Ein neuer Motor für Europa?
Die EU hat lange stagniert, und das Ergebnis war Zerfall: Während Gründungsländer (wie Deutschland) in den europäischen Dornröschenschlaf fielen und die wenigen Regierungschefs, die sie daraus aufzuwecken suchten, Rufer in der Wüste blieben (Macron), stiegen in fast allen Ländern populistische Bewegungen auf und übernahmen in Polen und Ungarn illiberale Regimes die Macht. Offenbar musste erst die Pandemie kommen, um daran zu erinnern, dass die EU es wert ist, gegen die „Souveränisten“ verteidigt zu werden, und dass dies nur möglich ist, wenn sie sich weiter entwickelt, d. h. integrierter und solidarischer wird.
Salvinis geplante Machtübernahme 2019
2019 schrammte Italien haarscharf an der populistischen Machtübernahme vorbei, als die Lega ihr Bündnis mit der 5SB aufkündigte, um Neuwahlen zu erzwingen: Die Umfragen versprachen der Rechtskoalition die absolute Mehrheit, und Salvini wagte sich schon vor, um für sich als ihrem unbestrittenen Führer „alle Vollmachten“ zu fordern. Als Abschluss seines Durchmarsches plante er für den damaligen Herbst einen Wahlkampf, in dessen Zentrum ein von ihm vorgelegter Haushaltsentwurf für das Jahr 2020 stehen sollte, der dem Land das Blaue vom Himmel in Gestalt eines Investitionsprogramms versprach, der alle Fesseln der Austerity sprengte. Um dem Wahlkampf eine zusätzliche Dimension zu geben, geschah dies mit Vorbedacht, denn das Brüsseler Veto war schon eingeplant: So konnte die Abstimmung nicht nur zum innenpolitischen Triumph der Rechten, sondern auch zu einem Plebiszit gegen jede Einschränkung nationaler Souveränität werden. Die Gelegenheit war günstig: Salvini, der sich bis dahin als der Retter vor der „afrikanischen Invasion“ inszeniert hatte und nun dem Volk auch noch Souveränität, Arbeit und Brot versprach, stand auf dem Höhepunkt seiner Popularität; auf der anderen Seite stand eine schwache Opposition, die sich an ein Europa klammerte, das wenig tat, um ihr den Rücken zu stärken, und bisher fast jeden Beweis schuldig geblieben war, eine Solidargemeinschaft zu sein.
Salvinis Plan war durchdacht, und es ist heute nur schwer auszudenken, was aus Europa geworden wäre, wenn er funktioniert hätte. Eigentlich ist es nur zwei Zufällen geschuldet, dass daraus nichts wurde: Salvini hatte nicht damit gerechnet, dass die 5SB im Frühherbst 2019 statt mit ihm auch eine Koalition mit Mittelinks eingehen könnte, was sofortige Neuwahlen erübrigte. Und er hatte noch weniger mit der Pandemie gerechnet, die ein halbes Jahr später zu einem radikalen Themenwechsel führte. Was Salvini dann endgültig in die Defensive zwang, war der Recovery-Plan, den die europäische Kommission zur Bewältigung der ökonomischen und sozialen Pandemiefolgen vorlegte und der ihm fast alle Trümpfe aus der Hand nahm: An die Stelle eines von Salvini gegen die EU durchgesetzten Programms trat die Apotheose der totgesagten EU. Dass es mit gemeinsamen Schuldverschreibungen finanziert werden soll, d. h. mit niedrigeren Zinsen als sie Italien allein je haben könnte, machte seinen Souveränismus zum kostspieligen Luxus. Die Eile, mit der sich Salvini im Januar in das Regierungsbündnis drängte, das den europäischen Recovery-Plan auch in Italien umsetzen soll, war ein taktischer Kurswechsel von 180 Grad.
Was allerdings nicht bedeutet, dass Draghi von nun an leichtes Spiel hat. Im Gegenteil: Die Schwierigkeiten beginnen erst. Denn nun muss er schaffen, was Salvini erspart wurde: der Beweis, dass Italien die Milliarden, die ihm durch den Recovery-Plan zur Verfügung gestellt werden, auch wirklich zu nutzen vermag. Er muss Italien erst einmal reformfähig machen, zum Beispiel durch eine Reform der Öffentlichen Verwaltung. Das sei in Italien schon selbst eine „Herkulesarbeit“, wird jetzt gesagt. Aber als Herkules den Stall des Augias säuberte, musste er nicht erst den Besen erfinden, mit denen er ihn auskehrte. Draghi jedoch muss es.
Draghis Offensive
Aber Draghi ist zu sehr „Europäist“, als dass er glaubt, dass sich die EU jetzt auf den Lorbeeren des Recovery-Funds ausruhen könne. Nicht nur Italien, sondern auch die EU muss reformiert werden. Die Gelegenheit zu einem ersten Vorstoß kam am 25. März, als sich die europäischen Regierungschefs zu einer Videokonferenz zusammensetzten, an der er als frischgebackener italienischer Ministerpräsident teilnahm (und zu der zeitweise auch Joe Biden zugeschaltet war). Draghi, der als ehemaliger EZB-Präsident und Euro-Retter auch auf dieser Bühne über ein Prestige verfügt wie kein italienischer Regierungschef vor ihm, trug hier seine Gedanken vor, wie es nach dem Recovery-Plan weitergehen soll: Einerseits habe die Pandemie die Begrenztheit der bisherigen politischen und ökonomischen Integration Europas ans Licht gebracht, die einen ökonomisch noch tiefer gespaltenen Kontinent zu hinterlassen drohe, andererseits biete sie aber auch Gelegenheit, den Integrationsprozess zu beschleunigen. Aber da dürften jetzt keine „Fehler“ gemacht werden.
Deshalb müsse in der zweiten Jahreshälfte, wenn nach aller Voraussicht der wirtschaftliche Wiederaufschwung beginnt, der richtige „finanzpolitische Rahmen dafür geschaffen werden, dass wir aus der Krise rauskommen“, und dies könne nicht die Rückkehr zu dem alten Stabilitäts- und Wachstumspakt sein, der ja bis 2022 nur temporär außer Kraft gesetzt wurde. Stattdessen müsse ein neuer Pakt geschlossen werden, für den Paolo Gentiloni, der Brüsseler Kommissar für Wirtschaft, zum Herbstanfang einen Vorschlag machen werde, damit die europäische Diskussion beginnen könne. Die Vorschriften für die jährliche Entschuldung sollten abgemildert werden, die den Ländern, die sich sowieso in Schwierigkeiten befinden, bisher eine lähmende „Austerität“ auferlegten. Für die Investitionen in die Digitalisierung und den ökologischen Wandel, die der Recovery-Plan vorsehe, müsse eine „goldene Regel“ geschaffen werden, dass sie aus den normalen Bilanzschulden (und damit auch aus den für sie geltenden Vorschriften) herausgerechnet werden können.
Der wichtigste, aber wohl auch kontroverseste Vorschlag, den Draghi am 25. März machte, ist die Einführung eines gemeinsam garantierten europäischen Wertpapiers, das nach der Pandemie an die Stelle des ja ebenfalls schon gemeinsam garantierten Recovery-Funds treten könne. Draghi vermied es, diese Wertpapiere „Eurobonds“ zu nennen, aber es läuft auf das Gleiche hinaus, wobei er zur Begründung vor allem auf das Beispiel der USA verwies, wo es eine Union der Kapitalmärkte, eine vollständige Banken-Union und ein sog. „safe asset“ gebe, der aus einem von allen Mitgliedsstaaten garantierten Wertpapier besteht, das sie vor eventuellen Finanzschocks schützt. „Diese (drei) Elemente sind der Schlüssel für die internationale Rolle des Dollars“. Der europäische Euro reiche dazu noch nicht aus, zumal ihn ja auch noch nicht alle europäischen Staaten übernommen hätten.
Die Achse Draghi – Macron
Der Streit mit den nordeuropäischen „Frugalen“ scheint damit vorprogrammiert, weshalb Draghi auch mit längeren Zeiträumen zur Diskussion seiner Vorschläge rechnet. Was er damit vorbereitet, ist nicht nur die Zeit nach der Pandemie, sondern auch nach Merkel, die sich bisher als wichtigste, wenn auch nicht immer mutigste Europäerin erwiesen hat (ihr sitzt unter anderem das deutsche Verfassungsgericht im Nacken). Seine Vorschläge scheint Draghi jetzt vorzugsweise mit Macron abzustimmen, mit dem zusammen er zum neuen Motor für die europäische Integration werden könnte.
Was Draghi dabei zugutekommt, ist sein ökonomischer Sachverstand, seine Seriosität und ein Prestige, das er sich erwarb, als die von ihm geleitete EZB ab 2012 begann, auch gegen viele Zweifler (z. B. aus Deutschland) die Staatsanleihen europäischer Krisenländer aufzukaufen, um den Euro zu retten. Wenn er jetzt vorschlägt, die Ausgabe gemeinsamer europäischer Wertpapiere auch nach der Pandemie fortzusetzen, greift er auf, was auch schon andere vor ihm vorschlugen. Aber der Verdacht, dass hier südeuropäische Schlitzohrigkeit wieder einmal das Ergebnis eigenen Leichtsinns auf andere Länder abwälzen möchte, könnte an seiner Person abprallen.