Nachtrag zur Olympiade: das „Jus soli“

Vorbermerkung der Redaktion: Im italienischen Fernsehen konnte man vor ein paar Wochen miterleben, wie der Hochspringer Tambroni, der gerade Gold gewonnen hatte, durchs halbe Stadion hüpfte, als er erfuhr, dass sein Teamkollege Jacobs fast gleichzeitig Gold über 100 Meter geholt hatte, und mit ihm in die Trikolore eingehüllt einen hinreißenden Freudentanz aufführte. Da der eine weiß ist, der andere farbig, zeigte sich in diesem Tanz ein anderes Italien als das ethnisch „reine“, das die Rechte beschwört. Die Emotionen des Volkes sind widersprüchlich: Hier läuft es Rassisten wie Salvini hinterher, dort feiert es ganz unverkrampft „unsere Helden“, ohne ein Problem damit zu haben, das hierin steckende „Wir“-Gefühl auf das ganze vielfarbige Menschengemisch auszudehnen, aus dem heute „das Volk“ besteht.

Italien schiebt das dahinter stehende Problem schon seit Jahrzehnten vor sich her. Das dort geltende Einbürgerungsrecht wurde zwar erst 1992 verabschiedet, aber könnte auch aus einer Zeit stammen, in der noch niemand etwas von der französischen Revolution gehört hatte. Es ist noch immer vom Jus sanguínis geprägt und erschwert vor allem Menschen mit außereuropäischen Wurzeln die Einbürgerung. Denn auch wenn sie in Italien geboren wurden, dort zur Schule gingen und perfekt Italienisch sprechen, können sie einen Antrag auf Einbürgerung erst frühestens ein Jahr nach ihrer Volljährigkeit stellen. Was bedeutet, dass sie bis dahin den vielen kleinen Demütigungen ausgesetzt sind, die mit dem Status minderen Rechts verbunden sind (siehe z. B. Klassenfahrten ins Ausland). Die Anzahl der davon betroffenen Jugendlichen ist gegenwärtig auf etwa 800.000 angewachsen.

Die politischen Fonten sind hier seit Jahren erstarrt. Die Linke kämpft schon lange für ein Staatsbürgerrecht, das der neuen sozialen Realität gerecht wird – sei es in Gestalt eines „Jus soli“, das die Einbürgerung allein an die Geburt in Italien bindet, oder eines „Jus culturae“, das einen italienischen Schulabschluss voraussetzt. Die Rechte ist dagegen, weil sie die weißhäutig-christliche „Italianità“ in Gefahr sieht, und die 5Sterne-Bewegten können sich wie üblich nicht entscheiden. Mit der Olympiade hat die öffentliche Diskussion um ein anderes Einbürgerungsrecht erneut Fahrt aufgenommen, was auch der folgende Kommentar Gad Lerners belegt, den er am 10. 8. unter der Überschrift „Bei der Olympiade triumphiert das multiethnische Italien. Und der Jus soli?“ im Fatto Quotidiano veröffentlichte. Er knüpft dabei an eine Äußerung des italienischen NOK-Präsidenten Malagò an, der nach der Olympiade die Einführung eines „sportlichen Jus soli“ befürwortete – wozu Menschenrechtler kritisch anmerkten, dass es es beim Jus soli um ein Recht gehe, das nicht nur sportlichen Spitzenkönnern vorbehalten sein dürfe. Die Besonderheit von Lerners Kommentar besteht darin, zunächst den positiven Impuls dieser Idee hervorheben, um dann zu argumentieren, dass es sinnvoll sei, aus ihr ein Recht für alle zu machen.

Gad Lerners Kommentar

„Wir jubeln. Niemals war Italien größer, auf sportlichem Gebiet, mit seinen 40 olympischen Medaillen, die in 19 verschiedenen Disziplinen errungen wurden. Der Präsident des Coni (Italienisches olympisches Komitee, AdR), Giovanni Malagò, hat es ein ‚multiethnisches und superintegriertes Italien‘ genannt. Wer soll ihm widersprechen? Abgesehen davon, dass dieser Medaillenspiegel ein Mosaik außergewöhnlicher Lebensgeschichten bildet, ist er eine Fotografie des wirklichen Landes, oder besser seiner Jugend, in Zeiten einer demografischen Krise und einer zweiten Generation von Immigranten:  Man schätzt, dass 40% der Siege und folgenden Platzierungen auf den Beitrag der neuen Italiener zurückzuführen sind.

Gad Lerner

Doch wehe dem, der darauf hinweist. Weil ich den farbigen Hundermeterläufer Marcell Jakobs einen ‚großen Brescianer‘ (Einwohner von Brescia, AdR) nannte, habe ich mir die Strafpredigt von Salvini und der vielen Anderen eingefangen, die bis gestern bei den Auftritten Balotellis ‚italienische Neger gibt es nicht‘ schrieen (bei den Auftritten Balotellis in den Stadien, seine Eltern leben in Ghana, AdR). In der Tat musste Balotelli wie der Sprinter Eseosa Desalu (der zur ‚goldenen‘ italienischen Sprintstaffel gehört und dessen Eltern aus Nigeria stammen, AdR) bis zum Eintritt ins Erwachsenenalter auf die ersehnte Staatsbürgerschaft warten. Allzu leicht ist es jetzt, uns als Spielverderber hinzustellen, wenn wir die Rechte von Immigrantenkindern befürworten, im Namen eines geheuchelten Patriotismus, der sich hinter der Verteidigung der Wurzeln, der Identität und der religiösen Traditionen eines früheren Kleinitaliens verschanzt. Aber so ist es: Auf dem olympischen Podium grüßten die Nationalhymne auch der zum Islam konvertierte Geher Massimo Stano, die Bogenschützin Lucilla Boari, die ihre Medaille ihrer Verlobten widmete; und der Ringer Abraham Conyedo (ein gebürtiger Kubaner, AdR), der erst 2019 zum naturalisierten Italiener wurde, um ihn in die Mannschaft aufzunehmen.

Während Salvini Aperitifs schlürfend seinen Strandpatriotismus twitterte, errangen italienische Jugendliche aller Hautfarben Rekorde und Medaillen, wobei sie die Hindernisse überwanden, die er ihren legitimen Aspirationen in den Weg gestellt hatte. Seit 10 Jahren warten wir vergebens auf die Verabschiedung eines Gesetzes – das mal ius soli, mal ius culturae genannt wird -, das ihnen den Erwerb der Staatsbürgerschaft bei ihrer Geburt oder bei dem Abschluss ihrer schulischen Laufbahn ermöglicht. Da wird doch in diesem Moment der einhelligen nationalen Begeisterung eine Frage erlaubt sein: In Tokio hat sich das neue Italien gut präsentiert, um nicht zu sagen: sehr gut. Aber wieviel mehr Medaillen hätten wir gewinnen können, wenn das Gesetz zur Staatsbürgerschaft schon Geltung hätte, das so vielen anderen talentierten Jugendlichen den Eintritt in die Sportverbände erlaubt hätte? Man muss sich nur den olympischen Medaillenspiegel anschauen: Holland hat nur ein Drittel der Einwohner Italiens, aber ebensoviele Goldmedaillen errungen. Was heißt, dass  es Kapital aus der multiethnischen Zusammensetzung der Gesellschaft schlagen konnte, dank einer Gesetzgebung, die dort auf der Höhe der Zeit ist.

Der erste, der diese Frage aufwarf, ist der Präsident des Coni, Malagò, der von der Notwendigkeit eines „sportlichen ius soli“ sprach. Er sagte: „Heute gibt es dazu ein Gesetz. Aber wenn du 18 Jahre warten musst, um den Antrag zu stellen, riskierst du, dass dir die Person abhanden kommt. Also werde ich vorschlagen: das bürokratische Verfahren vorzuziehen, das höllisch ist. Sonst gibt der Athlet auf, oder er vertritt sein Herkunftsland, oder es kommen andere Länder, die den Antrag kennen und ihn übernehmen“. Wenn auf der Welle der olympischen Siege der von Malagò vorgeschlagene „sportliche Jus soli“ kommt, sei er willkommen. Aber dann müsst ihr uns erklären, warum eine solche Vorzugsschiene nur für jugendliche Immigranten reserviert wird, die Verdienste auf sportlichem Gebiet erwerben, und nicht auch für diejenigen, die sich auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Musik oder anderer Tätigkeiten hervortun. Nur um das Stereotyp zu bestätigen, dass der Sport das neue Opium des Volkes ist, und deshalb alles erlaubt ist, um die italienische Siegerliste zu erweitern? Ziemlich fragwürdig ist übrigens auch die Idee, dass die Gewährung der Staatsbürgerschaft eher von meritokratischen als von objektiven Kriterien abhängig gemacht werden soll, die für alle gleich sind. Die Zustimmung der neuen Bürger zu den Regeln und Prinzipien der Verfassung, sei es durch die Schulbildung oder den Schwur, ist eine Sache. Eine andere Sache ist es, das Kalkül des eigenen Vorteils hinter der falschen Berufung auf die Meritokratie zu verstecken. Das Land ist vom Erfolg von 40 bisher unbekannten Jugendlichen und von der vielfarbigen Umgebung, in der sie unter der Trikolore groß wurden, elektrisiert. Weshalb heute der italienische Sport als Wegbereiter dienen kann, um in die Ängst und Vorurteile, welche die Politik paralysierten, eine Bresche zu schlagen. Wir sollten diesen magischen Moment nutzen. Es gibt viele Frauen, die wie die Pflegefrau Veronica, die Mutter von Eseosa Desalu, ein Leben voller Opfer führen, die es ihren Kindern ermöglichen möchten, dass sie mit ihren Klassenkameraden auf Klassenfahrt ins Ausland gehen können, und ihnen dabei das Schlangestehen zur Erneuerung der Aufenthaltsgenehmigung ersparen möchten, obwohl sie in Italien geboren wurden oder als Kinder herkamen.

Wenn Staatspräsident Mattarella am 23. September die italienische Olympiamannschaft empfängt, könnte er seine moralische Überzeugungskraft zugunsten der Immigrantenkinder einsetzen, die ein besseres Italiens versprechen.“