Interview mit dem Minister für den ökologischen Übergang, Cingolani
Vorbemerkung der Redaktion: Am 22. und 23. Juli fand in Neapel unter dem Vorsitz Italiens ein Gipfeltreffen der G20-Umweltminister statt, an dem auch der US-Klimabeauftragte Kerry teilnahm, und das von zwei Ministern des Draghi-Kabinetts, dem parteilosen „Techniker“ Roberto Cingolani (Ökologischer Übergang) und dem Legisten Giancarlo Giorgetti (Ökonomische Entwicklung) geleitet wurde. Das zentrale Thema war der Klimawandel und die Notwendigkeit, einen globalen ökologischen Umbau einzuleiten – wobei die europäischen und amerikanischen Teilnehmer noch unter dem Eindruck der Katastrophen (Überschwemmungen, Hitzewellen) in ihren Kontinenten standen. Das Ergebnis war durchwachsen: China, Indien, Brasilien und Russland verhinderten, dass das Ziel, die Erderwärmung bis 2050 auf 2 Grad zu beschränken, auf das ehrgeizigere Ziel von 1,5 Grad gesenkt wird, aber bekäftigten zumindest ihr Engagement für die Ergebnisse des Pariser Klimaabkommens von 2015. Sie verhinderten die Beschleunigung des globalen Kohle-Ausstiegs und die schnellere Verminderung der CO2-Emissionen, aber erkannten erstmals die Notwendigkeit an, ihre Klimapolitik mit ihrer Energiepolitik zu verbinden. Optimisten verweisen auf die Möglichkeit, dass die Regierungschefs der G20, die sich Ende Oktober in Rom versammeln, vielleicht doch noch ein paar weitere Fortschritte beschließen könnten.
Der Physikprofessor Cingolani war hinterher selbstbewusst genug, es der „italienischen Präsidentschaft“ und dem Eingreifen Kerrys zuzuschreiben, dass das Treffen doch wenigstens zu einem halben Erfolg führte. Am 10. Juli gab er der „Repubblica“ ein Interview, in dem er den Plan skizziert, mit dem er sein italienisches Ministeramt antrat. Wir geben es ungekürzt wieder.
Noch eine Bemerkung zum Stichwort „Ilva“ im mittleren Teil des Interviews: Es bezieht sich auf das bekannte Stahlwerk im süditalienischen Taranto, in dem es in den letzten Jahren zu heftigen Konflikten zwischen der Belegschaft, den Bewohnern Tarantos, Umweltschützern und Firmenleitung kam, in die auch Gerichte eingeschaltet wurden. Im Mai gab es ein spektakuläres erstinstanzliches Urteil: Die beiden Firmenbesitzer wurden als Hauptangeklagte zu 22 bzw. 20 Jahren Haft und eine Reihe weiterer Personen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, wegen Verursachung einer Umweltkatastrophe, Vergiftung von Nahrungsmitteln und schuldhafter Unterlassung betrieblicher Schutzmaßnahmen.
Cingolanis Interview mit der „Repubblica“
„Für eine grüne Zukunft dürfen wir niemanden zurücklassen… Jetzt ist nicht mehr Zeit für vorgefasste Ideen, sondern für Zahlen, denn die Thermodynamik des Planeten bahnt sich ihren Weg auch unabhängig von uns“, erklärte Minister Cingolani.
Können Sie uns diese Zahlen kurz erläutern?
„Es geht um einen epochalen Übergang, der viele Disziplinen erfasst. Vielleicht die größte Transformation des Homo sapiens. Die Zahlen sind schnell gesagt: Bis 2030 müssen wir die Emissionen von CO2 um 55 % verringern und bis 2050 auf fast Null bringen. Wenn wir weiterhin in Rechnung stellen, dass das Treibhausgas zu 25 % von der Mobilität, zu 30 % von der Industrie, zu weiteren 25 % von der häuslichen Heizung und zu 20 % von der Landwirtschaft kommt, wissen wir, wer hier die Schuldigen sind und wo anzusetzen ist. In den ersten 5 Jahren trägt uns der Recovery Plan auf die richtige Bahn, dann müssen wir es mit unserem eigenen Motoren schaffen“.
Was sind die Pfeiler der grünen Revolution?
„Es sind vier. Der erste betrifft die Kreislaufwirtschaft, der die energetische Autonomie der landwirtschaftlichen Betriebe und den Abfallzyklus umfasst. Der zweite betrifft die Elektrifizierung, der schrittweise die Produktion aus fossilen Quellen abschafft. Das heißt, dass wir in den kommenden 9 Jahren 70 Gigawatt sauberer Energie installieren müssen, das heißt 8 pro Jahr, statt der bisherigen 0,8. 2030 müssen 70 bis 72 % der Energie erneuerbar sein. Dann geht es um die Entwicklung der Energie aus Wasserstoff, aber dafür brauchen wir saubere Energie.
Dann müssen wir 20.000 Säulen für das Wiederaufladen der Autos installieren. Das alles wird man nicht in einem Jahr schaffen, obwohl es hier einen gewisses ökologisches Machotum gibt, der ein wenig ideologisch ist“.
Und die anderen beiden Pfeiler?
„Der eine ist die energetische Effizienzsteigerung der Wohnungen, die uns viele Emissionen ersparen würde, und der andere betrifft die Wiederaufforstung, die Sanierung der Umwelt und die Ressource Wasser. Wir haben 24.000 Km Wasserleitungen, in denen 50 % verloren gehen. Für dieses Kapitel gibt es 20 Milliarden.“
Sie haben gesagt, dass man ein Blutbad riskiert, wenn die ökologische Transition nicht sozial ausgewogen stattfinden wird…
„Niemand darf dabei zurückgelassen werden, weil es sonst wirklich zu einem Blutbad kommt. Man kann denen, die es sich nicht erlauben können, nicht den Kauf eines Elektroautos aufzwingen, das wir gegenwärtig nicht einmal aufladen könnten. Es muss eine Übergangsphase geben. So wie man von heute auf morgen nicht alles, was die Umwelt belastet, schließen kann, was erhebliche soziale Kosten erzeugen würde. In Italien zirkulieren noch 13 Millionen Autos, deren Motoren nicht die Euronorm 2 erfüllen und damit mehr als alle anderen die Umwelt belasten. Wir brauchen ein erschwingliches Elektroauto.“
Einer der Konfliktpunkte zwischen Arbeit und Umwelt ist die Ilva. Wie lässt er sich lösen?
„Hier müssen wir den Ehrgeiz haben, daraus ein ‚grünes‘ Stahlwerk zu machen, das grünste Europas. Mit den Mitteln des Pnrr (der italienische Plan zur Verwendung der Recovery-Mittel, AdR) müssten wir es schaffen, durch Elektrifizierung und Verzicht auf Kohle zu einem Produkt höchster ökologischer Qualität zu kommen. All das wird die Konkurrenzfähigkeit des Stahls beeinträchtigen, weshalb wir hier zu steuerlichen Entlastungen und zur Einflussnahme auf die internationalen Abkommen kommen müssen. Um zu einem Gleichgewicht zu kommen, könnte man eine progressive Besteuerung auf der Grundlage der Emissionen einführen, die bei der Produktion von einer Tonne Stahl anfallen. Wer dies mit fossilen Brennstoffen macht, würde dann finanziell höher belastet“.
Kann der Pnrr (der Plan für die italienische Umsetzung des EU-Recovery-Plans, AdR), auf dem ein großer Teil des ökologischen Übegberuht, von anderen Regierungen verändert werden oder ist er definitiv?
„Er ist ein Vertrag, der Seite für Seite ausgehandelt wurde und deshalb wie alle anderen Verträge einzuhalten ist. Natürlich ist klar, dass er, wenn irgendetwas Schwerwiegendes passiert wie zum Beispiel ein neuerliche Pandemie, neu ausgehandelt werden kann“.
Ist es leichter, die Emissionen zu verringern oder die Bürokratie abzubauen?
„Beides muss gleichzeitig geschehen. Wenn ich heute beschließe, eine Solaranlage zu installieren, kann ich sie vielleicht nach 5 Jahren realisieren. Das ist zu viel: Wir müssen es in einem Jahr schaffen. Das ist der Grund, warum hier die Vereinfachung (der bürokratischen Verfahren, AdR) eine beschleunigte Verringerung der Emissionen bringt“.
Kann Europa bei dem Übergang die Führerschaft übernehmen?
„Nein, wenn wir auf die Bevölkerungszahl und die Menge der Emissionen schauen. Europa emittiert 9 % der globalen Emissionen, Italien 1,1 %. Wenn wir diese 9 % auf Null brächten, hätten wir das Problem nicht gelöst. Aber Europa hat schon die Führerschaft bei den Technologien, mit denen man sich der Transition nähern kann. Dabei müssten wir den Entwicklungsländern helfen“.
Was muss getan werden?
„Man kann sicherlich keinem Entwicklungsland sagen, dass es Halt machen muss, weil wir schon zur Genüge die Umwelt belastet haben. Dreitausend Kilometer von hier gibt es Menschen, die eine halbe Stunde laufen müssen, um sich einen Eimer untrinkbares Wasser zu holen. Wir können diesen Ländern nicht verbieten, sich zu entwickeln. Ihnen muss durch den Hinweis auf nachhaltige Modelle geholfen werden“.
Ihnen wurde vorgeworfen, zur Atomenergie zurückkehren zu wollen…
„Italien hat sich hier für das Nein entschieden, und ich respektiere diese Entscheidung. Meine Schuld besteht darin, dass ich die EU zu Klärungen in der Frage der Kleinreaktoren der vierten Generation aufgefordert habe, weil Frankreich, Großbritannien und die USA gefragt haben, ob sie im Transitionsprozess zugelassen werden können. Frans Timmermanns, der Vizepräsident der EU-Kommission, hat mir zugesichert, dass sich die Kommission mit dieser Frage befassen werde.“