Lega wird weiterhin hin und hergerissen sein zwischen ihrem „verantwortlichen“ Flügel – der seine Basis vor allem in Norditalien hat und Salvini drängte, Draghi zu unterstützen, damit die Unternehmen von den Corona-Hilfen profitieren –, und ihrer populistischen und  aufwieglerischen Seele. Die Lega wird jedenfalls eine Partei „des Widerstands und der Regtierung“ („di lotta e di governo“) bleiben und Salvini wird zwischen diesen beiden Realitäten balancieren müssen: Erst verkündet er, proeuropäisch zu sein und möglicherweise der Europäischen Volkspartei beitreten zu wollen, dann wieder antwortet er am 16. Februar auf die Frage eines Journalisten, ob er die Zugehörigkeit Italiens zur Eurozone für „irreversibel“ hält: „Irreversibel? Ist nur der Tod“. Und hat auch schon wieder seine Offensive gegen die Migranten begonnen.

Die italienische Erfahrung ist sicherlich einzigartig – und belegt, dass die legendäre Schwäche der Demokratie eine außerordentliche Fähigkeit hat, Anklagen der Opposition aufzufangen. Trotzdem ist sie auch reich an allgemeineren Lehren. Sie zeigt, wie die Überlangerung von drei großen Veränderungen die Populismen vor erhebliche Probleme stellt: die Niederlage Trumps in den USA, die Covid19-Pandemie und die Entscheidung der EU, den europäischen Ländern beträchtliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

Mit Blick auf die Kampagne zur Präsidentschaftswahl im Jahr 2022 wird Marine Le Pen ein Dilemma lösen müssen, das dem der Lega ähnelt. So wie Jean-Luc Mélenchon, der linke populistische Leader von France Insoumise, eines lösen muss, das dem der 5SB ähnelt: Entweder bei einer allumfassenden Protesthaltung und EU-Kritik bleiben, oder aber ein wenig die eigenen Programme modifizieren, wie es jetzt schon Marine Le Pen versucht, um vertrauenswürdiger zu wirken, auch auf Kosten der Enttäuschung eines Teils ihrer Wählerschaft.

Die Populisten sind alles andere als im Aussterben begriffen. Aus einem Scheitern Draghis und Macrons werden sie ihren Nutzen ziehen und von der Verschlechterung der sozialen Lage in ihren jeweiligen Ländern profitieren können. Auf jeden Fall sind sie mit Sicherheit an einem Scheideweg. Unter diesem Aspekt wird das, was in den kommenden Monaten in Italien geschieht, nicht nur für die Italiener, sondern für alle Europäer von Interesse sein.“