Gegenwind für Draghi – diesmal von links
Öffentliche Aufträge sind in Italien der Bereich, der am meisten von Korruption betroffen ist, in die oft auch die organisierte Kriminalität involviert ist. Auf der europäischen Ebene nimmt hier Italien – mit Rumänien, Bulgarien und Tschechien – eine Spitzenposition ein: Nach dem Bericht der Nationalen Antikorruptionsbehörde ANAC beziehen sich im Zeitraum 2016-2019 74% der Korruptionsfälle auf die Vergabe öffentlicher Aufträge, mit einer Dunkelziffer in unbekannter Höhe. Am stärksten betroffen sind die öffentlichen Arbeiten (40%), die Müllentsorgung (22%) und das Gesundheitswesen (13%). Laut Bericht wurde in dem genannten Zeitraum in diesem Bereich 117mal Untersuchungshaft wegen Korruption angeordnet („etwa eine Verhaftung alle 10 Tage“).
Ein weiteres Problem neben der Korruption sind die überbürokratisierten und extrem langsamen Verwaltungsabläufe und Bearbeitungsvorgänge. Kein Wunder also, dass die Regierung Draghi, im Zusammenhang mit dem vor kurzem vorgelegten Nationalen Recovery Plan (PNRR), hier eingreifen will: Das ist für die fristgerechte Realisierung der Projekte unerlässlich, und damit auch die Voraussetzung für die Inanspruchnahme der europäischen Mittel.
Draghis „unanständige Absicht“
Dieses Ziel verfolgt das geplante „Gesetzesdekret zur Vereinfachung“ (decreto semplificazioni), das nur für die Projekte aus dem PNNR gelten soll. Allerdings sah der erste Regierungsentwurf zum Teil problematische Regelungen vor, die unerwünschte „Nebenwirkungen“ haben könnten, was zu heftiger Kritik nicht nur der Gewerkschaften, sondern auch von den zur Regierungsmehrheit gehörenden Parteien PD und LEU führte.
Es ging dabei vor allem um zwei Punkte: 1) die Auftragsvergabe nach dem Prinzip des niedrigsten Angebots („massimo ribasso“), und 2) die „Liberalisierung“ der Unterauftragsvergabe an Subunternehmen durch den Wegfall der noch geltenden Höchstgrenze von 40% der Projektmittel.
Der Chef des größten Gewerkschaftsverbandes CGIL, Maurizio Landini, nannte die geplanten Regelungen „eine unanständige Absicht“ und drohte gar mit Generalstreik, sollte die Regierung daran festgehalten. Mit ihnen werde man „um zwanzig Jahre zurückfallen, in die Zeit der Regierung Berlusconi“, erklärte Landini. Das „Verramschen“ von Aufträgen an die Billigstanbieter führe zu Dumpinglöhnen, unsicheren Arbeitsbedingungen, niedriger Projektqualität – und nicht zuletzt zu mehr Korruption und Kriminalität. Wenn man die Realisierung beschleunigen wolle, müsse man gerade auf innovative Projekte setzen, die Qualität und Transparenz garantieren. Ähnliche Argumente kamen von PD und LEU (Salvini hingegen begrüßte die Maßnahmen und setzt noch einen drauf, indem er die völlige Deregulierung forderte).
Am Ende steht ein Kompromiss
Der Ministerpräsident scheint von der Heftigkeit der Ablehnungsfront, zumal seitens der Parteien seiner Regierungskoalition, ein wenig überrascht worden zu sein. Er reagierte schnell und versicherte, der Entwurf sei „noch nicht spruchreif“ und offen für Veränderungen. Gleichzeitig machte er aber klar, dass die Zeit drängt: Nach den EU-Vorgaben sei die erste Tranche der Mittel aus dem Recovery Fund im Juli (25 Milliarden) davon abhängig, dass konkrete Maßnahmen zur Entbürokratisierung ergriffen sind.
Nach einer kurzfristig einberufenen Verhandlung mit den Gewerkschaften verständigte man sich auf folgenden vom Regierungschef präsentierten Kompromiss: 1) Das Kriterium des „niedrigsten Angebots“ wird gestrichen, 2) die Grenze für die Unterauftragsvergabe wird von 40% auf 50% erhöht, allerdings nur bis zum 31. Oktober, danach entfällt sie ganz (hier beruft sich Draghi wieder auf bestehende EU-Regelungen, die keine Begrenzung vorsehen). Der neue Entwurf sieht gleichzeitig aber auch Kontrollmechanismen vor, um für die Beschäftigten Arbeitssicherheit und Vertragsschutz zu garantieren. Außerdem sollen mindestens 30% der Einstellungen – wie vor allem von der PD gefordert – Frauen und Jugendliche berücksichtigen.
Letta will das sozialpolitische Profil der PD stärken
Doch die Auftragsvergabe an Subunternehmen ist nicht die einzige Front, an der PD und LEU und gelegentlich auch die 5SB versuchen, den Kurs des Ministerpräsidenten in ihrem Sinne zu „justieren“. Besonders aktiv ist hier PD-Generalsekretär Letta. Vorbei die Zeit, in der er – wie sein Vorgänger Zingaretti – die Hauptrolle der PD darin sah, als Stabilitätsanker für die Regierung zu wirken, vor allem angesichts der ständigen Querschüsse von Salvini, u. a. in der Frage der Lockerung von Corona-Restriktionen (bei denen der Lega-Chef, unabhängig vom Verlauf des Infektionsgeschehens, stur die Parole „Alles öffnen!“ propagiert).
Inzwischen setzt Letta darauf, die PD aus dieser Rolle des „Musterpartners“ zu lösen und eigene politische Akzente zu setzen, vor allem beim Thema soziale Gerechtigkeit. So lancierte er vor einigen Wochen den Vorschlag, den 18-Jährigen mit niedrigem Einkommen eine Zuwendung von 10.000 Euro zu zahlen, finanziert durch eine höhere Erbschaftssteuer für Einkommen, die über einer Million Euro liegen.
Die Abfuhr Draghis kam umgehend: „Davon war nie die Rede. Es ist nicht die richtige Zeit, um den Bürgern Geld wegzunehmen, im Gegenteil“ lautete seine kurze Antwort. Dass es dabei nicht um größere Schichten der Bevölkerung geht, sondern nur um jenes eine Prozent, das Erbschaften in Millionenhöhe erhält, lässt Draghi genauso wenig gelten wie die Tatsache, dass in Italien die Erbschaftssteuer weit niedriger als in anderen europäischen Ländern ist: In Italien beträgt sie zwischen 4 und 8%, in Deutschland zwischen 7 und 50%, in Frankreich bis zu 45 und in Spanien bis zu 34%.
Draghi argumentiert, dass Änderungen der Besteuerung nicht mit einzelnen Maßnahmen, sondern im Rahmen einer strukturellen und stärker als bisher am Progressionsprinzip orientierten Gesamtreform stattfinden müssten. Das ist grundsätzlich richtig, schließt aber nicht aus, dass noch vor der „großen“ Reform einige Interventionen vorweggenommen werden können, wenn sie – wie im Fall der Erbschaftssteuer – unabhängig von dem sonstigen Rahmen Bevölkerungsgruppen unterstützen, die von der Pandemie besonders getroffen wurden.
Weiterer Konfliktfall: Entlassungsstopp
Eine weitere Front, die sowohl in der Regierung als auch mit den Gewerkschaften zu Spannungen führt, ist die Frage, ob bzw. wann der Entlassungsstopp, der im Februar 2020 wegen der Pandemie eingeführt wurde, aufgehoben wird. Dazu sollte es eigentlich automatisch im Juli kommen, wenn die staatlichen Corona-Hilfen für die Unternehmen auslaufen. Der frühere Vizesekretär der PD und jetzige Arbeitsminister Andrea Orlando forderte jedoch für Großunternehmen, die bis Juni vom der staatlich vollfinanzierten Kurzarbeit profitiert hatten, eine Verlängerung des Entlassungsverbots bis Ende August. Eine Forderung, die von den Gewerkschaften sofort aufgegriffen, vom Unternehmerverband Confindustria aber vehement kritisierte wurde.
Auch in diesem Fall beendete Draghi den Konflikt mit einem Kompromiss : Das generelle Entlassungsverbot fällt ab Juli weg, aber Unternehmen, die auf Entlassungen verzichten, dürfen als Anreiz weiter (bis Jahresende) die vom Staat finanzierte Kurzarbeit in Anspruch nehmen. Orlando und die PD haben Draghis Entscheidung akzeptiert, das Gesetzesdekret wurde vorige Woche im Kabinett verabschiedet. Während die Gewerkschaften noch Widerstand ankündigten.
Tatsächlich war Orlandos Vorschlag – wenn auch auf den ersten Blick sozialpolitisch gerechtfertigt – in der Wirkung problematisch. Wirtschaftsexperten warnen, das ein Verbot von Entlassungen, das immer wieder verlängert wird, Veränderungen und Erneuerungen in Unternehmen blockieren könne, die auf längere Sicht notwendig sind, um die Schaffung neuer, zukunftsfähiger Arbeitsplätze und eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung zu ermöglichen. Ein solches Verbot schützt zwar zunächst diejenigen, die bereits beschäftigt sind, kann aber Neueinstellungen (zum Beispiel von Jungen und Frauen) verhindern. Was zur Eindämmung der sozialen Folgen der Pandemie unerlässlich war, ist nicht automatisch richtig für den längerfristigen Wiederaufbau.
In diesem Fall sollte also Draghis Kompromissentscheidung, die eine Kombination von Flexibilität und Schutzmechanismen vorsieht, nicht einfach als Ausgeburt neoliberaler Logik abgetan werden. Sie kann wirtschaftlich und sozialpolitisch stärker wirken als die Verteidigung des Status quo.
Fazit: Mit seinen Initiativen möchte Letta zu Recht erreichen, dass die PD nicht auf die Rolle des Vollstreckers von Draghis Linie reduziert wird. Und manchmal sind die von ihm geforderten Kurskorrekturen nicht nur gerechtfertigt, sondern – wie im Fall der Auftragsvergabe an Subunternehmen – dringend notwendig. Sie müssen allerdings sachlich und politisch fundiert sein, und dürfen nicht allein der parteipolitischen Profilschärfung dienen (wie es Salvini schon zur Genüge tut).