In memoriam Gino Strada
„Die Menschenrechte müssen für alle Menschen gelten. Aber wirklich für alle. Andernfalls solltet ihr sie besser Privilegien nennen“.
Gino Strada, Arzt und Gründer der NGO „Emergency“, ist am 13. August im Alter von 73 Jahren in der Normandie gestorben. Er war seit langem herzkrank, dennoch kam die Nachricht seines Todes unerwartet.
Er wurde 1948 in Sesto San Giovanni geboren, einer kleinen Industriegemeinde am Rande der Mailänder Metropole, die wegen ihrer starken kommunistischen Arbeiterbewegung früher „Klein-Stalingrad“ genannt wurde (tempi passati …). Strada war der Sohn von Industriearbeitern und wuchs im Umfeld linksliberaler Katholiken auf, was ihn – obgleich Atheist – kulturell und politisch prägte. 1968 beteiligte er sich aktiv an der Studentenbewegung. Seine Ausbildung als Arzt schloss er in Mailand ab, mit der Spezialisierung Herz- und Notfallchirurgie.
Ein Leben in Kriegsgebieten
Noch vor der Gründung von „Emergency“ war Strada als Mitarbeiter vom Internationalen Roten Kreuz in vielen Kriegsgebieten tätig. 1994 gründete er mit seiner ersten Frau Teresa (die 2009 starb) und einer Gruppen befreundeter Ärzte die No-Profit-Organisation „Emergency“, um Opfer von Verletzungen durch Bomben, Raketen und Minen zu therapieren und zu rehabilitieren. Millionen von Patienten in 18 Ländern, u. a. Pakistan, Afghanistan, Äthiopien, Kambodscha, Eritrea, Sudan, Angola, Ruanda, Palästina, Nikaragua, Sri Lanka und Bosnien-Herzegowina, wurden und werden seit der Gründung von „Emergency“ in von ihr eingerichteten und betriebenen Krankenhäusern und Rehabilitationszentren behandelt, oft in den gefährlichsten und entlegensten Krisengebieten.
Bei der Errichtung „seiner“ Krankenhäuser folgte Strada einem hohen Anspruch: Sie sollten Exzellenzzentren auf dem höchsten technologischen Standard sein und gleichzeitig einen ästhetischen Wert haben. Für sein letztes Projekt, ein vor kurzem eröffnetes Kinderkrankenhaus in Uganda, beauftragte Strada als Architekten keinen geringeren als den international renommierten Renzo Piano. „Er sagte mir, ich solle ihm den Entwurf eines Krankenhauses von ‚provozierender Schönheit‘ vorlegen“, erinnert sich heute der Architekt und setzt hinzu „typisch Strada“. Piano erklärt es so: Die ganze Anlage sollte nicht nur ästhetisch schön und erhaben, sondern mit seiner Schönheit auch „provozierend“ sein – weil sich Kleingeister eben nicht vorstellen können, weshalb ein Krankenhaus, das einem afrikanischen Land geschenkt wird, auch noch schön sein muss (Piano hat seinen Auftrag erfüllt: Das Werk, das nach ökologischen Kriterien und unter Berücksichtigung ugandischer Bautraditionen erstellt wurde, wurde tatsächlich schön).
Stradas besondere Aufmerksamkeit galt immer Afghanistan, wo er mit „Emergency“ schon 1998, lange vor der amerikanischen Militärintervention, als eine der ersten NGO’s in Anabah im Panshir-Tal ein chirurgisches Zentrum für Kriegsopfer aufbaute. Er blieb in dem geschundenen Land sieben Jahre und errichtete in dieser Zeit drei weitere Krankenhäuser und 44 Gesundheitsstationen.
Die letzten Entwicklungen in Afghanistan verfolgte er intensiv und vorausahnend. Ausgerechnet am 13. August, am Tag seines Todes und des Einzugs der Talibans in Kabul, erschien in der Tageszeitung „La Stampa“ sein Artikel über die dramatischen Entwicklung in Afghanistan, in dem er mit zwei Jahrzehnten westlicher Militärintervention schonungslos abrechnet.
Das Land sei während dieser Zeit immer mehr von Korruption, Vetternwirtschaft und Rechtlosigkeit zerfressen worden, schreibt er, und vor allem die Zahl der zivilen Opfer stetig gestiegen. „Schon vor 20 Jahren haben wir kommen sehen, dass dieser Krieg für alle ein Desaster wird. Heute sind die Auswirkungen jener Aggression für alle sichtbar: Neben 241.000 Opfern und 5 Millionen Binnenflüchtlingen und Asylsuchenden ist Afghanistan heute ein Land am Rande des Bürgerkrieges, die Taliban sind stärker denn je, die internationalen Truppen haben eine Niederlage erlitten und in der Region noch weniger Autorität als 2001. Es ist ein zerstörtes Land, aus dem jeder, der kann, zu fliehen sucht, auch wenn er weiß, dass er durch die Hölle gehen muss, um Europa zu erreichen“.
Für sein Engagement in Afghanistan erhielt Strada 2015 den alternativen Nobelpreis „Right Livelihood Award“ erhalten. In seiner Rede vor dem schwedischen Parlament sagte er: „Ich habe Tote und Verletzte gesehen, Tausende operiert, die durch Fragmente von Bomben und Raketen verwundet wurden. In Kabul habe ich die Krankenakte von 1200 Patienten durchgesehen und festgestellt, dass weniger als 10% von ihnen Angehörige des Militärs waren. 90% der Opfer waren Zivilisten, ein Drittel davon Kinder. Ist das etwa ‚der Feind‘?“.
Ein unbequemer Zeitgenosse
Strada war ein Menschenrechtler und Kriegsgegner von kompromissloser Radikalität, was er persönlich mit absoluter Konsequenz umsetzte. Den ihm nahestehenden Menschen – Freunden, Familie, Weggefährten –, die sich um die hohen Risiken für seine Person und seine Gesundheit sorgten, antwortete er mit einer ungeduldigen Knappheit, die keinerlei Widerspruch duldet: „Meine Patienten warten auf mich“.
Er war ein Mensch mit starkem Charisma, dem man sich nicht entziehen konnte, er war aber auch – zumindest für viele, die ihn nicht näher kannten – ein Mensch, mit dem schwierig umzugehen war. Manchmal schroff im Ton, galt er als „anstrengend“ oder gar „streitsüchtig“. Suche nach Ausgleich und Diplomatie waren seine Sache nicht. Er war ein Macher, es ging ihm um das richtige Handeln am richtigen Ort. Von großen Reden hielt er nichts, seine Kritik war spitz und seine Anklagen hart und von bedingungsloser Konsequenz – doch nie beleidigend oder herabwürdigend.
Von der Politik war Strada tief enttäuscht. Er bekannte, schon seit vielen Jahren nicht mehr gewählt zu haben. Bei seinem ethischen Anspruch auf Gerechtigkeit und Schutz für alle Menschen – unabhängig von ihrer Herkunft, politischer Überzeugung, Religion oder Hautfarbe – gab es keinen Platz für die Zwänge und Kompromisse der politischen Praxis, egal welcher Couleur. Er legte sich mit beinah allen Regierungen Italiens an, von rechts bis links, von Berlusconi und Renzi bis D’ Alema und Prodi.
Immer ging es dabei in erster Linie um seine Kritik an Italiens kriegerischen Interventionen und Subventionen durch die Produktion und den Export von Waffen. Aber auch um das Schicksal von Flüchtlingen und die Rettung von Menschenleben im Mittelmeer. Seine Tochter Cecilia, die ebenfalls bei „Emergency“ mitarbeitet, erreichte die Nachricht seines Todes auf einem Rettungsschiff im Mittelmeer: „Freunde, mein Papa ist nicht mehr. Ich umarme und danke euch, kann aber auf eure vielen Botschaften nicht antworten, weil ich hier auf See bin, um das zu tun, was er und meine Mutter mich gelehrt haben: Menschenleben retten“ schrieb sie auf Twitter. Die Finanzierung der libyschen „Küstenwache“ seitens Italiens, die Bootflüchtlinge auf dem Meer auffängt und gewaltsam in Libyens Folterkerker zurückbringt, kommentierte Strada so: „In Libyen finanzieren wir Mörderbanden. Das ist der reine Wahnsinn“.
Auch die Not vieler Menschen in seiner Heimat trieb ihn um. Als ihm 2020 der Ausbruch der Corona-Pandemie Reisen in ferne Länder unmöglich machte, rief er mit seiner Organisation mehrere „Straßenzentren für die Volksgesundheit“ in Mailänder Randbezirken ins Leben und koordinierte in benachteiligten Wohngebieten den Einsatz von Freiwilligen in sogenannten „brigate della solidarietà“.
Italien trauert (nicht immer ehrlich …)
Der Tod des „Emergency“-Gründers hat in Italien bei vielen Bestürzung und Trauer ausgelöst. Wie es zu erwarten war, gab es viele Nachrufe und Lobreden von Vertretern der Institutionen und der Politik. Manche davon ehren allerdings nur den Menschen, weniger seine Taten oder seine konkrete Forderungen an die Politik.
Ministerpräsident Draghi brachte in einer offiziellen Note das Beileid der Regierung zum Ausdruck. Strada habe sein ganzes Leben auf der Seite der Schwächsten gestanden und sich für sie „in den schwierigsten Gegenden der Welt mit Professionalität, Mut und Humanität“ eingesetzt. Für Staatspräsident Mattarella hat Stradas lebenslanges Wirken die Werte der Solidarität und Menschlichkeit gestärkt, für die er „manchmal rau im Ton, aber immer großherzig“ eintrat, um diejenigen zu schützen, die von den Folgen von Krieg und Gewalt am stärksten getroffen werden.
Dass zu den zahlreichen Politikern, die ihr Bedauern über den Tod Stradas ausdruckten, auch der rechtsradikale Chef der Lega gehört, ist allerdings grotesk. „Mit seinem Tod verliert Italien einen wertvollen Menschen und ungeachtet unterschiedlicher politischer Ansichten bleibt Raum für das Mitgefühl und das Gebet“, war von ihm zu hören. Ein Hohn und eine Ohrfeige für Stradas Andenken und für alle, die sein Lebenswerk begleitet und aktiv unterstützten.
Der Musiker und Schriftsteller Moni Ovadia, der ein langjähriger Freund von Gino Strada war, hatte es nach seinem Tod schon kommen sehen: „Ich wünschte mir, dass bei uns nun nicht die übliche rührselige Rhetorik losgeht, das hat Gino nicht verdient. Wenn Italien ihn ehren will, soll es das dadurch tun, dass es seine Initiativen unterstützt“. Genauso ist es.