Stummes Sterben im Mittelmeer
Es gibt zwei Mittelmeere. Das eine ist der Sehnsuchtsort vieler Deutscher, gerade auch in der Pandemie: Es ist blau, funkelt silbrig glitzernd in der Sonne, schlägt kleine Wellen und nimmt die Badenden mit samtener Kühle auf. Das andere ist ein Grenzmeer zwischen Nordafrika und Europa, eine Vernichtungsmaschine, welche viele ihrer Opfer im Nichts verschwinden lässt, wie den Sondermüll, den dort auch die N‘drangheta entsorgt.
Neue Katastrophe
Es geschah zwischen dem 22. und 24. April. Am Abend des 22., einem Dienstag, setzten sich von Al Khums an der libyschen Küste aus drei Schlauchboote in Bewegung. Das Wetter war schlecht, der Wellengang hoch, es war eine Kamikaze-Aktion. Ein Boot mit 42 Flüchtlingen an Bord verschwand sofort, ohne Spuren zu hinterlassen. Ein zweites mit 108 Personen fing die libysche „Küstenwache“ ein, was heißt, dass sie seine menschliche Ladung, soweit sie noch lebte (zwei waren gestorben), wieder ins Inferno der libyschen Lager verbrachte.
Im dritten Boot befanden sich 130 Menschen, darunter 7 Frauen. Am Mittwochmorgen sah ein Fischerboot, dass sich das Schlauchboot in Schwierigkeiten befand – es übermittelte die Nachricht zuerst an den Privatsender „AlarmPhone“, da die europäischen Anrainerstaaten die kommunikative Infrastruktur für Seenotfälle weitgehend demontiert haben. Noch am Vormittag gab AlarmPhone die Nachricht an die offiziellen Seenotrettungsleitstellen in Italien, Malta und Libyen, an den UNHCR und sechs NGOs weiter. Von denen zu diesem Zeitpunkt nur die Ocean Viking im Einsatz war, eine Folge der systematischen Behinderung der NGOs durch die italienische Verwaltung, die bis heute anhält. Erst am Donnerstagabend, als die Katastrophe bereits geschehen war, konnte auch die Sea Watch 4 auslaufen, die bis dahin in einem italienischen Hafen festgehalten worden war.
Mittwochmittag gelang es AlarmPhone, Kontakt zu einem Flüchtling auf dem Schlauchboot zu bekommen, der die Notsituation bestätigte: „Ruft Hilfe, die Wellen sind sehr hoch, das Schlauchboot steht schon unter Wasser, sind in Panik“. AlarmPhone gab mit der Nachricht auch die aktuellen GPS-Koordinaten des havarierten Boots weiter, aber niemand kam. Ein Frachter, der sich in der Nähe befand, fuhr weiter. Die Schiffbrüchigen schöpften einen Moment lang Hoffnung, als – sieben Stunden nach dem ersten Alarm – ein Frontex-Flugzeug über dem sinkenden Boot erschien. Aber Hilfe kam nicht. Mittwochabend riss der letzte Kontakt zu den Flüchtlingen ab, ihre Telefon-Batterien gaben den Geist auf. Als daraufhin AlarmPhone nochmals die Seenotrettungsleistelle MRCC in Rom anrief, wurde geantwortet, dass man dort schon alles Nötige tue – AlarmPhone könne wieder anrufen, wenn es Neuigkeiten gebe. Gegen Mitternacht erklärte Tripolis, dass die libysche Küstenwache in dieser Nacht wegen der schweren See nicht mehr rausfahren werde. Und behauptete am nächsten Morgen sogar, nichts von einem Boot in Seenot zu wissen. Als schließlich die Ocean Viking am Donnerstagabend mit zwei Frachtschiffen die Unglücksstelle erreichte, fand sie dort nur noch Schlauchreste und zehn im Wasser treibende Leichen vor, die nicht versunken waren, weil sie noch von Rettungswesten oder Fahrradschläuchen über Wasser gehalten wurden. Die anderen 120 waren verschwunden. Nicht einmal die noch auf der Wasseroberfläche treibenden Leichen durfte die Ocean Viking bergen – ihr wurde gesagt, dies sei Sache der libyschen Küstenwache, welche die „Koordination der Operation“ übernommen habe (von der sich jedoch niemand blicken ließ).
Migrationspolitik ohne Perspektive
Das neuerliche Massensterben im Mittelmeer zeigt, wie perspektiv- und konzeptionslos nicht nur die italienische, sondern auch die europäische Migrationspolitik geworden ist, und wie mörderisch die Konsequenzen sind. Das Frontex-Flugzeug, welches das Schlauchboot in dem Moment überfliegt, in dem sich auf ihm 130 Migranten in höchster Lebensgefahr befinden, aber keine Hilfe holt, wird zum Symbol einer Politik, deren Kern das systematische Abschieben von Verantwortung ist: Die Frontex begnügt sich damit, die Koordinaten an Italien, Malta und Libyen weiterzugeben, aber unternimmt sonst nichts, denn für alles Weitere ist Libyen „zuständig“. Italien, Malta und Libyen spielen Schwarzen Peter, bis sich das Problem von selbst erledigt hat.
Diese Politik begann, als Italien die Operation Mare Nostrum aufgab, welche die Letta-Regierung 2013 nach dem Massensterben vor Lampedusa ins Leben gerufen hatte. Der PD-Innenminister Minniti setzte sie 2017 fort, als er die unglückselige Idee hatte, Libyen in die Blockierung der transmediterranen Migration einzubinden. Und die Conte1-Regierung vollendete sie, als Salvini 2018/19 die italienischen Häfen schloss und die lästigen NGOs fast vollständig aus dem Mittelmeer vertrieb. Was die EU dadurch ergänzte, dass sich ihre meisten Mitglieder weigern, irgendjemanden aufzunehmen, der es trotzdem schafft, europäischen Boden zu betreten.
Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass das, was vor einer Woche im Mittelmeer geschah, das Vorspiel zu einem noch größeren Drama werden könnte. Die Statistiken sagen, dass im April dieses Jahres schon dreimal mehr Migranten mehr als im April letzten Jahrs die Flucht über das Meer versuchten, und dass sich auch die Todeszahlen mehr als verdreifacht haben, obwohl die libysche „Küstenwache“ über 6000 wieder eingefangen und in ihre Lager zurückgebracht hat. Chiara Cardoletti, die UNHCR-Repräsentantin in Italien, sieht „klare Signale für eine konsistente Erhöhung der Migrationsströme. Die Pandemie und die Verschlechterung der sozioökonomischen Situation Afrikas setzen Abertausende von Menschen in Bewegung. Vor allem Äthiopien und die Sahel-Zone befinden sich in einer äußerst schlechten Lage… Wir hoffen, dass es Europa in Erwartung eines neuen Asylpakts wenigstens schafft, einen provisorischen Mechanismus zur schnellen Seenotrettung auf die Beine zu stellen. Sonst werden wir hier weiterhin nur die Toten zählen“.
Draghis vierte Herkulesaufgabe
Auf Draghi warten bereits drei große Aufgaben: die Bewältigung der Pandemie, die Umsetzung des Recovery-Plans, der Italien ökonomisch, techisch und vor allem ökologisch revolutionieren soll, die Reform der öffentlichen Verwaltung. Nun werden auch die Konturen der vierten Aufgabe deutlich, die Italien auf keinen Fall allein bewältigen kann, die aber für das Land nicht weniger dringlich ist: die Steuerung der Migration über das Mittelmeer. Wofür
- aus Europa eine Gemeinschaft werden müsste, die nicht nur die Migranten solidarisch unter sich aufteilt, sondern sich auch zu einer gemeinsamen Anstrengung aufrafft, um die afrikanischen Länder zu Orten zu machen, in denen es sich zu bleiben lohnt;
- aus Libyen eine Rechtsstaat werden müsste, der die Menschenrechte achtet, was wiederum voraussetzt, dass es den Klauen Putins, Erdogans und Al-Sisis entrissen wird;
- und auf diesem Weg, der nicht kurz sein wird, auch Zwischenschritte eingeplant werden, wie den sofortigen Zugang des UNHCR zu den libyschen Lagern, ihre baldige Auflösung und die Wiedereröffnung der „humanitären Korridore“.
Einen solchen ersten Zwischenschritt fordern nun auch die im Mittelmeer engagierten NGOs.
Appell der NGOs an Draghi
Am 26. April veröffentlichten die NGOs, die sich für die Seenotrettung engagieren, den folgenden Appell an den italienischen Ministerpräsidenten:
„Sehr geehrter Herr Präsident Mario Draghi, nachdem es am vergangenen Donnerstag zur erneuten Tragödie im Mittelmeer kam, halten wir es für unerlässlich, Sie um ein baldiges Treffen zu bitten. Bei jedem neuen Schiffbruch hoffen wir, dass es der letzte ist. Auch die Tragödie, zu der es in diesen Tagen kam, hätte höchstwahrscheinlich vermieden werden können. In den 24 Stunden, die zwischen der ersten Nachricht von Alarm-Phone und dem eigentlichen Beginn der Tragödie vergingen, wartete die Ocean Viking auf ein Eingreifen der maritimen Autoritäten, aber obwohl die italienischen, libyschen und Malteser Autoritäten permanent auf dem Laufenden gehalten wurden, hat es diese Koordinierung nicht gegeben oder wurde zumindest nicht das Rettungsschiff einbezogen, das in diesem Moment einzig präsent war. Dass dieses Versäumnis fatale Folgen hatte, ist offensichtlich: Mehr als hundert Personen haben ihr Leben verloren. Das ist die Realität des Mittelmeers. Seit 2014 starben oder verschwanden mehr als 20.000 Männer, Frauen und Kinder im zentralen Mittelmeer, das sein trostloses Primat bestätigt, die tödlichste Migrationsroute der Welt zu sein. Seit dem Ende der Operation Mare Nostrum hat es kein staatliches Abkommen geschafft, die Todesrate zu vermindern. Seitdem versuchten die NGOs, diese Lücke zu füllen, aber das Fehlen einer zentralisierten Koordination hat zu Tragödien wie der letzten geführt, die auf dem kollektiven Gewissen lasten. Viele Jahre fand das Eingreifen der zivilen Rettungsschiffe die Anerkennung der italienischen und europäischen Autoritäten. Dies hat sich geändert: Die Regierungen haben ihre Schiffe abgezogen und aufgehört, die Rettungsmaßnahmen zu koordinieren. Statt den Menschen zu Hilfe zu kommen und sie in einen sicheren Hafen zu begleiten, wie es das internationale Seerecht verlangt, wurde begonnen, sie von den libyschen Autoritäten nach Libyen zurückbringen zu lassen, wo sie zu Opfern willkürlicher Festsetzungen, von Gewalt und Missbrauch jeder Art werden, die breit dokumentiert sind. Gleichzeitig wurden die NGOs zum Ziel einer Delegitimierungs- und Kriminalisierungskampagne. Wie schon die Präsidentin der Europäischen Kommission Von der Leyen feststellte, ist „Seerettung keine Option“, sondern eine präzise Pflicht der Staaten, also eine nicht nur moralische, sondern auch rechtliche Pflicht. Als NGOs sind wir auf See, um eine Lücke zu füllen, und wir wären sofort bereit, uns zurückzuziehen, wenn Europa einen institutionellen und koordinierten Mechanismus der Suche und Rettung schaffen würde, dessen primäres Ziel es wäre, Menschen aus dem Meer zu retten.
Herr Präsident, wir bitten Sie um ein Treffen, um zu diskutieren, welche konkreten Initiativen von der Regierung ergriffen werden können, unter Einbeziehung Europas, um zu gewährleisten, dass die Rettung von Menschenleben wieder zur Priorität wird und sich unakzeptable Tragödien wie die Schiffbrüche der letzten Tage nie mehr wiederholen.“
Unterschrieben wurde der Appell von:
Alarm Phone, Emergency, Medici Senza Frontiere, Mediterranea, Open Arms, ResQ-People saving People, Sea Watch, Sos Mediterranee.
PS: Noch gibt es von Draghi keine Reaktion.