Draghis Herkulesaufgabe
In dem Artikel „Recovery-Plan: Die Chance als Problem“ (der am 27.2.2021 in übersetzter Form in diesem Blog erschien) argumentieren die Ökonomen Tito Boeri und Roberto Perotti, dass die enormen Mittel, die Italien aus dem Recovery-Plan der EU zustehen, die eigentliche Ursache für die wirtschaftliche Schwäche des Landes in den Vordergrund rücken: die Unfähigkeit von Regierungen und Verwaltung, Erfolg versprechende Konzepte zu entwickeln und umzusetzen, mit denen die schon lange bekannten Schwächen des Landes überwunden würden. Das Haupthindernis ist nicht fehlendes Geld: schon seit Jahren konnte über die Hälfte der Mittel aus den EU-Regional- und Strukturfonds nicht abgerufen werden. Bereits 2011 hatte Mario Draghi mit drastischen Worten darauf und auf weitere Verwaltungsmängel hingewiesen: fehlende oder unausgegorene sowie unkoordinierte Projekte, viel zu viel Zeit für deren Entwicklung, Ausschreibung, Umsetzung, unverhältnismäßig hohe Kosten etc. Ende März beschrieb der von Draghi berufene neue Minister für Infrastruktur, Enrico Giovannini, in einem „Repubblica“-Interview das Problem, vor dem er steht: “Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge vergehen in Italien 216 Tage von der Ausschreibung bis zum Zuschlag gegenüber 54 Tagen in Deutschland … Nach den Daten des Ministerpräsidenten-Amtes werden zur Ausführung eines öffentlichen Projektes im Durchschnitt 4,4 Jahre benötigt, aber daraus werden 15,7 Jahre, wenn es sich um Projekte im Wert von über 100 Millionen handelt“. Unter diesen Bedingungen werde kein Infrastruktur-Projekt im Rahmen des EU-Recovery-Programms möglich sein – es werden nur Projekte finanziert, die bis 2026 realisierbar sind.
Draghi hat zunächst einmal erfahrende Fachleute in die Ministerien geholt bzw. zurückgeholt: mehrere waren während der Regierungszeit Contes aus ihren Ämtern entfernt oder gedrängt worden. Für Draghi und seine Leute „bleibt es … ein übermenschliches Unternehmen, in wenigen Wochen eine produktive Verwendung von 209 Milliarden Euro zu finden, abgesehen davon, dass zur Zeit auch noch eine Verwaltung fehlt, welche die Projekte entwickeln und durchführen und Tausende von Ausschreibungen tätigen könnte“ (Boeri, Perotti). Doch wie könnte man unter diesem Zeitdruck auch damit beginnen, die Verwaltung zu reformieren? Zudem: In den vergangenen drei Jahrzehnten wurden in Rom dazu viele Gesetze verabschiedet, aber die meisten nur halbherzig oder gar nicht umgesetzt.
Reformbedarf und Reformen der staatlichen Strukturen …
Seit Ende der 1970er Jahre, vor allem seit Beginn der 1990er bestand unter den meisten Politikern und Fachleuten Konsens über die Notwendigkeit grundlegender Reformen des politischen Systems (Reform des Bikameralismus, Stärkung und Verkleinerung des Parlaments, Wahlrecht) und vor allem der staatlichen Verwaltungen.
Zur grundlegenden Reform der Staatsverwaltung wurde seit Mitte der 1990er eine Serie von Gesetzen und Verordnungen verabschiedet:
Dezentralisierung, Föderalisierung – um die Gesetzgebung und die Verwaltung stärker an den je spezifischen regionalen Gegebenheiten und Interessen zu orientieren. Dazu gehörten Stärkung der Regionen und der regionalen Verwaltungs- und Gesetzgebungskompetenzen sowie ihrer finanziellen Ausstattung. Ebenso Stärkung der Selbstverwaltung in den Provinzen und Zurückdrängen der zentralstaatlichen Institutionen und Kompetenzen in den Provinzen sowie Ausbau der kommunalen Selbstverwaltung.
Reformen der öffentlichen Verwaltungen – mit folgenden Zielen: Effizienz- und Ergebnisorientierung; Kostenbewusstsein; Leistungsorientierung; Controlling und Berichtswesen; dezentrale Ressourcenverantwortung; stärkere Bürgerorientierung.
Radikaler Wandels des öffentlichen Dienstrechts – um die geringe Flexibilität und die Aufblähung des öffentlichen Dienstes zu beenden: Abschaffung des traditionellen Beamtenstatus (lebenslange Anstellung, Laufbahnprinzip, Beförderung streng nach Seniorität) für die Mehrheit der Beschäftigten; Einführung des normalen Arbeitsrechts (Kündbarkeit, Befristungsmöglichkeit der Anstellung, Elemente leistungsorientierter Vergütung); Zugang für Quereinsteiger.
Privatisierung von Staatsunternehmen – teilweise auf Druck der EU; teilweise um die Ineffizienz vieler Staatsunternehmen und die dadurch notwendigen Subventionen sowie den Klientelismus bei der Besetzung von Spitzenpositionen loszuwerden; vor allem auch, um Geld in die klammen Staatskassen zu bekommen.
… und deren unzureichende Umsetzung
Doch viele dieser Reformgesetze wurden nur sehr zögerlich, teilweise verwässert oder überhaupt nicht umgesetzt. Die Kompetenzen der Selbstverwaltungen der Regionen, der Provinzen und der Gemeinden wurden mit der Verfassungsreform von 2001 durchaus erweitert, zu Lasten des Zentralstaates. Gegenwind kam von Anhängern des traditionellen Zentralismus aus einzelnen Parteien, aus den Spitzen der Zentralverwaltungen und auch vom Verfassungsgericht, das das Prinzip des unitarischen Staates hochhält. Die Ausstattung der dezentralen Körperschaften mit den notwendigen Ressourcen ist mangelhaft. Noch 2013 waren auf den subnationalen Ebenen die Verwaltungsinstitutionen des Zentralstaats sehr stark ausgestattet: mit 70% der Finanzmittel und 55% des Personals. Vor allem litten und leiden Gesetze und Verordnungen des römischen Parlaments unter der ausgebliebenen Reform des Zweikammersystems: Die Gesetzgebung geschieht top-down, sie müsste jedoch ausgehandelt werden mit den Vertretern der Institutionen der Regionen in einer zweiten Kammer, in der deren Bedürfnisse und Interessen eingebracht werden könnten; das würde auch deren Akzeptanz auf den subnationalen Ebenen vergrößern. Die derzeitige zweite Kammer ist dafür nicht geeignet.
Sehr schleppend wurden die Gesetze zur Reform der Verwaltungen umgesetzt (Effizienz- Kosten- und Ergebnisorientierung, Bürgerorientierung etc.). Vieles davon wurde zwar formal eingeführt, aber nur halbherzig und widerstrebend befolgt. Die radikale Abschaffung des Beamtenrechts hat tatsächlich Quereinstiege ermöglicht. Der Anteil von Leistungsprämien bei der Entlohnung wurde deutlich angehoben, aber die Prämien wurden fast immer gleichmäßig auf alle verteilt. Zur deutlichen Reduzierung der Zahl der öffentlichen Beschäftigten hat vor allem die Privatisierungswelle, weniger die Reform des Dienstrechts beigetragen. Diese hatte auch kontraproduktive Effekte: die Zunahme von Befristungen, vor allem – aber nicht nur – in den höheren Rängen, hat Patronage und Klientelismus eher erleichtert. Die angestrebte konsequente Besetzung von Führungspositionen nach Qualifikation und Leistung ist weitgehend ausgeblieben. Das Verwaltungspersonal ist insgesamt überaltert. In der Digitalisierung der Verwaltung liegt Italien weit zurück.
Viele der Privatisierungen waren nur formal, indem Staatsbetriebe in Aktiengesellschaften umgewandelt wurden, aber mit dem Staat als Allein- oder Hauptaktionär; das hat die Politisierung der Personalpolitik nicht wesentlich gebremst. Hinter den materiellen Privatisierungen (Verkäufen) stand oft kein überlegtes Konzept (was sollte im öffentlichen Interesse in der Hand des Staates bleiben?), sondern ein fiskalisches Kalkül (welche Verkäufe bringen den höchsten Ertrag für die Staatskasse?).
Das Versagen der politischen Eliten
Die mangelnde Umsetzung der durchaus grundlegenden Reformgesetze liegt vor allem an den politischen Verhältnissen in Italien. Die Parteien waren und sind zu sehr mit sich selbst und ihren internen Fraktionskämpfen beschäftigt. Mehrmals konnten nicht einmal akute Währungs- und Staatsschuldenkrisen durch die amtierenden Koalitionsregierungen oder eine Zusammenarbeit von Regierung und Opposition bewältigt werden, sondern nur durch vom Präsidenten berufene „technische“ Kabinette. Nur Regierungen mit einigermaßen stabilem Rückhalt im Parlament wären in der Lage gewesen, die beschlossenen, tief in die überkommenen institutionellen Strukturen des italienischen Staates eingreifende Reformen auch umzusetzen. Stattdessen gab es in den 29 Jahren seit 1992 im Rahmen der 8 Wahlperioden (6 wären normal gewesen) 19 Regierungen (davon 4 „technische“); nur wenige überstanden eine volle Legislaturperiode. Die mehrfachen Wechsel von Mitte-Links zu Mitte-Rechts wurden vielfach als Übergang Italiens zur Normalität eines parlamentarischen Systems gefeiert (nach der „instabilen Stabilität“ in den 46 Jahren zwischen 1946 und 1992, in der die DC im Laufe von 11 Legislaturperioden 44 der insgesamt 48 Regierungen führte). Doch die Fronten zwischen den Lagern waren und sind so verhärtet, dass Kompromisse kaum möglich sind. Teilweise nahmen die Mitte-Rechts-Regierungen von Mitte-Links beschlossene Reformen wieder zurück oder hintertrieben deren Umsetzung. Umfassende Reformen eines staatlichen Systems sind jedoch nur zu verwirklichen, wenn sich Regierung und Opposition dafür zu Kompromissen zusammenraufen können.
Die mit dem Aufschwung der 5-Sterne entstandene Konstellation mit drei Lagern hat endgültig zur Unregierbarkeit und nach dem Eingriff des Präsidenten zu einer neuen „technischen“ Regierung unter Draghi geführt. Die steht nun vor der Herkulesaufgabe, mit einer kaum reformierten Verwaltung bis Ende April ein vorzeigbares Konzept für die Verwendung der gigantischen EU-Mittel zu entwickeln – und dieses nachher auch noch umzusetzen. Wie es anders gehen könnte, zeigt der Wiederaufbau der Morandi-Brücke in Genua innerhalb von zwei Jahren – allerdings nur mit Hilfe von Ausnahmegesetzen, die die EU niemals akzeptieren würde und könnte, z.B. den Verzicht auf Ausschreibungen. Solche Ausnahmeregelungen für das gesamte Programm würden im Übrigen Geldverschwendung, Korruption und Fehlleitung der Mittel in großem Stil ermöglichen.
Giovannini hofft, dass es der neuen Regierung trotz aller Widrigkeiten gelingen könnte, die einmalige Chance zu nutzen, dass jetzt enorme Mittel des EU-Planes verfügbar sind, um einen sozialökonomischen Aufschwung Italiens zu ermöglichen – und dabei zugleich „unser ganzes absurdes System der öffentlichen Projekte auf die Höhe der anderen europäischen Länder zu bringen“ (das wäre immerhin ein erster Schritt auf dem Weg zur Reform der öffentlichen Verwaltung). Italien wird in absehbarer Zeit kaum noch einmal eine solche Chance haben, den sich seit Jahren abzeichnenden Niedergang abzuwenden.