„Neue europäische Renaissance“ der Souveränisten

Er sei „europafreundlich aus pragmatischen Gründen“, hatte Salvini nach seinem Eintritt in Draghis Allparteien-Koalition erklärt. Eine Wendung über Nacht, denn noch unmittelbar davor galt „Prima gli Italiani!“, und es hagelte Angriffe gegen die EU, die für alle Übel Italiens verantwortlich sei.

Dass die Wandlung real ist, glaubt keiner, auch nicht in Salvinis eigener Partei. Das Überziehen des europäischen Jacketts dient allein dem Einstieg in den Regierungszug, damit die Lega bei der Verwendung der Mittel aus dem gigantischen EU-Hilfspaket für den nationalen Recovery-Plan (über 200 Milliarden) die Finger im Spiel hat. Ein europäischer Anstrich sei dafür unerlässlich und alle Gedankenspiele zum „Italexit“ seien vorerst ad acta zu legen, hatte der

Lega-Oberstratege und jetzige Wirtschaftsminister Giorgetti seinem Chef eingeschärft.

Salvinis Pakt mit Orbán und Morawiecki

Wie brüchig jedoch diese Fassade ist, zeigte sich vor einigen Tagen in Budapest, wo Salvini mit Orbán und dem polnischen Regierungschef Morawiecki einen „Pakt“ besiegelte. Also ausgerechnet mit denjenigen, die in ihren Ländern die europäischen Grundwerte mit Füßen treten und in der EU systematisch alles boykottieren, was Europa stärker und solidarischer macht. U. a. indem sie sich weigern, einem Verteilungssystem zuzustimmen, das alle europäischen Mitgliedstaaten zur Aufnahme einer bestimmten Anzahl von Flüchtlingen verpflichtet. Was gerade im Interesse der Anrainerstaaten, wie zum Beispiel Italien, liegt.

Das Trio nach dem Treffen

Dass sein Schulterschluss mit Ungarn und Polen im direkten Widerspruch zu der von ihm so heftig beschworenen Verteidigung nationaler Interessen steht, stört Salvini jedoch nicht. Bei dem Auftritt des Trio vor der Presse, das im Anschluss an dem Treffen in Budapest stattfand, pries der Lega-Chef den Pakt als Einstieg in eine „neue europäische Renaissance“. Dank ihr solle endlich die „kulturelle und ideologische Dominanz der Linken im EU-Parlament und in den übrigen europäischen Institutionen“ gebrochen werden. Die christdemokratische Europäische Volkspartei (EVP), die stärkste Fraktion im Parlament, zählt er dabei gleich zur Linken mit. Europa müsse sich darauf beschränken, „wenige Dinge zu tun, die aber richtig“, setzte er hinzu. Es dürfe keine Einmischung in die nationalen Kompetenzen geben – zum Beispiel bei Entscheidungen über die eigene Rechtsordnung – und keine „Erpressung“ der Mitgliedstaaten, indem ihnen ein „demokratischer Führerschein“ abverlangt wird. Ein klarer Verweis auf die Auseinandersetzung um die sogenannte „Rechtsstaatsklausel“ zwischen der EU-Kommission einerseits und Ungarn und Polen andererseits (gegen Ungarn läuft unter anderem ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge).

Orbán hob seinerseits vor allem die Verteidigung der „traditionellen christlichen Familie“ und der nationalen Grenzen gegen die „illegale Migration“ hervor. Er nannte dabei Salvini „unseren Helden“, der es geschafft habe, die „illegale“ Migration an den Küsten Italiens zu stoppen („Wir Ungarn haben die Migranten auf dem Land aufgehalten, Salvini tat es auf dem Wasser“). Was übrigens nicht stimmt, denn die einzigen Schiffe, die Salvini als Innenminister – zeitweise – stoppte, waren NGO-Schiffe mit Geretteten an Bord, während täglich Hunderte von Kleinbooten die Küsten Siziliens und Lampedusas erreichten, ohne dass er einen Finger rührte.

Rechtspopulistische Anführer sind auch Konkurrenten

Bei allem Pathos über „gemeinsame Werte“ bleibt unklar, was aus dem in Budapest geschlossenen Pakt konkret entstehen soll: ein Parteienbündnis zwischen der Lega von Salvini, der ungarischen Fidesz und der polnischen PiS (Partei von „Recht und Gerechtigkeit“)? Oder die Gründung einer neuen Fraktion, mit der die verschiedenen rechtspopulistischen Kräfte im Europäischen Parlament zusammengeführt werden?

Letzteres würde numerisch zur Bildung der drittgrößten Gruppe (137 Abgeordnete) nach der EVP und den Sozialdemokraten führen, wäre aber politisch kein einfaches Unterfangen. Zurzeit sitzt die Lega – gemeinsam mit Marine Le Pen und der AfD – in der Fraktion „Identität und Demokratie/ID“, wo sie als stärkste Partei den Vorsitzenden stellt; während die PiS der Fraktion der „Europäischen Konservativen und Reformisten/EKR“ angehört – ebenfalls als stärkste Gruppe -, deren Parteivorsitzenden seit 2020 Giorgia Meloni ist, die Chefin von Fratelli d‘ Italia und Salvinis Rivalin im Kampf um die Führung der italienischen Rechten. Noch heimatlos ist Orbáns Partei Fidesz, nachdem sie aus der EVP ausgetreten ist (und damit einem Rauswurf zuvorkam).

Weder die Lega noch die PiS dürften ohne Weiteres bereit sein, ihre führende gegenwärtige Position in ID bzw. EKR zugunsten einer neu zu gründenden Fraktion aufzugeben, deren Zusammensetzung und Kräfteverhältnisse noch nicht definiert sind. Zurzeit werben beide – die ID wie auch die EKR – um die noch fraktionslosen 12 Abgeordneten von Fidesz, um die eigene Position im Parlament auszubauen. Doch auch der ungarische Autokrat hat schon seinen Führungsanspruch angemeldet: Gleich nach dem Austritt der Fidesz aus der EVP verkündete er, sich an die Spitze einer „neuen europäischen Rechten“ setzen zu wollen.

Jenseits der politischen und ideologischen Affinitäten stehen also die drei rechtspopulistischen Parteien aus Ungarn, Italien und Polen zueinander auch in Konkurrenz. Die im Fall der Lega auch an der heimischen Front besteht, nämlich zur aufsteigenden Partei „Fratelli d‘ Italia“ von Meloni, deren persönliche Umfragewerte die Salvinis schon seit Langem übersteigen.

Spagat der Lega zwischen Protest- und Regierungspartei

Insofern enthält Salvinis „Pakt“ mit den ungarischen und polnischen Rechtspopulisten eine innenpolitische Komponente: Zurzeit profitiert Melonis Partei davon, dass sie als einzige oppositionelle Kraft die wachsende Unzufriedenheit, Wut und Verzweiflung wegen der fortdauernden Corona-Krise nutzen kann, um sich politisch zu profilieren. Das setzt die Lega, die anders als die FdI Regierungsverantwortung trägt, gewaltig unter Druck.

Salvini versucht, darauf zweigleisig zu reagieren: Einerseits gibt er sich staatstragend und betont immer wieder, wie gut er sich mit dem Ministerpräsidenten versteht. Andererseits greift er jede Gelegenheit auf, um sich von Regierungsbeschlüssen zu distanzieren, die seiner Wählerklientel missfallen. Das gilt insbesondere für die Corona-Restriktionen, die in verschiedenen Landesteilen zunehmend zu – auch gewalttätigen – Protesten führen, vor allem von kleinen Händlern, Bar- und Restaurantbetreibern, Taxifahrern und anderen kleinen Selbständigen, die oft in der Grauzone zwischen Legalität und Schwarzarbeit tätig sind.

Salvinis demonstrativer Schulterschluss mit Orbán und Morawiecki setzt diese Strategie als „partito di lotta e di governo“ auf der europäischen Ebene fort. Indem er zu „Brüssel“ offen auf Distanz geht und die Kompetenzen der EU-Institutionen in Frage stellt, konterkariert Salvini direkt den europäischen Kurs von Draghi, dem Ministerpräsidenten einer Regierung, zu der auch die Lega gehört.

Innerhalb der Lega stößt Salvinis Vorgehen allerdings zunehmend auf Widerspruch, vor allem beim „moderaten“ Flügel um den jetzigen Wirtschaftsminister Giancarlo Giorgetti, der die Interessen der norditalienischen Unternehmen fest im Blick hat und genau weiß, dass der nationale Recovery Plan und die Mobilisierung dessen Ressourcen nach enger europäischer Zusammenarbeit verlangen. Schon seit Langem arbeitet er daran, durch gute Kontakte vor allem zur CDU/CSU die Lega „anschlussfähig“ an die EVP zu machen. Vom Anheizen antieuropäischer Ressentiments hält er dementsprechend nichts. Und auch nichts von Salvinis Pakt mit Orbán und Morawiecki, im Gegenteil: „Wenn er (Salvini, Anm. MH) so weiter macht, war meine ganze bisherige Arbeit umsonst“, soll sich der „zweite Mann“ der Lega beklagt haben.

Fraglich ist auch, ob Salvinis Doppel-Kurs bei den Anhängern und potentiellen Wählern gut ankommt. Die Ergebnisse aktueller Umfragen sprechen nicht dafür. Sie sehen die Lega zwar immer noch als erste Partei, dennoch verliert sie langsam aber stetig an Zustimmung, auch nach ihrem Eintritt in die Regierungsmehrheit. Zurzeit liegt sie (laut dem Mittelwert verschiedener Umfrageinstitute) bei 22,9 % (gegenüber 34% bei den Europawahlen 2019). An zweiter Stelle steht die PD mit 4,3 Punkten Abstand (18,6%). Es folgen Fratelli d‘ Italia und 5-Sternebewegung mit 17,2% bzw. 17%, beide mit positivem Trend, den die FdI ihrer Oppositionsrolle und die 5SB ihrem neuen Leader Giuseppe Conte verdanken.

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