„Mehr sage ich nicht“
„Aufrufe gegen das Impfen sind Aufrufe zum Sterben oder zum Sterben lassen. So ist es doch: wenn du dich nicht impfen lässt, erkrankst und stirbst du – oder du steckst jemanden an und der oder die stirbt“. Mit diesen ungewöhnlich drastischen Worten reagierte Draghi auf Fragen von Journalisten, die von ihm wissen wollten, was er von Salvinis Kritik an der Impfkampagne und den Corona-Maßnahmen der Regierung hält. „Non dico di più“ („Mehr sage ich nicht“) schloss der Ministerpräsident mit vielsagendem Blick seinen Kommentar. Das war auch nicht nötig.
Am vergangenen Donnerstag hatte das Kabinett ein Maßnahmenpaket beschlossen, um den erneuten rapiden Anstieg der Infektionen zu bremsen. Dazu gehören neben einer Intensivierung der Impfkampagne auch Restriktionen für nicht geimpfte Personen. Ähnlich wie in Frankreich (aber in abgemilderter Form) wird der „Green Pass“ Voraussetzung für den Zugang zur Innengastronomie und zu den meisten Freizeit- und Kultureinrichtungen. Noch nicht beschlossen, aber geprüft wird die Impfpflicht für Beschäftigte im Schulbereich (parallel zu einer entsprechenden Regelung im Gesundheitswesen) und für die Arbeit in weiteren Branchen (u. a. in der öffentlichen Verwaltung und der Gastronomie) sowie die Vorlage des Impfpasses für die Nutzung öffentlicher Transportmittel auf längeren Strecken.
Salvini: „Jüngere brauchen keine Impfung“
Seit Wochen konterkariert Salvini massiv die Impfkampagne der Regierung (an der seine Partei beteiligt ist). Hauptziele seiner Angriffe sind sowohl das staatliche Werben bei jüngeren Menschen, um sie – als die hauptsächlichen Infektionsträger – zur raschen Impfung zu bewegen, als auch die erwähnte Vorlage des Impfasses in bestimmten Bereichen. Alles Unsinn nach Ansicht des Lega-Chefs: „Wir müssen die Älteren schützen, aber für die unter 40-Jährigen braucht man keine Impfung!“ verkündet er, denn diese seien kaum von schweren Verläufen und Todesfällen betroffen. Und der Impfnachweis dürfe höchstens Bedingung für den Zugang zu Großveranstaltungen sein, nicht aber für den Besuch von Bars, Restaurants oder Diskotheken: „Das wäre doch gerade jetzt im Sommer ein Desaster, es würde den Leuten den Urlaub kaputt machen!“. Man dürfe die Jungen nicht „bestrafen“ (als ob die Impfung eine Strafe wäre), nur um die Eltern und die Großeltern zu schützen.
Salvini unverantwortliches Gerede kommt zu einem Zeitpunkt, in dem in Italien – wie in den meisten anderen europäischen Ländern – die Infektionskurve aufgrund der Delta-Variante exponentiell steigt und angesichts der Urlaubszeit das Infektionsrisiko für Ungeimpfte wächst. Die Aussage, man brauche Jüngere nicht zu impfen, widerspricht allen wissenschaftlichen und empirischen Erkenntnissen, nach der es gerade die ungeimpften Jüngeren sind, die derzeit in Italien und anderswo für den exponentiellen Anstieg der Delta-Variante verantwortlich sind. Und auch wenn sie selbst ohne oder nur mit leichten Symptomen erkranken: Sie befördern das Zirkulieren des Virus, gefährden damit andere und tragen zur Entstehung von Mutationen bei. „Die Impfung der unter 40-Jährigen ist sehr wohl dringend notwendig“, unterstreicht der Immunologe Mario Clerici, „denn wenn das Virus weiter zirkuliert, wird irgendwann eine Variante Ypsilon, Zeta und Omega entstehen, weil es nun mal das ist, was ein Virus tut: Es zirkuliert und mutiert. Bis womöglich eine Variante auftaucht, die durch die Impfungen nicht mehr zu neutralisieren ist“.
Dass Salvini für eine solche Erkenntnis zu beschränkt ist, dürfte kaum der Grund für seinen Feldzug sein. Die Gründe, den Impfgegnern unterschiedlicher und oft rechtsextremer Provenienz zu schmeicheln und sie in ihrem Protest gegen die „Gesundheitsdiktatur“ anzufeuern, sind politischer und wahltaktischer Natur.
Wie die AfD in Deutschland und die Rechtspopulisten in anderen Ländern zielen Salvini und Meloni (die ihm als Chefin der postfaschistischen Fratelli d’ Italia die Führerschaft des Rechtsblocks zunehmend streitig macht) auf die Teile der Bevölkerung, die dem Staat und der Wissenschaft tief misstrauen und für Verschwörungstheorien aller Art anfällig sind. Strömungen, die es schon lange gibt, aber in der Ära der „social media“ und der Corona-Pandemie stark zugenommen haben. Besonders in den Ländern, in denen – wie in Italien – rechtspopulistische Parteien und anti-Establishment-Bewegungen breitere Schichten erreichen.
„Green Pass – Nein danke!“
Nachweislich sind Impfverweigerer und Kritiker von Corona-Maßnahmen unter den Lega- und FdI-Anhängern überdurchschnittlich vertreten (auch hier wie bei der AfD). In Wählerstimmen „umgerechnet“ schätzen die Umfrageinstitute in Italien deren Zahl derzeit auf etwa sechs Millionen. Ein Wählerpotential, kommentiert der Meinungsforscher Fabrizio Masia, das für den nächsten Wahlausgang entscheidend sein könnte. Zu den Impfskeptikern kommen Vertreter der Branchen, die von den Restriktionen besonders betroffen sind: Im Winter waren es die Betreiber von Skianlagen, die besonders lautstark reagierten, jetzt sind es Gastronomen und Diskothekenbetreiber .
Unmittelbar nach dem Regierungsbeschluss zu den neuen Corona-Maßnahmen und Draghis harter Reaktion auf Salvini protestierten sie in verschiedenen Städten, u. a. Rom, Mailand und Turin: Unter dem Motto „Ich mache auf“ und „Green Pass – Nein danke!“, gemeinsam mit Novax-Anhängern, ehemaligen Aktivisten der linksradikalen „centri sociali“ und faschistischen Gruppen wie Forza Nuova und Casa Pound.
Auch wenn die Beteiligung weit unter den Erwartungen der Organisatoren lag (auf der römischen Piazza del Popolo waren es nur einige Hunderte): Die Aggressivität und das militante Auftreten hatten es in sich. Vertreter der Presse wurden physisch bedrängt und wüst beschimpft, Plakate zeigten Hakenkreuze und Draghis Konterfei mit Hitler-Schnurrbart. Die Teilnehmer hatten keine Hemmungen, gemeinsam mit brüllenden Neonazis delirierende Vergleiche zwischen den Corona-Maßnahmen zu dem Holocaust zu ziehen.
Mehrere bekannte Vertreter der Lega heizten die Stimmung an und hielten Reden gegen die Beschlüsse der Regierung, der sie angehören. „Wenn ihr uns helft, sind wir stärker und können mehr tun!“ rief Armando Siri, ehemaliger Staatssekretär für Infrastrukturen und Verkehr in der Conte 1-Regierung (derzeit wegen Korruption angeklagt).
Nicht alle in der Lega ziehen mit
Doch der Schulterschluss mit Impfweigern und Corona-Skeptikern ist für Salvini und seine Partei nicht ohne Probleme, denn auch die Anhänger und potentiellen Wähler der Lega befürworten in ihrer Mehrheit aus gesundheitlichen und wirtschaftlichen Gründen wirksame Maßnahmen gegen das Virus. Selbst profilierte Lega-Vertreter wie die Regionspräsidenten Massimiliano Fedriga (Friaul) und der weit über die Grenzen seiner Region populäre Luca Zaia (Venetien) stehen in dieser Frage klar und eindeutig auf der Seite des Ministerpräsidenten und nicht auf der ihres Leaders, und distanzierten sich öffentlich von der Teilnahme einiger Leghisti an den Protestkundgebungen gegen Impfungen und Green Pass.
Die Partei ist also gespalten und es wundert nicht, dass Salvini trotz seiner verbalen Attacken darauf achtet, den Gesprächsfaden zum Regierungschef zu halten und das Verbleiben der Lega in der Regierung nicht zu gefährden. Umso mehr traf ihn Draghis Reaktion, mit der er in dieser Härte wohl nicht gerechnet hatte. Merklich verunsichert beteuerte er, keineswegs die Wichtigkeit von Impfungen in Frage zu stellen, er trete lediglich für die möglichst weitgehende Wahrung der persönlichen Freiheit ein und sorge sich um die Kinder und ganz Jungen, für die der Impfstoff nur bedingt freigegeben sei. Und zum Beweis postete er, just am Tag nach Draghis Rüge, ein Foto im Netz, in dem auf dem Frühstücktisch – etwas versteckt aber deutlich erkennbar – seine Bescheinigung über die stattgefundene Impfung zu sehen war.
Inzwischen hat ein Vieraugengespräch stattgefunden, in dem laut Salvini (Draghi kommentiert so etwas nicht) der Regierungschef ihm versichert haben soll, die noch offenen Corona-Pakete über Schule und öffentliche Verkehrsmittel „sorgfältig und ohne Zeitdruck zu prüfen“. Tatsächlich wurde der entsprechende Kabinettsbeschluss um eine Woche verschoben, was aber – zumindest im Falle der Impfpflicht für die Lehrkräfte – mehr mit den unterschiedlichen Positionen und Forderungen von Eltern, Schulleitern und Gewerkschaften als mit den Interventionen von Salvini zu tun haben dürfte.
Der Staatspräsident setzt noch einen drauf
Ein paar Tage nach den Worte Draghis nutzte der Staatspräsident anlässlich der jährlichen Einladung der Presse in den Quirinalpalast die Gelegenheit, um dem Regierungschef – indirekt – den Rücken zu stärken und all diejenige in die Schranken zu weisen, die sich dem Ziel einer möglichst breiten Impfung entgegen stellen.
Die Impfung sei das einzige wirksame Gegenmittel, um das Virus und dessen Mutationen unter Kontrolle zu halten, erklärte Mattarella. „Solange das Gesetz nichts anderes vorsieht, darf man zwar sagen ‚In mein eigenes Haus kommt mir kein Impfstoff rein‘, aber das gilt nicht für Räume, die man mit anderen teilt, wo andere Menschen das Recht haben, nicht der Gefahr einer Infektion ausgesetzt zu werden“. Daher sei „die Impfung eine bürgerliche und moralische Pflicht“.
Mit schönen präsidialen Grüßen aus dem Quirinal an Salvini, Meloni und Co.