Die Kuh ist vom Eis, und Conte macht Karriere

Am 3. August hat die italienische Abgeordnetenkammer der Justizreform mit überwältigender Mehrheit (396 Ja, 57 Nein, 3 Enthaltungen) zugestimmt. Zur definitiven Verabschiedung fehlt noch die Zustimmung des Senats, an der im Moment niemand zweifelt, womit sich diese Kammer aber erst im September, also nach der Sommerpause, befassen wird. Die klare Mehrheit  in der Abgeordnetenkammer verdeckt, dass ihre Zustimmung in den vergangenen Wochen mehrfach auf Messers Schneide stand – oder zumindest zu stehen schien.

Die Justizreform: Standbein des italienischen Recovery-Programms 

Als Mattarella im Februar Mario Draghi zum neuen italienischen Regierungschef ernannte, geschah dies in einem Moment, in dem es nicht nur für Italien um Sein oder Nichtsein ging: Die EU hatte sich mit dem Recovery-Plan zum Experiment eines gemeinsam finanzierten Programms durchgerungen, das insbesondere den südeuropäischen Ländern wieder auf die Beine helfen soll. Wobei es nicht das Ziel sein kann, einfach zum vorpandemischen Status quo zurückzukehren – das wäre angesichts des angestauten Reformbedarfs kontraproduktiv, siehe etwa die Automobilindustrie –, sondern strukturelle Reformen in Angriff zu nehmen, die den gesamten Kontinent zukunftsfester machen. Da wäre es fatal gewesen, wenn sich ausgerechnet das Land, das am meisten von diesem Plan profitieren soll, unfähig zeigt, solche Reformen überhaupt in Angriff zu nehmen. Der springende Tiger darf nicht als Bettvorleger enden, zumal dies auch noch mit einer riesigen Neuverschuldung aller Beteiligten verbunden wäre.

Justizministerin Cartabia

Dass Draghi vor einer Herkulesaufgabe steht, ist angesichts des ökonomischen, politischen und institutionellen Gesamtzustandes des Landes klar. Die erste Reform betrifft die Justiz – obwohl es gerade auch in Italien eine Tradition einer selbstbewussten und unabhängigen Rechtsprechung gibt, ist sie zu einer schwerfälligen Maschinerie geworden, die personell, materiell und technisch schlecht ausgestattet ist und von liebedienerischen Justizministern immer wieder verbogen wurde. Und die allein schon die ausufernde durchschnittliche Prozessdauer zu einer Zumutung für die Bürger und zu einem Modernisierungshemmnis macht, das auch Brüssel Alarm schlagen ließ, mit der Daumenregel: Strafprozesse sollen beschleunigt, Zivilprozesse sogar um „45 Prozent“ schneller werden. Draghis Vorbereitung bestand darin, dass er mit der 58-jährigen Marta Cartabia eine Frau an die Spitze des Justizministeriums holte, die ihr Amt (wie Draghi selbst) keinem Parteibuch verdankt, sondern allein ihrer Kompetenz: eine Juraprofessorin, die schon Präsidentin des italienischen Verfassungsgerichts war. Und die nun nach sechsmonatiger Arbeit ein Ergebnis vorweisen kann, das sich sehen lässt. Denn es verspricht nicht nur den Brüsseler Anforderungen nach Beschleunigung gerecht zu werden, indem es die Verfahren kürzt und die Justiz mit den nötigen Ressourcen ausstattet, sondern will sie auch in anderer Hinsicht modernisieren: Ihre bisher vorwiegend strafende Perspektive soll vor allem bei kleineren Delikten durch das Ziel der Wiedergutmachung und somit der Resozialisierung des Täters ergänzt werden: Es soll nicht nur „giustizia penale“, sondern auch „giustizia riparativa“ geübt werden. Ein Aspekt allerdings, der in der öffentlichen Diskussion völlig unterbelichtet blieb, was sich noch als schweres Versäumnis erweisen könnte.

Zuletzt noch eine Zitterpartie

Was die Verabschiedung der Justizreform zum Schluss zur Zitterpartie machte, war das Verhalten der 5-Sterne-Bewegung, die in beiden Kammern immer noch die größten Fraktionen stellt. Wobei sich zwei Dinge vermischten: Erstens ihre Angst, als Verräter der heroisierten eigenen Vergangenheit zu erscheinen, in der man Beifallsstürme mit dem Versprechen erntete, mit dem berühmten „eisernen Besen“ gegen die korrupte und mafiose Kaste angehen zu wollen. Und zweitens der historische Zufall, dass Conte die Diskussion um die Justizreform nutzen konnte, um sich im Machtkampf mit Grillo gegenüber der eigenen Mitgliedschaft als Hüter alter „Werte“ und „Prinzipien“ zu profilieren und damit Karriere zu machen.

Zu ihrem historischen Erbe rechnen die Vordenker der 5 Sterne inzwischen das sog. „Bonafede-Gesetz“, das den Namen des Justizministers trägt, den die 5SB in den beiden Conte-Regierungen stellte. Sein Kern war die Abschaffung aller Verjährungsmöglichkeiten bei Verfahren, welche die erste Instanz hinter sich haben – um damit allen reichen Schurken dieser Welt, deren Tross von Rechtsanwälten dann nur noch auf Verschleppen und Verjähren spekulieren muss, das Wasser abzugraben. Angesichts der Erfahrungen, welche das italienische Volk zwei Jahrzehnte lang mit Berlusconi machte, war dies eine verständliche Reaktion, was aber nichts daran ändert, dass es mit anderen rechtsstaatlichen Prinzipien in Spannung steht: Für jede Bürgerin und jeden Bürger gilt bis zur rechtskräftigen Verurteilung die Unschuldsvermutung, und jede bzw. jeder hat das Recht auf ein Verfahren, das sich nicht ad infinitum hinzieht. Es war klar, dass der Gesetzentwurf einer Verfassungsrechtlerin hier einen Ausgleich – man könnte auch sagen: Kompromiss – finden musste, der ihn zu einer janusköpfigen Antwort auf das Bonafede-Gesetz machen musste: Einerseits musste er dem Kern des Bonafede-Gesetzes, dem Grundsatz der Unverjährbarkeit, ein hartes Nein entgegensetzen, andererseits konnte er aber auf dem Gebiet der Fristen, die den Prozessen in zweiter und dritter Instanz einzuräumen sind, und der Prozessgegenstände, für die diese Fristen erweitert werden (wie Mord, Terrorismus, Drogenhandel, sexuell motivierte Gewalt) Kompromissspielräume bieten, die ein solches Verschleppen von Prozessen nahezu unmöglich machen.

Contes Machtspiel

Hier trat nun Conte auf den Plan und verhielt sich machtpolitisch nicht ungeschickt: Wie Grillo sei auch er dafür, die Draghi-Regierung zu unterstützen, aber Cartabias Entwurf für eine Justizreform (dem Grillo zunächst zugestimmt hatte) ginge so nicht; es könne nicht sein, dass die Fortschritte der letzten Jahre, die doch alle die Handschrift der 5Sterne tragen, nun wieder Stück für Stück demontiert würden. Womit er die Mehrheit der 5S-Abgeordneten, die dabei auch an das „Bürgereinkommen“ dachten und gerade begonnen hatten, sich über den Cartabia-Entwurf zu streiten, aus dem Herzen sprach. Um dann wenige Tage später, als er diese Mehrheit hinter sich wusste, Draghi ein Vieraugengespräch anzubieten, in dem er zumindest die Unverjährbarkeit aller Mafia-Verbrechen durchsetzen wollte – eine Forderung, die der Form nach ultimativ, aber inhaltlich schon meilenweit von Bonafedes genereller Unverjährbarkeit entfernt war. Und die Cartabia erfüllen konnte, ohne ihre eigenen Grundsätze aufzugeben.

Der Kompromiss wurde geschlossen, und hinterher waren alle Sieger. Renzi und Salvini, die schon lange auf den Zerfall der 5-Sterne-Bewegung setzen, hofften sie mit der Behauptung spalten zu können, dass sie sich mit ihrer Zustimmung zu dem Kompromiss selbst beerdigen würde. Die 5Sterne antworteten, dass es nur ihrer Intervention zu verdanken sei, dass Mafia-Prozesse unverjährbar blieben. Und ganz nebenbei hat Conte ein machtpolitisches Meisterstück aufgeführt: Er ist dadurch zum unbestrittenen Führer der 5-Sterne-Bewegung geworden. Am 4. August stimmten 87 % derer, die sich an der Online-Abstimmung der 5SB beteiligten, für das neue von ihm erarbeitete Statut, und am 5. und 6. August 93 % für ihn als Präsidenten der 5SB (das Amt wurde für ihn neu geschaffen). Die Zeiten, in denen Grillo noch glaubte, ihn mit links aus dem Weg wischen zu können, sind vorbei.

Draghis Führung

Aber es ist nicht nur Conte, der aus dieser Auseinandersetzung als Sieger hervorging. Draghi, der versprach, Italien als Gegenleistung für die Recovery-Milliarden zu reformieren, hat das erste wichtige Reformpaket abgeliefert. Die Geburt war schwierig und das Baby ist nicht perfekt – mit Recht wird beispielsweise kritisiert, dass unter die Delikte, die de fakto unverjährbar sind, nicht auch Umweltverbrechen aufgenommen wurden (obwohl die ökologische „Transition“ eines der Kernziele des gesamten europäischen Recovery-Programms ist). Aber das lässt sich vielleicht noch korrigieren. Wenn die Umsetzung der jetzt halb beschlossenen Justizreform weiterhin von dem entsprechenden politischen Willen getragen wird und wenn eine verbesserte Ausstattung der Justiz zu greifen beginnt, könnte sie nun tatsächlich auf Trab gebracht werden.

Schon jetzt bestätigt sich, was sich auch schon im Umgang Draghis mit der Pandemie zeigte: Er ist mehr als nur der „Techniker“, den die Krise der italienischen Politik an die Spitze der Regierung befördert hat, und scheint sich dafür, wie das Beispiel Marta Cartabia zeigt, auch die richtigen Mitarbeiter ausgesucht zu haben. In seiner Februar-Rede verkündete er vor den Kammern, er werden den Parteien und sonstigen politischen Akteuren „zuhören“, um dann zu „entscheiden“, d. h. sich nicht mit der Rolle des Moderators begnügen. In den Verhandlungen der vergangenen Wochen um die Justizreform wurde die Konturen seines Führungsstils noch deutlicher: Wenn auf ihn von allen Seiten Druck ausgeübt wird, zeigt er sich zunächst flexibel. Bis der Punkt erreicht ist, an dem er die Sache für ausverhandelt erklärt und den Schlussstrich zieht – und die Autorität hat, diesem Schlussstrich auch Geltung zu verschaffen. Nicht alle knapp 400 Abgeordneten, die am Dienstag der Justizreform zustimmten, taten es aus Überzeugung. Aber sie stimmten zu – und das war es, was zählte.

Die Beunruhigung bleibt, dass Italien einer Notstandsregierung bedarf, um schrittweise kuriert werden zu können. Soll man wirklich hoffen, dass dies zum Dauerzustand wird? Spätestens in anderthalb Jahren wird in Italien gewählt.

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