Was nun, Herr Conte?
Vorbemerkung der Redaktion: Am 7. August, unmittelbar nach Contes Wahl zum „Präsidenten“ der 5-Sterne-Bewegung, veröffentlichte die Tageszeitung „Fatto Quotidiano“ ein Interview mit ihm, das wir (leicht gekürzt) übersetzen. Der „Fatto Quotidiano“ ist für die 5SB eine Art Hauszeitung, die sich im Konflikt mit Grillo auf die Seite Contes schlug, aber in der Auseinandersetzung um die Justizreform eher zu den Scharfmachern gehörte, indem sie Justizministerin Cartabia unterstellte, sie wolle mit der Reform die „Diebe ungestraft“ lassen. Dass sie tendenziös berichtet, zeigt auch die Überschrift, unter der sie das Interview veröffentlichte: „Conte: Wahlkampf 2023, um das Cartabia-Gesetz zu ändern“. Das Interview zeigt, dass Contes Position differenzierter ist: Er verteidigt den gefundenen Kompromiss, aber wenn er sich in der Praxis als nicht ausreichend erweise, werde die 5SB „intervenieren“, wofür sie allerdings ein gutes Wahlergebnis brauche.
Ansonsten kündigt Conte an, dass sich die 5SB nun wieder stärker und gezielter in die Regierungsarbeit einschalten werde, mit einem Programm, das eher „links“ ist: Ein soziales Sicherungssystem sei wichtig, was zum Glück auch Draghi unterstütze und wofür das von der 5SB eingeführte „Bürgergeld“ ein Beispiel sei (Verbesserungen sind möglich, wie man aus anderen Quellen der 5SB hört). Und er beruft sich auf Stiglitz und Krugman, wenn er im Recovery-Plan der EU den Beweis für die historische Überholtheit des „Turbokapitalismus“ sieht, wobei er sich übrigens selbst die Vaterschaft für diesen Plan zuschreibt. Dass sich die 5SB unter Contes Führung noch einmal mit der Rechten verbünden könnte, scheint unwahrscheinlich, zumal er auch bei der Justizreform zu ihr auf Distanz geht: Wer sie wähle, könne sich auf weitere Eingriffe für mehr Straffreiheit gefasst machen. Auf das Verhältnis zur PD, die ihn lange als Bündnispartner umwarb (und eine Zeitlang sogar auf ein „strategisches“ Bündnis hoffte), geht er nicht ein – und wird auch von den „Fatto“-Journalisten nicht danach gefragt. In einem Punkt bleibt er sich allerdings treu: Über das frühere Bündnis mit Salvini verliert er erneut kein Wort – Selbstkritik ist nicht sein Ding.
Das Interview
Jetzt ist es amtlich: Sie wurden von den Mitgliedern zum Präsidenten der Bewegung gewählt, eine Bewegung, deren kollegiale Prägung Sie mehrmals unterstrichen haben. Diese Wahl sieht aber eher nach einem Plebiszit für den Leader einer „Personen-Partei“ aus, oder?
„Ich beabsichtige keinesfalls, den Auftrag, der mir unter so breiter Mitgliederbeteiligung erteilt wurde, für persönliche Zwecke zu nutzen. Ich will die in der Bewegung vorhandenen Kompetenzen stärken.“
Werden Sie dazu, wie man hört, auch viele Externe einbeziehen, sowohl für die Funktionen in der 5SB als auch für die künftigen Kandidatenlisten?
„Wir werden mit Sicherheit auf die Unterstützung der Zivilgesellschaft zurückgreifen, sowohl bei den Themenforen als auch bei ihrer Beteiligung an Inhalten und Programmen, und werden in unser (geplantes, AdR) Bildungszentrum viele Experten einbeziehen. Auch in unsere neuen Ortsgruppen und örtliche Verwaltungen sollen sie einbezogen werden.“ ……..
Haben Sie mit Grillo gesprochen? Er hat Ihre Kandidatur nicht einmal mit einem Video unterstützt.
„Ich habe um keinerlei Rückendeckung für meine Kandidatur gebeten. Ich zog es vor, alles der Abwägung der Mitglieder zu überlassen.“
Grillo hatte Sie als unfähig und ohne Visionen bezeichnet. Dann kam es zum Waffenstillstand. Aber etwas wird bleiben, oder nicht?
„Es gab zwischen uns eine harte Auseinandersetzung, die nun zur Vergangenheit gehört. Wir haben offen miteinander geredet und sind uns einig, dass dies Projekt im Interesse der 5SB ist. Das Wohl der Bewegung liegt uns beiden am Herzen.“ …….
Sie treten für eine Zusammenarbeit mit der Regierung ein. Aber diese Regierung ist dabei, alle eure Reformen zu kassieren. Jetzt gerät auch das Bürgereinkommen ins Visier.
„Die Bewegung geht aus den Abstimmungen mit einer stärkeren Führung hervor und wird sich noch wirksamer Gehör verschaffen. Das geschah schon bei der Justizreform: Dank unserer Intervention wurde sie verbessert. Jetzt kann ich sagen, dass ich auch Draghis letzte Äußerungen sehr begrüße, in denen er die Bedeutung eines sozialen Schutzsystems anerkennt, wie es das Bürgereinkommen ist.“
Aber um an Konsens zu gewinnen, müssen Sie nun Ihre Stimme gegenüber der Regierung stärker erheben.
„Das werden wir tun, aber mit Vorschlägen und Inhalten. Im Unterschied zu anderen werdet ihr von uns weder Geschrei noch Spielchen erleben, nur um eigene Duftmarken zu setzen.“
Zurück zur Bewegung: Alessandro Di Battista fordert, dass die 5SB die Regierung verlässt.
„Alessandro sage ich, dass er mit dem neuen Kurs der Bewegung mehr Möglichkeiten als früher haben wird, seinen Werten und Prinzipien Geltung zu verschaffen. Ich vertraue darauf, dass er zu uns zurückkehrt, um seinen Beitrag zu leisten.“
Im Chigi-Palast (Sitz der Regierung, AdR) rückte neulich ein ganzer Schub von turbo-liberalen Ökonomen ein. Ist das die Bestätigung, dass die Regierung nach rechts tendiert?
„Ich glaube, die Turbo-Liberalen hat die Geschichte besiegt. Wenn die Regierung zuvor (d. h. seine eigene, AdR) das neoliberale Credo übernommen hätte, hätten wir während der Pandemie von der EU keinen Recovery-Plan bekommen. Die massive staatliche Intervention zum Schutz der Wirtschaft und des sozialen Zusammenhalts wurde von Nobelpreisträgern wie Stiglitz und Kruger ausdrücklich befürwortet, letzterer forderte gar die US-Administration auf, die gleichen politischen Maßnahmen wie meine Regierung zu ergreifen.“
Wir haben die Pandemie noch nicht hinter uns. Abgesehen vom Schulbereich sieht es jetzt so aus, als ob der Ball eher im Feld des Lega-Chefs als bei Gesundheitsminister Speranza oder dem Cts (dem Technisch-Wissenschaftlichen Komitee, das die Regierung berät, AdR) liegt, den Hauptstützen Ihrer Methode …
„Heute ist die Mehrheit der Bevölkerung geimpft, auch wenn wir den Ausnahmezustand noch nicht hinter uns haben. Die Situation lässt sich nicht vergleichen. In meiner Regierungszeit haben wir – obwohl es anfangs an Informationen mangelte – einen klaren und konsequenten Kurs verfolgt, indem wir die politischen Entscheidungen auf der Basis wissenschaftlicher Evidenz trafen. Es ermutigt uns, dass eine neuere Studie des ISS (Nationales Institut für Gesundheitswesen, AdR) zu dem Ergebnis kam, dass unser System der Differenzierung der Regionen nach Farben (zur Kennzeichnung des Infektionsrisikos, AdR) dazu beigetragen hat, Menschenleben zu retten und wieder früher mit wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten beginnen zu können. Jetzt dürfen wir uns von Salvinis Sprüchen nicht verwirren lassen. Er läuft immer nur den wechselnden Stimmungen der Straße hinterher. Aber so kann man eine Pandemie nicht in den Griff kriegen, man produziert nur Desaster. Wir werden darauf achten, dass das Notwendige getan wird: so wenig restriktiv wie möglich, aber unter Beachtung der Angemessenheit und der Verhältnismäßigkeit. Der Green Pass ist eine gute Lösung.“
Hätten auch Sie ihn für die Lehrkräfte verpflichtend gemacht?
„Ja, das hätte ich ebenfalls vorgeschlagen, aber ich glaube nicht, dass diese Maßnahme reicht. Der Green Pass ist nützlich, um Gesundheit und Wirtschaft in Einklang zu bringen, und muss klug eingesetzt werden, um das Maximum an Öffnung zu ermöglichen, auch an den Orten, an denen es zu größeren Ansammlungen kommt.“ ……
Sie haben versichert, die tragende Säule der neuen 5SB werde der Umweltschutz sein. Aber Sie haben (bei der Justizreform, AdR) nicht dafür gekämpft, Delikte der Umweltzerstörung vor der Verfahrenseinstellung zu „retten“.
„Ich meine, dass wir mit unseren Verbesserungsvorschlägen einen durchaus ausreichenden Schutzmechanismus für solche Prozesse geschaffen haben.
Ist also das „Glas halbvoll“? Obwohl so viele Richter der Reform weiterhin schlechte Noten erteilen? Und was sagen Sie dazu, dass es nunmehr kraft Gesetz Korruptionsdelikte geben kann, die straflos bleiben?
„Ohne unsere Intervention hätte es die durchgesetzten wichtigen Änderungen nicht gegeben. Für Prozesse gegen die öffentliche Verwaltung und Umweltvergehen besteht – wie auch für alle anderen Prozesse – bis 2024 ein großzügiges Übergangsregime, das es uns ermöglichen wird, die Wirkung der neuen Vorschriften Jahr für Jahr einem genauen Monitoring zu unterziehen. Mit dem Zusatz, dass der Justizminister (bzw. die Justizministerin, AdR) mit den notwendigen Korrekturen eingreifen kann, wenn sich herausstellt, dass die angestrebte Prozessbeschleunigung nicht erreicht wurde. Nach dem Beginn des Regelbetriebs wird es durch richterliche Anordnung möglich sein, für all diese Prozesse drei Jahre vorzusehen. Viele von ihnen, u. a. die wegen Korruption und illegaler Müllentsorgung, fallen wegen ihres Zusammenhangs mit der organisierten Kriminalität in den Bereich mafioser Straftaten, was eine weitere Verlängerung der Prozessdauer ermöglicht.“
Sie sagten, dass Sie bei Bedarf intervenieren werden. Wie?
„Ich sage allen Bürgern klar: Wenn ihr uns bei den nächsten Parlamentswahlen Kraft und Vertrauen schenkt, gehe ich ab sofort eine feierliche Verpflichtung ein: Wir werden darauf achten, dass vor Auslaufen der Übergangsphase die Prozessdauer signifikant verkürzt wird, damit die Prozesse nicht Gefahr laufen, eingestellt zu werden. Sonst werden wir die nötigen Korrekturen vornehmen. Die Bürger müssen sich bewusst sein: Wenn sie Mitterechts wählen, steigt das Risiko der Straflosigkeit. Wenn sie die 5SB wählen, erhalten sie die solide Garantie, dass das strafrechtliche System geschützt und gestärkt wird.“
Inzwischen befinden wir uns im „weißen Semester“(in dem wegen der Anfang 2022 anstehenden Wahl eines neuen Staatspräsidenten das Parlament nicht aufgelöst werden kann, AdR). Fürchten Sie nicht, dass Renzi und Salvini, die sich ja beinah in allen Fragen einig sind, eine Achse bilden, um einen Kandidaten von Mitterechts in das Quirinal zu wählen?
„Ich hoffe, dass es für die Wahl des nächsten Staatspräsidenten keine vorgefassten Mehrheiten gibt, sondern ein offenes und transparentes Verfahren.“ ….
Sie haben eine Tour durch Italien angekündigt, die im Norden beginnt. Wie wird das laufen?
„Es wird eine Möglichkeit sein, mit den Bürgern ins Gespräch zu kommen, auch mit den Unternehmern in Norditalien, die ja in der Vergangenheit einige unserer Positionen nicht verstanden haben. Ihnen werde ich unser ‚Statut für Unternehmer‘ erläutern, bei dem es um Abbau von Bürokratie und die Konzentration der Kontrolle über die Betriebe geht. Und um sie über den neuen Kurs der Bewegung zu informieren.“