Souveränistische Charta gegen Europa
„Die Europäische Union ist dabei, sich in ein Instrument radikaler Kräfte zu verwandeln, die eine kulturelle und religiöse Transformation anstreben mit dem Ziel, ein Europa ohne Nationen zu schaffen“. Am 2. Juli unterzeichneten 16 Parteien und Gruppierungen der extremen Rechten Europas ihre „Charta der Werte für die Zukunft Europas“, die in Wirklichkeit die europäischen Grundwerte negiert.
Im Europäischen Parlament gehören die unterzeichnenden Parteien den beiden rechtsextremen Fraktionen „Identität und Demokratie/ID“ und „Europäische Konservative und Reformer/EKR“ an. Aus Italien sind es die Lega von Matteo Salvini (ID) und Fratelli d’ Italia von Giorgia Meloni (EKR). Marine Le Pens Rassemblement National, die polnische PiS, Orbans Fidesz und die österreichische FPÖ sind ebenfalls dabei, sowie nationalistische und separatistische Parteien aus Spanien, Griechenland, Rumänien, Bulgarien, Belgien, Dänemark und den baltischen Ländern.
Überraschender Weise nicht dabei ist die deutsche AfD, obwohl sie mit der Lega und dem Rassemblement National ebenfalls in der Fraktion „Identität und Demokratie“ sitzt. Als Begründung dafür führten italienische Kommentatoren an, man habe keine Partei dabei haben wollen, die „mehr oder weniger versteckte neonazistische Neigungen“ hegt. Was allerdings wenig überzeugend ist angesichts der Tatsache, dass auch Salvini freundschaftliche Beziehungen zu Neonazi-Gruppen wie „Casa Pound“ pflegt und Melonis Partei sich offen auf ihre faschistischen Wurzeln beruft.
Ein Manifest nationalistischer und völkischer „Werte“
In der gemeinsamen Erklärung wird die Familie (wohlgemerkt die einheimische, die aus Mama und Papa besteht) als „Grundeinheit unserer Nationen“ definiert. Als „Antwort auf die Massenmigration“ soll die Familienförderung den demographischen Rückgang umkehren und der „ Zerstörung der traditionellen Familienrollen“ (Frauen gebären möglichst viele Kinder und kümmern sich um den Haushalt, Männer sind Familienoberhäupter und Versorger) entgegenwirken.
Die europäischen Institutionen werden in der Charta als Instrumente zur Entmachtung der einzelnen Staaten und zur Zerstörung ihrer „nationalen Identität“ angeprangert. Dies geschehe durch die „gewaltsame Durchsetzung des Willens politisch stärkerer Entitäten gegenüber schwächeren“. Die Grundlage für ein Funktionieren der EU als „Gemeinschaft freier Nationen“ werde dadurch zerstört. Hier erkennt man das Bestreben vor allem der ungarischen Fidesz und polnischen PiS, jegliches Handeln der EU gegen die Verletzung von rechtsstaatlichen Prinzipien, von Pressefreiheit und demokratischer Teilhabe als „gewaltsame“ Machtintervention und Einschränkung der Souveränität einzelner Staaten zu diskreditieren.
Abgelehnt werden auch alle Überlegungen der EU-Kommission und verschiedener Mitgliedsstaaten, das noch geltende Einstimmigkeitsprinzip, welches einzelnen Staaten faktisch ein Vetorecht gibt, mit dem sie wichtige Vorhaben (zum Beispiel in der Frage der Migration und Flüchtlingsaufnahme) blockieren können, durch Mehrheitsentscheidungen zu ersetzen.
Internes Ringen um die Führung
Trotz der nach außen demonstrierten Geschlossenheit ist das Verhältnis der einzelnen Parteien untereinander von Konflikten um die Führung des rechtsextremen Lagers geprägt. Der Charta-Unterzeichnung war Anfang April ein „Gipfeltreffen“ von Salvini, Orban und Polens Ministerpräsident Morawiecki vorausgegangen, bei dem sie nicht nur eine engere Zusammenarbeit ihrer Parteien verabredeten, sondern auch die Möglichkeit erörterten, ein neues, breiteres Bündnis rechtspopulistischer und identitärer Kräfte auf europäischer Ebene ins Leben zu rufen. Triebkraft dabei ist vor allem Orban, dessen Partei Fidesz nach der Trennung von der Europäischen Volkspartei/EVP fraktionslos ist und nun das Ziel verfolgt, die Kräfte im rechtsextremen Spektrum neu zu bündeln (möglichst unter ungarischer Führung).
Ob dieses Bestreben tatsächlich zu einem Zusammenschluss beider Fraktionen „Identität und Demokratie“ und „Europäische Konservative und Reformer“ führt, ist allerdings fraglich. Im EU-Parlament würde eine solche vereinigte Rechtsfraktion mit insgesamt 115 Abgeordneten die drittstärkste Kraft hinter der EVP (177) und den Sozialdemokraten (146) und vor den Liberalen werden. Größte Partei wäre darin die Lega mit 26 Abgeordneten, gefolgt von der polnischen PiS (25), vom französischen Rassemblement National (23) und ggf. von der ungarischen Fidesz (12). An einer solchen Stärkung der Lega sind weder die PiS noch die Fidesz interessiert – und schon gar nicht Salvinis aufsteigende Rivalin Meloni, die zurzeit den Vorsitz in der Fraktion „Europäischer Konservativer und Reformer“ hat.
Es ist also nicht klar, ob es sich bei der „Wertecharta für die Zukunft Europas“ um einen ersten Schritt zu einem neuen organisatorischen Zusammenschluss der Rechtsextremen handelt oder „nur“ um ein Manifest mit dem Ziel, den progressiven und moderat-konservativen Kräften den Führungsanspruch auf europäischer Ebene politisch streitig zu machen.
Souveränisten profitieren von den Schwächen proeuropäischer Kräfte
Dass die Nationalisten jetzt in die Offensive gehen können, hängt wesentlich mit dem Zaudern und der Uneinigkeit des proeuropäischen Lagers zusammen. Viel zu lange hat man dort Orbans Missachtung von Rechtsstaatlichkeit und Verweigerung europäischer Solidarität toleriert. Die vermeintlich „moderate“ Rechte hat ihn sogar hofiert. Erst jetzt hat sich die Kommission dazu durchgerungen, rechtliche Verfahren gegen Ungarn und Polen wegen Verletzung der Rechtsstaatsklausel und gegen Orbans diskriminierendes und homophobes Gesetz einzuleiten. Und dass einige Länder ein solidarisches Vorgehen bei der Aufnahme von Flüchtlingen verweigern, wird nicht einmal mit dem Entzug europäischer Hilfsgelder sanktioniert.
Viel zu stark ist auch immer noch der Widerstand vieler Mitgliedsstaaten, wenn es darum geht, auf eigene nationale Kompetenzen zugunsten einer Stärkung der gemeinschaftlicher Institutionen zu verzichten. Erst nach dem Ausbruch der Pandemie war es in der EU möglich, das sture Prinzip „keine Vergemeinschaftung von Schulden!“ aufzugeben und den am meisten betroffenen Staaten mit dem Plan „NextGenerationEU“ umfangreiche Ressourcen für deren Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen.
Auch auf der Ebene der Verteidigung ethischer Grundwerte ist die Bilanz der EU alles andere als glänzend, im Gegenteil: Migranten und Flüchtlinge werden weiterhin in menschenunwürdigen Camps in Griechenland belassen oder in libyschen Kerkern, wo sie täglich schlimmster Gewalt ausgesetzt sind; von der humanitären Seenotrettung hat sich Europa verabschiedet – und behindert sogar die Schiffe von NGOs, die an seiner Stelle diese Aufgabe übernehmen.
Damit stellen die sich zu Europa bekennenden Kräfte ihre eigenen Werte zur Disposition, aus nationalem Egoismus und Angst vor Machtverlust. Und ebnen den Weg für Demokratiefeinde, deren „europäische Zukunftsvision“ die eines politisch, moralisch und kulturell rückwärtsgewandten Europas ist – unfähig, sich sozial gerecht, solidarisch und nachhaltig den globalen Herausforderungen im einundzwanzigsten Jahrhundert zu stellen.
Salvinis Spagat zwischen Orban und Draghi
An einem funktionierenden Europa ist Matteo Salvini, der Anführer der Lega, nicht interessiert. Er – der frühere Nord-Separatist, der in Italiens Einheit ein Unglück sah – gibt sich inzwischen „patriotisch“, arbeitet aber in Europa mit denen zusammen, die (wie bei der Aufnahme von Flüchtlingen) italienische Interessen konterkarieren.
Das gilt auch für Meloni, die sich um jeden Preis als einzige Oppositionskraft profilieren muss. Bei Salvini ist die Sache allerdings problematischer: Einerseits inszeniert er sich in der Regierung Draghi als „pragmatischer Proeuropäer“, andererseits verbündet er sich mit den Feinden Europas. Fast gleichzeitig mit der Unterschrift unter die nationalistische Charta, welche die europäischen Institutionen als Teufelswerk darstellt, gab er der „Financial Times“ ein moderat-europafreundliches Interview: „Europa ist dabei, sich positiv zu entwickeln, und wir werden es dabei begleiten … Wir sind in großen Teilen des Landes Regierungskraft – wären wir Extremisten, würden uns die Italiener nicht wählen“.
Die Frage ist, wie lange und bis zu welchem Grad der Lega-Chef diesen Spagat halten kann. Und auch, wie lange Draghi bereit ist, Savinis schizophrenes Doppelspiel zu dulden. Bisher verfolgte der Regierungschef die Linie: So lange es geht ignorieren und wenn es ernst wird, den Kurs vorgeben und stramm durchsetzen. Bisher hat das – mehr oder weniger – funktioniert, allerdings auf Kosten des Zusammenhalts innerhalb seiner heterogenen Koalition. „Man kann nicht gleichzeitig für Draghi und für Orban sein“, kommentierte PD-Generalsekretär Letta, völlig zurecht, Salvinis Unterzeichnung der souveränistischen Charta. Die Spannungen innerhalb der Regierung wachsen, und zwar an verschiedenen Fronten (siehe den Streit um das Gesetz gegen Homotransphobie und um die Justizreform). Je näher die Wahl kommt (spätestens 2023), desto heftiger werden sie.