Post für Brüssel aus Rom

Er war der Grund, den Renzi vorschob, um die Regierungskrise in Gang zu setzen, die zum Sturz Contes und zur Bildung von Draghis „Regierung der nationalen Rettung“ führte: der gigantische „Piano Nazionale di Ripresa e Resilienza/PNRR“ (Nationaler Plan für Wiederaufbau und Resilienz). Er hat ein Finanzierungsvolumen von 221,5 Milliarden, davon 191,5 aus dem EU-Recovery Fund und 30 als Komplementärmittel, die Italien bereitstellt.

Conte habe den Entwurf dem Kabinett erst in letzter Sekunde vorgelegt, lautete Renzis Kritik, und seine „Governance“ nur sich selbst und einigen Experten seiner Wahl vorbehalten. Grund genug für Renzi, seine Ministerinnen zurückzuziehen und die Koalition platzen zu lassen.

Nun hat der neue Ministerpräsident eine Neuauflage des Plans vorgelegt und man stellt fest, dass er sich sowohl inhaltlich als auch in Sachen „Governance“ stark an seinem Vorgänger orientiert: Auch Draghi hat den Plan zur Chefsache erklärt (was denn sonst) und mit dessen Abfassung die vier „technischen“ Minister seines Vertrauens beauftragt, allen voran, federführend, Finanzminister Daniele Franco, den ehemaligen Generaldirektor der italienischen Nationalbank. Sekundiert wird er von Roberto Cingolani, („green revolution“ und ökologischer Umbau), Enrico Giovannini (Infrastrukturen und nachhaltige Mobilität) und Vittorio Colao (technologische Innovation und Digitalisierung). Nicht anders als Conte hat der Regierungschef bis kurz vor der Beschlussfassung die Parteien im Kabinett und Parlament außen vor gelassen.

Renzi, der wegen Contes Umgang mit dem Plan so demonstrativ in Rage geriet, findet Draghis analoges Vorgehen völlig in Ordnung. Was bestätigt, dass es ihm nicht um die Sache ging, sondern darum, die Conte2-Regierung aus dem Weg zu räumen.

Parlament verabschiedet Nationalen Recovery Plan

Der über 300 Seiten umfassende Entwurf kam auch jetzt wieder „auf den letzten Drücker“ in Kabinett und Parlament, um gerade noch fristgerecht am 30. April der EU-Kommission vorgelegt zu werden. In einem Telefonat mit Präsidentin Von der Leyen verbürgte sich Draghi persönlich für die Realisierung der ehrgeizigen Projekte und Reformen, die der Plan vorsieht.

Die Post für Brüssel

In seiner Rede im Parlament hatte Draghi, der bekannt für seinen nüchternen Redestil ist, ungewöhnlich pathetisch den Plan als „Schlüssel zum Schicksal unseres Landes“ bezeichnet, von dem „seine Glaubwürdigkeit und sein Ruf als Mitgründer der EU und führender Akteur der westlichen Welt“ abhänge.

Der Ministerpräsident nannte dabei drei Hauptziele: Zuallererst die Bekämpfung der Pandemie und ihrer sozialen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen, von denen am stärksten die Frauen, die Jugend und der Süden des Landes betroffen seien. Das zweite Hauptziel sei auf mittel- und langfristige Sicht die Überwindung struktureller Schwächen, die Italien seit Jahrzehnten belasten: regionale Disparitäten, fehlende Gleichstellung der Geschlechter, unzureichende Produktivität und Infrastrukturen sowie zu niedrige Investitionen ins Humankapital. Das dritte Ziel: der ökologische Umbau.

Trotz Kritik an einzelnen Punkten, auch seitens der Regierungsmehrheit, verabschiedeten beide Parlamentskammern den Plan, wie erwartet, mit großer Mehrheit. Nur die postfaschistische Fratelli d‘ Italia von Meloni, die kleine linke „Sinistra Italiana“ und eine Gruppe ehemaliger Grillini votierten dagegen oder enthielten sich.

Strategische Maßnahmen, Ressourcen, Projekte

Als besonders von der Pandemie betroffenes Land erhält Italien für seinen Wiederaufbau mit 191,5 Milliarden den höchsten Anteil an Ressourcen innerhalb der EU. 40% davon sind Maßnahmen und Projekte im Süden vorbehalten.

Der Nationale Recoveryplan gliedert sich – dem Entwurf der Vorgängerregierung folgend – in sechs sogenannte „Missionen“ (strategische Vorhaben, die jeweils in 16 „Komponenten“ unterteilt sind): 1) Technologische Erneuerung und Digitalisierung; 2) „Green revolution“ und ökologischer Umbau; 3) Infrastrukturen und nachhaltige Mobilität; 4) Inklusion und gesellschaftlicher Zusammenhalt; 5) Bildung und Forschung; 6) Gesundheit.

Begleitend zu den Missionen sind fünf große Reformen vorgesehen: Öffentliche Verwaltung, Justiz, Fiskus, Entbürokratisierung, Konkurrenz. Als übergeordnetes Kriterium gilt für alle Missionen, dass prioritär Frauen, die Jugend und der Süden zu fördern sind.

Der Löwenanteil (68,85 Milliarden) geht entsprechend den EU-Vorgaben in Projekte für den ökologischen Umbau. Auf der Agenda stehen u.a. die Erforschung und Produktion von Wasserstoff, der Ausbau von Elektrofahrzeugen und erneuerbarer Energien und die Sanierung von Störungen des hydrogeologischen Gleichgewichts (in Italien ein besonders dramatisches Problem). Vorgesehen sind auch neue Investitionen und Projekte im Bereich der Abfall- und Kreislaufwirtschaft.

Für die Mission „Digitaliserung und technologische Erneuerung“ werden 48,63 Milliarden des Budgets) veranschlagt. Sie sollen in erster Linie die Einführung von Innovationen innerhalb der Unternehmen ankurbeln und den Ausbau von Breitbandnetz und 5G-Technologie vorantreiben. Auch Schulen und Universitäten sollen verstärkt von den Ressourcen profitieren, um ihre digitale Ausstattung zu verbessern.

Bei den 31,43 Milliarden, die in Infrastrukturen und nachhaltige Mobilität fließen, liegt der Schwerpunkt auf Erweiterung des Bahnnetzes, Einführung neuer Hochgeschwindigkeitszüge und Sanierung maroder Gleise und Bahnhöfe, vor allem im Süden.

Die Vorhaben im Bereich Bildung und Forschung (31,9 Milliarden) betreffen in erster Linie die Erweiterung der Ganztagsangebote, den Ausbau der beruflichen Bildung (angelehnt an das duale deutsche Modell) und Kindertagesstätten, die Fortbildungspflicht für Lehrkräfte und eine Erweiterung von Forschungsstipendien.

22,4 Milliarden sind der Mission „Inklusion und sozialer Zusammenhalt“ vorbehalten. Hier steht im Mittelpunkt die aktive Beschäftigungsförderung, u.a. durch Erweiterung und qualitative Verbesserung der – bisher glücklosen – örtlichen Arbeitsagenturen, die Weiterqualifizierung der Beschäftigten mit Fokussierung auf neue Berufsprofile und Anreize für Firmengründungen, insbesondere von Frauen („Fondo Impresa Donna“). Insgesamt sollen innerhalb von vier Jahren 750.000 neue Arbeitsplätze entstehen, was allerdings lediglich eine Rückkehr zum Stand vor der Pandemie bedeuten würde. Um insbesondere die Beschäftigung von Frauen und Jugendlichen voranzutreiben, wurde eine Klausel eingeführt, wonach Unternehmen nur dann PNRR-Mittel in Anspruch nehmen dürfen, wenn sie konkrete Zielvorgaben für die Einstellung von Frauen und Jugendlichen festlegen. Projekte sind auch für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und infrastrukturelle Verbesserungen in großstädtischen Randbezirken geplant.

Von besonderer Bedeutung sind die Maßnahmen zum Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens (19,7 Milliarden). Sie sollen in erster Linie die dezentrale Versorgung verbessern, die sich während der Pandemie in vielen Regionen als völlig unzureichend erwiesen hat. Weitere Ressourcen dienen technologischen Innovationen (Telemedizin), der Forschungsförderung und der Modernisierung der Krankenhäuser.

Strukturreformen entscheidend für die Umsetzung

Der Plan ist ehrgeizig und formuliert in weiten Teilen Antworten auf alte und neue Probleme, um diese, wenn nicht zu beseitigen, zumindest signifikant zu reduzieren. Einige Politiker und Kommentatoren des linken Spektrums kritisieren, das Ganze sei zu wachstumsorientiert und marktwirtschaftlich geprägt – zu Lasten strategischer Interventionen, die auf systemische Veränderungen und alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle zielen.

Wichtiger aber als eine Radikalkritik, die nicht erfüllbare Erwartungen formuliert, erscheint mir die Frage der Umsetzung. Mit ihr steht oder fällt Italiens Recovery Plan. Sie ist der neuralgische Punkt und die größte Herausforderung. Dafür ist entscheidend, dass die fünf begleitenden Reformen (öffentliche Verwaltung, Justiz, Fiskus, Entbürokratisierung, Konkurrenz) greifen. Der größte Brocken ist die Verwaltungsreform. Draghi, der deren trägen und reformresistenten Apparat genau kennt, hat mit dieser „Mutter aller Reformen“ nicht allein den zuständigen Minister (Renato Brunetta von Forza Italia) beauftragt, sondern ihm auch Experten seines Vertrauens zur Seite gestellt.

Eine weitere Schlüsselfunktion für die Umsetzung der Planziele haben auch die Reformen von Justiz (Beschleunigung der Prozesse) und Fiskus (Einführung eines sozial gerechteren und – zum Leidwesen Salvinis – progressiven Steuersystems).

Dafür, dass der Nationale Wiederaufbauplan zeitgerecht (bis 2026 ) und erfolgreich realisiert wird, hat sich der Ministerpräsident mit seiner ganzen persönlichen Autorität gegenüber der EU verbürgt. Doch seine Wirkungsmöglichkeiten sind zeitlich begrenzt: 2023 stehen Neuwahlen an, spätestens dann endet sein Regierungsauftrag. Die aktuellen Umfragen sprechen immer noch dafür, dass danach die Rechte ans Ruder kommt, was wenig Raum für Optimismus lässt.

Ein Kommentar

  • Johannes von Dohnanyi

    Über wie viele Divisionen der Papst wohl gebiete, fragte Stalin während der Jalta-Konferenz spöttisch in die Runde. Die Antwort erlebte der Kremlchef zwar nicht mehr. Sie kam erst 44 Jahre später. Dafür aber unmissverständlich: Die katholische Kirche mit Johannes Paul II im Vatikan war entscheidend für den Machtwechsel in Polen. Der Kollaps der Sowjetunion war nicht mehr aufzuhalten.
    Doch politische Wunder wiederholen sich nicht so einfach. Die „Divisionen“ des Mario Draghi sind überschaubar und kaum ausreichend, die geplante Runderneuerung des Bel Paese in die Praxis umzusetzen.
    Es ist zum Weinen! Wie viele solcher Versprechungen habe ich schon miterlebt und mit-erlitten, seit ich im Frühsommer 1978 als blutjunger Korrespondent in Rom eintraf. Wie viele beschönigende Diagnosen und volkswirtschaftliches und politisches Snake Oil wurden den Italienern in den Folgejahren angetragen, wie viele heiligenGelübde der Besserung wurden gebrochen – bis das von Bettino Craxi und Giulio Andreotti zu einem gigantischen Supermarkt der Selbstbedienung pervertierte System dann mit den Ermittlungen von Mani Pulite dastand wie der Kaiser ohne Kleider – splitterfasernackt in seiner ganzen korrupten, machtgeilen und eitlen Pracht.
    Die Empörung der Italiener dauerte nicht allzu lange, dann hatten sie sich mit Silvio Berlusconi und seinem Hofstaat von Tricksern und Betrügern abgefunden. Eines war allerdings neu. Von nun an wurde die Schuld für alle Probleme an Europa, Brüssel und immer wieder auch Berlin weitergereicht. Das proletenhafte Gebaren des italienischen Regierungschefs, der in seinem unzügelbaren Sexismus nicht davor zurückschreckte, die deutsche Kanzlern als „la culona“ zu verunglimpfen, fand nach und nach Einzug bis in die Mitte der Gesellschaft.
    Die brutale Wahrheit ist: Die heutige verzweifelte Lage Italiens ist nicht allein die Folge von Covid-19. Sie ist vor allem das bittere Erbe der Berlusconijahre und seiner rechtspopulistischen Spiessgesellen der Lega, von denen Salvini nur der skrupelloseste Vertreter ist.
    Mit welchen „Divisionen“ also soll Mario Draghi das Land auf neuen Kurs bringen? Mit reform-unwilligen Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes? Mit einer Justiz, die vor allem für den Erhalt der eigenen Privilegien kämpft? Mit staatlich finanzierten Bürokraten und Verwaltern eines Gesundheitssystems, die immer wieder und allzu oft in unappetitlicher Nähe der Organisierten Kriminalität ertappt werden? Wird der primo ministro genügend cittadini, cittoyens, Bürger im besten Sinn des Wortes finden, denen die res pubblica mehr ist als die Suche nach Schlupflöchern im Gesetz zum eigenen Vorteil?
    Und das alles auch noch bis 2023, wenn in Italien wieder gewählt wird.
    Gibt es auch nur einen Funken Hoffnung, dass der „Heilige Reform-Geist“ sich bis dahin in den Köpfen der Menschen festgesetzt hat?
    Ich bin gespannt auf die Erklärungen, warum alle guten Vorsätze auch diesmal nicht funktionieren konnten. Der Verweis auf die bösen anderen Europäer und die EU ist mit der Bereitstellung von fast 250 Milliarden Euro aus Brüssel zwar hinfällig geworden. Aber Salvini, der sich gute Chancen auf den Einzug in den Palazzo Chigi ausrechnet, dürfte dennoch keine moralischen Probleme haben, die Tatsachen in seinem Sinn zu verdrehen.
    Das Traurigste aber ist die – unberechtigte? – Angst, dass sich diese so liebenswerten Bewohner des Stiefels dazu hinreissen lassen, einmal mehr einem populistisch-vulgären Rattenfänger zu folgen, anstatt sich der eigenen Verantwortung für den Zustand ihres Bel Paese zu stellen.
    Das Zeitalter der „alternative facts“ ist mit dem Rauswurf von Donald Trump aus dem Weissen Haus nicht zu Ende gegangen.

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