Salvini läuft die Zeit davon
Am Freitag, dem 14. Mai, konnte Salvini endlich wieder einen Triumph genießen. Im ersten Prozess, den ihm die Schließung der Häfen in seiner Zeit als italienischer Innenminister gegen die Flüchtlinge auf den NGO-Schiffen eingebracht hat, hatte ihn soeben ein Richter in Catania von der Anklage der Freiheitsberaubung freigesprochen: Erstens hätten sich die Flüchtlinge auch an Bord eines NGO-Schiffs in Sicherheit befunden, zweitens habe Salvini verbindliche Zusagen für ihre Verteilung in Europa abwarten wollen, und drittens habe die gesamte Regierung hinter seinem Vorgehen gestanden. Vor allem mit dem letzten Punkt hatte der Richter Recht, was aber bedeutete, dass hier eigentlich die gesamte Regierung „Conte1“ auf die Anklagebank gehörte. Salvini sah in diesem Freispruch ein gutes Vorzeichen für seinen zweiten Prozess, der ihn ebenfalls wegen Freiheitsberaubung erwartet, dessen Ausgang aber weniger sicher ist.
Als er sich am Abend des Freispruchs mit einem Journalisten der „Repubblica“ in einem katanesischem Hotel zum Hintergrundgespräch traf, war er jedenfalls in einer Stimmung, in der sich Erleichterung und neues Selbstbewusstsein mischten. In einer ähnlichen Stimmung hatte er im August 2019, also knapp zwei Jahre zuvor, mit den Ergebnissen der Europawahlen im Rücken am Adria-Strand das Bündnis mit der 5SB beendet und für sich „alle Vollmachten“ gefordert, ohne Rücksicht auf die Assoziationen, die er damit auslöste.
Das Hintergrundgespräch
Diesmal begann er damit, dass er seine Treue zu dem bestehenden Bündnis unter Draghi beteuerte, „aus Liebe zu diesem Land“. Um dann für einen kurzen Moment den Vorhang von den Erwartungen wegzuziehen, die er damit verknüpft:
- Das Bündnis solle sich darauf beschränken, die Pandemie und die„Krise der Arbeit“ zu bewältigen, d. h. einen italienischen Recovery-Plan zu erstellen, der die Brüsseler Zustimmung findet, und alle sonstigen Reformen (wie die Justiz- und Steuerreform) späteren Regierungen überlassen;
- Draghi soll sich nächstes Jahr zum Staatspräsidenten wählen lassen.
Im ersten Punkt gab sich Salvini als Realist, der nur registriert, was auch ohne sein eigenes Zutun geschieht: Die von der PD angestrebte Allianz mit der 5SB bröckelt, was schon jetzt die geplante Justizreform zum Problem macht, da die 5Sterne das aus der Conte1-Zeit stammende Bonafede-Gesetz mit Klauen und Zähnen zu verteidigen suchen. Ein Gesetz, welches das Recht auf Verjährung übermäßig einschränkt, das in einem Rechtsstaat auch Angeklagten zustehen muss. Woran aber die 5SB auch gegen Draghis Justizministerin Cartabia festhalten will, die früher Vorsitzende des obersten italienischen Verfassungsgerichts war und jetzt das Gesetz für die Justizreform in Arbeit hat.
Als Beleg für die Reformunfähigkeit des gegenwärtigen Regierungsbündnisses verwies er auch auf die geplante Steuerreform. Wobei es hier allerdings die Lega selbst ist, die mit der von ihr versprochenen flat tax eine sozial gerechte Reform zu verhindern sucht.
Recovery-Plan ohne Strukturreformen?
Der eigentliche Pferdefuß steckt in der Folgerung, die Salvini aus all diesen Problemen zieht: dass Draghi strukturelle Reformen späteren Regierungen überlassen solle. Wofür es auch eine demokratietheoretische Begründung gibt, die jetzt in Italien die Runde macht: Strukturelle Reformen auf den Weg zu bringen sei Aufgabe „der Politik“, wohingegen die Regierung Draghi „nicht gewählt“ sei (Mattarella berief Draghi als „Notstandsmaßnahme“, ohne vorher formal die Parteien zu fragen). Ein mehr als fragwürdiges Argument, da die demokratische Legitimität von Draghis Regierung die parlamentarische Vertrauensabstimmung sicherte, der er sich bei seinem Amtsantritt stellen musste, und da jede von ihm vorgeschlagene Reform erst dann Gesetzeskraft erhält, wenn sie auch vom Parlament beschlossen wird.
Vor allem lässt dieser Einwand aber eine politische Tatsache außer Acht: Diese Reformen – zu denen auch die der staatlichen Verwaltung zählt – sind die Voraussetzung dafür, dass Italien überhaupt Zugang zu den europäischen Recovery-Mitteln erhält. Die ja dem Land nicht wie ein unverhoffter Lotto-Gewinn zufallen, sondern dem Zweck dienen, dass es wieder auf den Wachstumspfad kommt. Damit zum Beispiel die Projekte zur Digitalisierung und zum ökologischen Übergang eine Chance haben, von öffentlichen und privaten Akteuren in einer überschaubaren Zeit realisiert zu werden, müssen zuvor die Justiz und die staatliche Verwaltung reformiert werden – es klingt paradox, aber erst ihre Reform macht das Land reformfähig. Sie auf später zu verschieben, wie es Salvini im Kopf hat, stellt in Wahrheit den gesamten Recovery-Plan in Frage. Es ist wohl kein an den Haaren herbeigezogener Verdacht, dass der Souveränist Salvini genau dies billigend in Kauf nimmt. Ein Erfolg des Recovery-Plans wäre nicht nur gut für jedes einzelne europäische Land, sondern auch für die EU als Gemeinschaft. Und damit schlecht für die Souveränisten.
Draghi hatte gleich zu Beginn seiner Amtsübernahme fast provokativ betont, dass er sich zwar alle von den Parteien kommenden Stellungnahmen und Vorschläge zu den anstehenden Fragen „anhören“ werde, sich dann aber die „Entscheidung“ selbst vorbehalte. Sehr demokratisch klingt das nicht, denn er fordert damit für sich die Freiheit, bei der Vorbereitung seiner Gesetze nicht immer nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner des ihn tragenden politischen Bündnisses suchen zu müssen (was das Problem Contes war). Womit er das Pfund des vom Staatspräsidenten bestellten Nothelfers in die Waagschale warf. Da sein Ansehen in der Bevölkerung seit seinem Amtsantritt nur noch weiter gewachsen ist, wird es sich jede Fraktion dreimal überlegen, ob sie ihn zu Fall bringt, wenn er einen Gesetzesvorschlag ins Parlament einbringt, der ihr nicht gefällt (und dies mit der Vertrauensfrage verbindet).
Das angebotene Amt des Staatspräsidenten
Damit sind wir beim zweiten Punkt, den Salvini nach seinem Freispruch ausplauderte: Als Trostpflaster dafür, dass er der Regierung die geplanten Strukturreformen ausreden will, macht er Draghi ein Angebot, von dem er offenbar hofft, dass er es nicht ablehnen könne: Wenn er für die Nachfolge Mattarellas kandidiere (dessen Amt im Februar 2022 vakant wird, HH), werde „seine Unterstützung durch die Lega total sein“.
Das scheinbar großzügige Angebot hat einen doppelten Hintersinn:
Erstens wäre er damit Draghi los, dessen Zustimmungswerte jetzt bei 75 % liegen und der inzwischen zum größten Hindernis für eine rechte Machtübernahme geworden ist. Was macht man mit dem lästigen Rivalen, den man nicht einfach verjagen kann? Man lobt ihn „nach oben“. Zwar wäre auch Draghi kein Staatspräsident, der Salvini aus der Hand frisst, wie er es sich vor zwei Jahren vielleicht noch erträumte, als er für sich „alle Vollmachten“ einforderte. Aber nichts auf der Welt ist perfect, auch für einen Rechtspopulisten, und Salvini ist flexibel. Zumal er ja schon als Innenminister unter Conte1 die Erfahrung machte, dass ihn ein verfassungstreuer Staatspräsident nur begrenzt an der Entfaltung hindern kann.
Letzter Versuch zu vorzeitigen Neuwahlen
Zweitens würde die „Beförderung“ Draghis zum Staatspräsidenten seinen Rücktritt als Ministerpräsidenten bedeuten, mit einer erfreulichen Konsequenz: Neuwahlen im Frühjahr 2022, also ein Jahr früher als das formale Ende der Legislaturperiode. An vorgezogenen Neuwahlen ist Salvini höchst interessiert, denn noch geben die Umfragen der Rechten nicht nur eine reale Siegeschance, sondern auch seiner Lega einen Vorsprung vor allen anderen Parteien, was bedeuten würde, dass er immer noch der gemeinsame Kandidat der vereinigten Rechten für den Ministerpräsidenten wäre. Dieser Vorsprung wird allerdings knapper: Nach der letzten Umfrage wollen jetzt nur noch 21,3 % die Lega wählen, während die PD bei 20,1 % liegt. Noch beängstigender ist für Salvini eine andere Verfolgerin, deren Atem er schon im Nacken spürt: Es sind Giorgia Melonis Fratelli d’Italia, deren Zustimmungswerte sich seit 2019 verdreifacht haben (sie liegen heute bei 18,2 %). Für sie zahlt sich aus, und zwar jährlich mit ein paar Prozentpunkten mehr, dass sie als einzige rechte Partei in der Opposition ging, während Salvinis Supertaktik, Regierung und Opposition zugleich zu sein zu wollen, bei seiner Wählerschaft immer weniger auf Verständnis stößt. Die Wahlforscher prophezeien, dass sich die Kurven nächstes Jahr schneiden werden – 2023 könnte Salvini die Führung des rechten Lagers endgültig verloren haben.
Hinter dem Vorschlag Draghi for President steckt also das massive Eigeninteresse dessen, der langsam seine Felle davonschwimmen sieht. Draghis Antwort besteht darin, dass er weiter an den Reformen arbeitet, die ihm Salvini gerade ausreden will. Als er den Plan für die italienische Umsetzung des Recovery-Plans nach Brüssel schickte, soll man ihn dort gefragt haben, welche Garantien er denn für dessen Umsetzung geben könne. Draghi soll geantwortet haben: „Die Garantie bin ich“. Was nicht nur ein intaktes Selbstbewusstsein zeigt, sondern auch bedeutet, dass er sich nicht schon Anfang des nächsten Jahres wieder aus dem Amt loben lassen kann. Die Aufgabe, die er übernommen hat, ist zu groß, als dass er sie bis dahin bewältigt haben könnte. Die „Garantie“, die Draghi bietet, ist individuelles Pflichtbewusstsein. So etwas gibt es noch im politischen Geschehen. Auch in Italien.