Die „öffentliche Ordnung“ der Bosse
Die Cosa Nostra steht für finstere Drogengeschäfte, Korruption, erpresste „Schutzgelder“. Und für Tod: Der sogenannte „Zweite große Mafiakrieg“, der Anfang der 80er Jahre Sizilien heimsuchte, war laut „Wikipedia“ ein blutiger Machtkampf innerhalb der Cosa Nostra, in dem sich das Bündnis der „Corleonesi“ unter Riina gegen die traditionellen Palermitaner Familien (die Achse Bontade-Inzerillo-Badalamenti) durchsetzte. Der Untersuchungsrichter Giovanni Falcone schätzte, dass in diesem Krieg über 1000 Menschen ihr Leben verloren: Teils verschwanden die Leichen spurlos, weil sie versteckt, in Säure aufgelöst oder sonst wo zum Verschwinden gebracht wurden, teils wurden sie demonstrativ vor Polizeistationen und Kasernen abgelegt, um die Hilflosigkeit des Staates zu zeigen. Dabei brachten sich die Clans nicht nur untereinander um, sondern führten auch Krieg gegen die Carabinieri, Beamten und Politiker, die sich der Cosa Nostra in den Weg stellten. Giovanni Falcone selbst wurde 1992 auf dem Weg in sein Landhaus samt Ehefrau und drei Leibwächtern mit 500 Kilo TNT in die Luft gesprengt.
Das andere Gesicht
Dieses Bild der Mafia ist nicht falsch, aber unvollständig. Sonst wäre auch nicht zu erklären, warum sie der Staat nicht längst ausmerzen konnte. Kann es allein Einschüchterung sein, welche die ermittelnden Richter und Polizisten so oft auf eine Mauer des Schweigens (die „Omertà“) stoßen lässt, wenn sie eines ihrer Verbrechen aufklären wollen? Und weshalb die Menschen den Ortsmafioso nicht nur „Don“, sondern auch „Wohltäter“, wenn nicht gar „Heiligen“ nennen und die jährliche Prozession wie von Geisterhand gelenkt vor seinem Haus Halt macht, um ihm besonderen Respekt zu zollen (obwohl der Vatikan schon längst solche „Ehren-Stopps“ untersagt hat).
Was bei diesem Bild fehlt, zeigt das Ergebnis von Ermittlungen, welche die palermitanischen Staatsanwälte mit einem Carabinieri-Kommando gegen die Cosa Nostra-Clans durchführte, die Palermo beherrschen. Der Kriminologe Federico Varese hat (in der „Repubblica“ vom 5. 4.) das Ergebnis am Beispiel einer „Familie“ zusammengefasst, die im palermitanischen Stadtteil Pagliarelli das Sagen hat. Er nennt das Ergebnis „erschreckend“, denn es zeige sich, dass sie hier eine Funktion ausübt, die eigentlich eine zentrale staatliche Funktion sei: „die öffentliche Ordnung im Territorium“. „Trotz aller Untersuchungen von Beobachtern und Gelehrten, die uns darlegen, dass die Mafia von heute flüssig, transnational und immateriell ist, kann man dort noch mit Händen die alte Natur der Mafia greifen, eine Organisation, die den Staat ersetzt, die Wirtschaft kontrolliert und auch polizeiliche Funktionen ausübt.“
Innere „Ordnung“
„Die ‚Familie‘ von Pagliarelli gehört zur Aristokratie von Cosa Nostra. Im zweiten Mafia-Krieg war sie mit dem ‚Corleonesen‘ Totò Riina verbündet, auf ihrem Gelände befand sich das Appartment, in dem die Rivalen der Corleonesen gefoltert wurden. Der Clan wurde viele Jahre von Antonino (‚Nino‘) Rotolo geführt, der zu Anfang dieses Jahrhunderts zu dem berüchtigten Triumvirat gehörte, das gemeinsam mit Bernardo Provenzano und Salvatore Lo Piccolo die Organisation ins 21. Jahrhundert bringen wollte. Nach seiner Verhaftung … kam Giuseppe Calvaruso, Jahrgang 1977, an die Spitze. Giuseppe hält sich an die Tradition und die Regeln der Organisation.
Jeden Monat bekommen die Verwandten der inhaftierten Mafiosi regelmäßig ihr Gehalt und zu Ostern und Weihnachten auch noch ihren dreizehnten (und vierzehnten?) Monatslohn. Dann gibt es noch die ‚Pakete‘: Giuseppe lässt beliebten Fisch und Lamm zubereiten, was dann die Frauen ihren Männern ins Gefängnis bringen. ‚Sollen die Calamari gesäubert oder noch im Stück sein‘, wird zuvor im palermitanischen Dialekt gefragt, und im gleichen Dialekt wird geantwortet: ‚Natürlich gereinigt‘. Das sind hoch bedeutsame Gesten, die zeigen sollen, dass die staatliche Strafe weder den Lebensstandard noch das Ansehen des Mitglieds beeinträchtigt“.
Das ist die eine Grundlage des Respekts vor der „Familie“: Sie sorgt für die eigenen Leute, wie der Staat für seine Beamten, Polizisten und Soldaten sorgt. Das begründet Loyalität: Jedes Mitglied weiß, dass der Job riskant ist – er geht bis zum Mord. Aber der Cosa Nostra-Killer mordet nicht für Geld, sondern für die „Ehre“ (er ist ja selbst ein „Ehrenmann“). Und kann dabei eine Gewissheit haben: Auch wenn er dabei mit dem staatlichen Gesetz in Konflikt gerät und im Knast seine Strafe absitzt, fällt er nicht in die soziale Leere, sondern wird auch von der mafiosen Gemeinschaft aufgefangen.
Aber die „Familie“ sorgt nicht nur für die eigenen Mitglieder:
Die territoriale „Ordnung“
„Außer für die innere Ordnung der Organisation sorgt die ‚Familie‘ auch für die öffentliche. Wenn ein Laden für Reinigungsmittel ins Visier einer Diebesbande gerät, die innerhalb von fünf Tagen zwei Einbrüche begeht, wenden sich die Eigentümer an die ‚Familie‘. Dann ordnet Giuseppe (Calvaruso, der lokale ‚Boss‘, HH) eine Untersuchung an, zu der die Eigentümer alle nötigen Informationen beisteuern, wozu auch die Videos der äußeren Telekameras gehören. Die Schuldigen werden in wenigen Tagen ermittelt, in Gegenwart des Bosses bis aufs Blut verprügelt und zur Rückgabe des Diebesguts gezwungen. Wenn eine Bar eine bauliche Erweiterung plant, bitten die Eigentümer die Pagliarelli-‚Familie‘ um Erlaubnis, die sich als erstes um das Einverständnis einer nahe gelegenen Bäckerei kümmert und dann die Indienstnahme eines befreundeten Bauunternehmens empfiehlt. Wenn jemandem ein Auto gestohlen wird, wendet er sich an die ‚Familie‘, die es umgehend zurückbringt…
Der mafiose Schutz ist allerdings immer interessengeleitet und führt nie zu einer öffentlichen Ordnung, die gerecht ist und auf dem Recht beruht. Er ist immer ein Gunstbeweis, aber er existiert…“.
Die Beispiele zeigen, aus welchen Gründen die Mafia auch die „Unorganisierten“ im Stadtteil an sich binden kann: Erstens bietet sie in dem von ihr beherrschten Territorium „Ordnung“ an: Sie schützt den Kaufmann an der Ecke und den kleinen Autobesitzer vor Dieben, und sie spürt nicht nur schnell das Diebesgut auf, sondern es gibt Ansätze zu einem regelrechten Verfahren, um die Schuldigen zu ermitteln und zu bestrafen, auch wenn dies mit „modernem Strafvollzug“ wenig zu tun hat. Und diese „Ordnung“ schützt nicht nur das Bestehende (den Besitz), sondern ist auch offen für Veränderung: Sie bietet dem Barbesitzer, der sein Geschäft erweitern möchte, einen Weg, um Konflikten mit potentiellen Konkurrenten (z. B. zwischen dem erweiterungswilligen Barbesitzer und der nahen Bäckerei) vorzubeugen. Natürlich nicht ohne das „befreundete“ Bauunternehmen ins Spiel zu bringen. Wobei der Mafioso aber auch die Rolle der Schutzmacht übernimmt, die die Wahrung des sozialen Friedens garantiert.
Zweitens erweist sich diese von der Mafia gestiftete und garantierte „Ordnung“ zumindest in den genannten Beispielen als genauso effizient wie das staatliche Rechtssystem, wobei die Cosa Nostra auch etwas zu bieten hat: den Platzvorteil filigraner territorialer Verankerung. Alles geht schnell und „unbürokratisch“: Ermitteln der Diebesbande, Zurückbringen des gestohlenen Autos, Einholen der Zustimmung potentieller Konkurrenten bei einer Geschäftserweiterung. Wenn man hinzunimmt, dass die Mühlen der Justiz in Italien besonders langsam mahlen, kann man die Versuchung verstehen, sich der Hilfe dieser alternativen „Ordnung“ zu bedienen.
Nur vormodern?
Sicher, nicht jeder tut es. Denn der Preis, den man dafür bezahlt, ist Bindung auf Dauer, und zwar an eine Organisation, von der alle Welt weiß, dass zu ihrem Portefeuille kriminelle Geschäfte, Erpressung und Mord gehören. Insofern bleibt es eine individuelle Entscheidung, welchen Weg man geht. Varese hebt die vormoderne Grundlage der „Ordnung des Bosses“ hervor: Sie beruhe nicht auf dem „Recht“, sondern auf dem „Gunstbeweis“ des Bosses der lokalen „Familie“. Was vormodern ist, ist trotzdem gegenwärtig. Arbeitsmarkt und Recht sind anonyme Mächte, die über mein Schicksal bestimmen. Wende ich mich jedoch an den Ortsmafioso, der die territoriale Macht verkörpert, und bitte ihm um die Vermittlung eines Jobs, versuche ich Einfluss auf dieses Schicksal zu nehmen. Allerdings besorgt er ihn mir nicht, weil er dazu von Amts wegen verpflichtet ist oder ich ihm eine Vermittlungsgebühr zahle, sondern weil er mit mir „Freundschaft“ schließt. Freundschaft ist zweiseitig, auch wenn sie asymmetrisch ist, und hält im Prinzip ein Leben lang. Insbesondere dann, wenn sie mit einem einseitigen „Gunstbeweis“ beginnt, ist es ehrlos, sie aufzukündigen. So versteckt sich hinter der „Freundschaft“ des Mafioso auch eine Drohung: Wer sie kündigt, übt „Verrat“. Aber die Drohung versteckt sich damit auch hinter etwas, was zunächst nur gut und schön ist und für das unser Klassiker eine Ode schrieb, die sogar zur Europahymne wurde. Nicht nur für die „Ehrenmänner“ der Organisation, sondern auch die Vielen, die im Stadtteil ihre Nähe akzeptieren, führt es zu einem Leben im moralischen Spagat. Es ist die Verführung zum Bösen mit dem Lockmittel eines Guten, das man „eigentlich nicht ablehnen kann“.
Übrigens: Ein soziales System, das auf staatsferner „Freundschaft“ beruht, wurde nicht erst von der italienischen Mafia erfunden. Die ganz alltägliche Korruption, die gerade in Italien so schwer ausrottbar ist, basiert auf ihr.